Der Schutz der Freiheit
Wer die Praxis der Meinungsfreiheit philosophisch ausleuchten will, muss die Komfortzone verlassen. Tut man das, indem man (auch) rechtskonservative Gastredner in ein universitäres Seminar zum Thema einlädt, kriegt man in Deutschland keinen Applaus, sondern Morddrohungen.
Es war so: Im März 2018 wurde die Leitung der Universität Siegen von mir in Kenntnis gesetzt, dass Marc Jongen von der «Alternative für Deutschland» (AfD) und SPD-Mitglied Thilo Sarrazin (im Folgenden: J&S) im Rahmen meines Seminars «Denken und denken lassen» Vorträge halten werden. Der Dekan äusserte Bedenken. Im September 2018 untersagte er mir die Verwendung meiner Mittel zur Einladung von J&S; später liess er mich wissen, nur die Verwendung von Fakultätsmitteln für Honorare und Spesen sei verboten. Bald darauf allerdings erhielt ich einen Brief von Dekan und Rektor, in dem mir die Verwendung aller universitären Mittel untersagt wurde. Der damit verbundene Widerspruch – durfte ich nur keine Fakultätsmittel oder gar keine Mittel verwenden? – blieb trotz wiederholter Nachfragen ungelöst. Es kam zu einer ganzen Serie von Stellungnahmen, Leserbriefen und Interviews durch Dekan und Rektor, denen ich wohl entnehmen sollte, dass ich keine Fakultätsmittel verwenden dürfe, dafür aber andere. Die Sache wurde öffentlich, spitzte sich nicht nur diskursiv zu und sorgte deutschlandweit für eine Debatte um die Redefreiheit von Denkern, die aus einer politischen Sphäre kommen, die in geisteswissenschaftlichen Fachbereichen heute eher die Ausnahme ist: aus konservativen oder rechtskonservativen Kreisen. So waren neben J&S auch Norbert Bolz und Egon Flaig eingeladen, die allerdings kaum Zielscheibe der Attacken wurden.
Die ganze Kontroverse in ihren mitunter absurden Details ist nicht nur philosophisch interessant. Sie ist auch geeignet, einen analytischen Blick auf das krumme Holz des Menschengeschlechts zu werfen. Hier kann ich nur ein paar besonders wichtige Punkte skizzieren. Etwa diesen: Von sieben Rednern – einer sagte spät wieder ab – kamen drei aus dem nicht rechten Spektrum. Zwei davon verstehen sich als linksliberal, ich mich als liberal. Weder diese doch ziemlich ausgeglichene Verteilung zwischen rechten und nicht rechten Denkern noch die Tatsache, dass ich erfolglos 14 weitere Personen eingeladen hatte, die alle, sehr vorsichtig formuliert, aus dem nicht rechten Milieu stammen (z.B. Rainer Forst und Axel Honneth), hinderte die Universität daran, mir wiederholt öffentlich vorzuwerfen, das Seminar wäre «einseitig ausgerichtet». Doch selbst wenn ich nur Personen aus dem rechten Spektrum eingeladen hätte, wäre dies völlig legitim gewesen. Oder will jemand ernsthaft behaupten, Vorlesungsreihen z.B. zur Genderforschung oder zur Migration zeichneten sich stets durch wissenschaftliche und politische Ausgewogenheit der Rednerlisten aus?
Perfide war auch der Versuch, mich in die rechte Ecke zu stellen. In einem Beitrag für die «FAZ» vom 7.11.2018 hatte ich beklagt, dass nur wenige ihren Kopf freimachten für den eigentlich nicht schweren Gedanken, man könne tatsächlich einen Redner einladen, ohne ihm zuzustimmen. Es hilft im erhitzten Klima der gegenwärtigen politischen Debatte auch nicht, immer wieder zu betonen, mit rechten oder rechtsextremen Gruppierungen absolut nichts gemein zu haben, sondern in der liberalen Tradition Kants zu stehen. Immer wieder wird behauptet, mit der Einbindung von J&S hätte ich bewusst einen rechten ideologischen Standpunkt eingenommen. Abgesehen von dem Interesse an Rufschädigung hat diese Insistenz ihre Wurzel wohl darin, dass Folgendes nicht begriffen wird: Man kann ethisch stockkonservativ sein und zugleich rechtsphilosophisch ultraliberal; man kann, zum Beispiel, Sterbehilfe für moralisch falsch halten und trotzdem für ihre Legalisierung eintreten. Es ist ein philosophisches Armutszeugnis für die Feinde der Freiheit (wie Karl Popper sie nennen würde), diesen elementaren Unterschied zwischen Ethik und Recht nicht zu kennen und daher den Fehlschluss vom ethischen Konservativismus auf so etwas wie Rechtspopulismus zu ziehen.
«Man kann ethisch stockkonservativ sein
und zugleich rechtsphilosophisch ultraliberal.»
Schliesslich hat mich auch verblüfft, wie wenig auf die Argumente etwa von Kant oder Mill eingegangen wurde. Der Wille zur Macht ist deutlich ausgeprägter als der Wille zum Argument, und man muss es wohl so deutlich sagen: 50 Jahre Kulturwissenschaft haben auch für die begrifflich-argumentative Kompetenz mehr Schaden angerichtet, als ohnehin zu befürchten war. So wurde behauptet, mit der Einladung von J&S werde das politische Neutralitätsgebot verletzt – aber nur die Universität ist an das Neutralitätsgebot gebunden, nicht der einzelne Wissenschafter, ganz abgesehen davon, dass von politischer Neutralität in den allermeisten kulturwissenschaftlichen oder soziologischen Seminaren keine Rede sein kann. Auch wurde moniert, J&S seien keine Wissenschafter und dürften daher nicht an der Universität reden – aber die Eigenschaft, Wissenschafter zu sein, ist keine notwendige Bedingung dafür, zu einem Vortrag an eine Universität eingeladen zu werden, auch nicht in einem Seminar. Wenn Germanisten Dichter in ein Seminar einladen, dessen Gegenstand die zeitgenössische Lyrik ist, geht ja auch niemand auf die Barrikaden.
Meinungsfreiheit: nicht nur ein Forschungsgegenstand
Machen wir uns genauer klar, worüber gestritten werden sollte. Mein Seminar beschäftigt sich mit der Philosophie und Praxis der Meinungsfreiheit. «Meinungsfreiheit» ist dabei der Oberbegriff für alle Freiheiten, wie sie in Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes entfaltet werden. Meinungsfreiheit ist aber nicht einfach nur die Abwesenheit von Zensur. Sie kann auch durch nichtstaatliche Sanktionen und soziale Tyrannei beschränkt werden, die auf das Wohlergehen derjenigen zielen, die frei ihre Meinung äussern wollen. Dazu gehört die Einschüchterung – etwa durch eine Morddrohung, wie ich sie tatsächlich erhalten habe. Der Einwand, jemand wie Sarrazin könne doch seine Meinungen kundtun, wie er wolle, ist daher zu kurz gegriffen. Nun ist es zwar wahr, dass niemand das Recht hat, an einer spezifischen Universität zu lehren oder an einem spezifischen Kongress teilzunehmen. Dass aber alle, die entsprechend qualifiziert sind (und sich im Rahmen der Legalität bewegen), grundsätzlich das Recht auf Partizipation am Wissenschaftsbetrieb haben, scheint mir ebenso klar zu sein, wie es zugleich klar ist, dass für (sogenannte) rechte Wissenschafter dieses Recht faktisch beschnitten wird; wer sich wie Marc Jongen als Philosoph in der AfD engagiert, hat keine Chance mehr, im universitären Wettstreit zu reüssieren. Und schon wer, wie ich, solche Leute einlädt, ohne ihre Meinungen zu teilen, sitzt sehr schnell nur noch am Katzentisch.
In einem akademischen Klima, aus dem heraus, zum Beispiel, ein Kollege mir eine «letzte Warnung» zukommen lässt, in dem illegal Mitschnitte gemacht werden und der Dekan mir öffentlich vorwirft, auf einem «Ego-Trip» zu sein, wird es sehr schwer, sich ohne Schere im Kopf zu bewegen. Dass Leute wie Ulrich Kutschera oder auch Rainer Wendt nicht mehr an einer deutschen Universität reden dürfen, ohne dass die moralische Polizei aus dem imperium paternale ihre Streifen losschickt, ist eine intellektuelle Katastrophe. Die Techniken sozialer Tyrannei sind viel feiner als die Brechstangen von Zensur und Verbot. Nach Ende des Seminars wurde ich von einer Siegener Burschenschaft zu einem Vortrag eingeladen. Ich fragte mich, ob ich die Einladung annehmen solle, obwohl ich keine Berührungsängste habe und ja auch einer Einladung der Grünen Jugend folgen würde. Halte ich den Vortrag bei der Burschenschaft, wird es wieder einen Shitstorm unter dem Motto geben: «Na bitte, der Schönecker ist doch ein Rechter!» Und schon beginnt die Selbstzensur.
«50 Jahre Kulturwissenschaft haben auch
für die begrifflich-argumentative Kompetenz mehr Schaden angerichtet,
als ohnehin zu befürchten war.»
Unter die Meinungsfreiheit fällt auch die «Wissenschaftsfreiheit», und zwar als Oberbegriff für die Forschungs- und Lehrfreiheit. Bevor ich meine Argumente für diese akademische Freiheit darlege, zunächst eine einfache Frage: Habe ich, juristisch betrachtet, auf der Grundlage meiner Wissenschaftsfreiheit das Recht, J&S einzuladen? Die Antwort ist, wie Juristen sagen würden, evident: Natürlich habe ich dieses Recht. Es wird mir vom Grundgesetz verliehen, und zwar mit gutem Grund, mit starken philosophischen Wurzeln. Denn dieses Recht entspringt immerhin der naturrechtlichen und deontologischen Tradition, wie man sie prominent bei Immanuel Kant findet. Menschen sind frei, zu tun und zu lassen, was sie wollen, und das heisst auch: ihre Meinung kundzutun, wie sie es für richtig halten, solange sie die Freiheit anderer nicht einschränken. Weder der Staat noch irgendeine Gemeinschaft darf mir vorschreiben, wie ich leben und welche Meinungen ich haben soll, solange ich andere dadurch nicht beeinträchtige; leben und leben lassen, denken und denken lassen, so lautet die Maxime der Freiheit. Natürlich ist nicht ohne weiteres klar, wie sich das herunterbrechen lässt auf die Wissenschaftsfreiheit. Aber diese Freiheit ist ein Grundrecht, das, wenn überhaupt, nur unter sehr bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden darf. Der Einwand, meine Wissenschaftsfreiheit werde doch gar nicht verletzt, weil ich mein Seminar abhalten dürfe, zieht nicht. Denn wer mir untersagt, meine üblichen Haushaltsmittel zu verwenden, im Namen der Universität einzuladen, und wer mir, wie der Dekan, sogar untersagt, die Veranstaltung über den normalen E-Mail-Verteiler anzukündigen, der schränkt meine Wissenschaftsfreiheit faktisch erheblich ein, auch wenn man sich zugleich zu ihr bekennt; nur die Lippen ehren hier, aber das Herz ist fern.
Allerdings: Das Recht, etwas zu tun, impliziert nicht, dass es deshalb schon im moralischen, politischen, wissenschaftlichen oder akademischen Sinne sinnvoll ist. Gibt es also gute nicht-rechtliche Gründe, die es erlauben, J&S zu Vorträgen an eine Universität einzuladen? Ich sehe fünf solcher Gründe. Zunächst aber eine Bemerkung über Konsistenz: Wenn wir Linke wie Sahra Wagenknecht oder Jutta Ditfurth an der Universität Siegen reden lassen, warum dann nicht auch Rechte? Es ist inkonsistent, universitäre Vorträge von Rechten zu verhindern, die von Linken aber nicht. Erst recht zeigt sich diese Inkonsistenz, wenn wir auf die Gäste aus der Wissenschaft schauen. Denn es wird doch niemand behaupten wollen, an geisteswissenschaftlichen Fakultäten redeten nicht regelmässig Wissenschafter, die nicht nur aus dem linken Spektrum kommen, sondern auch linke Positionen universitär vertreten. Es ist kein Zufall, dass an der Universität Siegen jahrelang ein von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziertes Graduiertenkolleg Einfluss nahm. Viele Kollegen betreiben gerade durch ihre Wissenschaft eine ziemlich radikale Politik zu Themen wie Migration, Rassismus, Geschlechterforschung, soziale Gerechtigkeit usw. Damit wir uns recht verstehen: Ich finde das wissenschaftlich nicht nur normal, sondern tolerierbar; und so ist es natürlich ein völlig unakzeptabler Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, dass z.B. der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán kürzlich per Regierungserlass das Studienfach Gender Studies aus der Liste der in Ungarn zugelassenen Masterkurse gestrichen hat. Doch die Einseitigkeit und intellektuelle Blasenbildung, wie Linke sie betreiben, sind wissenschaftlich ebenfalls nicht tolerierbar.
Die goldene Regel
Aus dieser eingeklagten Konsistenz lässt sich nun ein erstes Argument entwickeln: Ich nenne es das Argument der goldenen Regel. Diese Regel besagt: «Behandle andere so, wie du auch selbst in der gleichen Situation behandelt werden möchtest.» Ein Feind der Freiheit versetze sich in folgende Situation: Stellʼ dir vor, du wolltest eine Person an deine Universität einladen, die aus der Sicht vieler Menschen politisch und moralisch sehr umstritten ist; nehmen wir etwa an, diese Person sei eine Marxistin. Aber du befindest dich auf dem Boden des Grundgesetzes, die Person, die du einladen willst, ebenfalls. Würdest du wollen, dass jemand dir das Recht zu dieser Einladung streitig macht? Wenn nicht, dann darfst du, Integrität und Unparteilichkeit vorausgesetzt, dieses Recht auch nicht anderen Personen streitig machen. Was daraus folgt, leuchtet von selbst ein.
Wir könnten daneben liegen
Das zweite Argument ist ein epistemologisches. Es verweist auf die epistemische conditio humana: Wir sind fallibel; wir können nie sicher sein, ob das, wovon wir überzeugt sind, wirklich der Fall ist. In der Tat ist die Geschichte menschlicher Ideen vor allem eine Geschichte der Irrtümer – und zugleich eine Geschichte angemasster Unfehlbarkeit, die dazu führt, die andere Meinung zu unterdrücken, bis hin zur Tötung derjenigen, die sie vertreten. Aber wenn wir eine Meinung unterdrücken, können wir nicht ausschliessen, dass es die richtige Meinung ist, die wir unterdrücken. Die These vom menschenverursachten Klimawandel ist ein schönes Beispiel; wer sie an der Universität bestreitet, wird fast schon angesehen, als leugnete man den Holocaust. Könnte es nicht doch sein, dass sie falsch ist? Die Kontraposition verdient es aber nicht nur als solche, gehört zu werden; sie ist auch die, die uns – jedenfalls in der Regel – am meisten nützt und voranbringt.
Nun sind Meinungen oder komplexe Meinungssysteme sehr oft nicht einfach in Gänze wahr oder falsch. Sie können teilweise richtig sein, und wir tun uns keinen Gefallen, uns nicht mit ihnen auseinanderzusetzen oder sie sogar zu unterdrücken; wir könnten schliesslich etwas von ihnen lernen. Blicken wir kurz auf J&S: Sarrazin etwa ist scharf kritisiert worden für seine Thesen zur Erblichkeit der Intelligenz. Bei Axel Meyer, einem renommierten Evolutionsbiologen, kann man aber lesen, «dass der Kenntnisstand zur genetischen Basis von Intelligenz in ‹Deutschland schafft sich ab› wissenschaftlich weitgehend korrekt dargestellt wurde». Es geht hier und jedenfalls mir nicht um die Wahrheit solcher Thesen aus der Intelligenzforschung, sondern nur um ihre Prima-facie-Plausibilität. Was mich, sit venia verbo, kolossal nervt, ist die Mischung aus Ignoranz und Dogmatismus, die uns verbieten will, über bestimmte Thesen nachzudenken, von denen viele kluge Leute sagen, sie seien nicht gänzlich falsch oder könnten sogar richtig sein; ginge es nach Sarrazins Kritikern, dürfte man auch Steven Pinker nicht einladen. Oder nehmen wir Marc Jongen: Er war 2017 an das Bard College eingeladen; dagegen gab es massiven Protest. In seiner Rede sagte er: «Es wäre eine sehr schlechte Idee, unsere Gesellschaft und unsere Nationen und Staaten auf den Begriff der Rasse oder genetischen Verwandtschaft zu gründen.» Andererseits, so fährt er fort, sollten wir nicht bestreiten, dass ein «hinreichend starkes Bewusstsein eines wir für eine funktionierende Demokratie nur in einem Volk statthaben kann, das dieselben Werte teilt und sich in einem gemeinsamen Projekt für die Zukunft engagiert». Lassen Sie mich auch noch Folgendes zitieren: Es ist «für die Moral wichtig, dass ich nur ein moralisch Handelnder bin, weil wir moralisch Handelnde sind […] Meiner Gemeinschaft beraubt laufe ich Gefahr, alle wirklichen Massstäbe des Urteiles zu verlieren.» Falls Sie es nicht gemerkt haben – das letzte Zitat stammt nicht von Jongen, sondern von Alasdair MacIntyre. Wollen die Feinde der Freiheit auch verbieten, diesen weltbekannten Philosophen an die Uni Siegen einzuladen, nur weil er den Patriotismus für eine Tugend hält?
«Austausch, Streit und Zweifel sind wichtige Quellen des Fortschritts,
und dabei können uns auch Meinungen voranbringen,
die wir für falsch, ja vielleicht sogar für gefährlich halten.»
Aber das epistemologische Argument geht noch weiter: Wir können nämlich in der Auseinandersetzung mit Meinungen selbst dann etwas lernen, wenn diese rundum falsch sind (wobei, wohlgemerkt, wir nie oder selten wissen, ob sie wirklich rundum falsch sind). Nehmen wir Peter Singer: Er vertritt in «Practical Ethics» Thesen, bei denen sich vielen Menschen die Nackenhaare sträuben, wie etwa die, man dürfe manche Neugeborene, die behindert sind, unter bestimmten Voraussetzungen töten. Das kann man mit guten Gründen für falsch und auch für moralisch und politisch extrem gefährlich halten. Sollte man deswegen aber, wie es de facto geschehen ist, Vorträge von Singer verhindern? Ich denke nicht. Und zwar schon deswegen nicht, weil die Auseinandersetzung mit seinen Thesen – selbst wenn man wüsste, dass sie falsch sind – ein wichtiger Probierstein ist für die eigene Position, deren Implikationen, Lücken und Probleme man dann besser versteht. Denn wer selbst Theorien hat, muss sie verteidigen können gegen Einwände und Kritik. Austausch, Streit und Zweifel sind wichtige Quellen des Fortschritts, und dabei können uns auch Meinungen voranbringen, die wir für falsch, ja vielleicht sogar für gefährlich halten. Wer die Universität zu einem Echoraum macht, lässt all diese Quellen versiegen.
Am Gerichtshof der Vernunft
Das dritte Argument ist strategisch. Der Hörsaal einer Universität ist kein Markt; hier wird nicht geschrien, sondern argumentiert. In diesem Sinne biete ich J&S kein «Forum», sondern ich bringe sie vor den Gerichtshof der Vernunft. Und entweder sind ihre Argumente wirklich so schwach, wie viele es behaupten – dann können schon Studenten im zweiten Semester sie entlarven. Oder ihre Argumente sind doch nicht so übel – dann lohnt es sich, sie anzuhören. Darf ein Wissenschafter nicht eben diese Strategie verfolgen, ohne verdächtigt zu werden, selbst Rassist zu sein? Gewiss: Wären J&S Rassisten, so könnten ihre Vorträge rassistischen Tendenzen weiter den Boden bereiten; das ist möglich. Mindestens genauso plausibel ist aber die Annahme, dass mehr Menschen als vorher erkennen, wie wissenschaftlich unhaltbar die Positionen von J&S sind. Der Konsequentialismus – Handlungen sind nicht als solche, sondern danach zu bewerten, was ihre Konsequenzen sind – hat die starke Voraussetzung, wir könnten wirklich wissen, was geschehen wird. Selbst wenn das manchmal möglich wäre oder ist, trifft es hier bestimmt nicht zu; und selbst wenn es zuträfe, dass mein Seminar den Rassismus fördern könnte, wäre ich nicht verantwortlich für die Handlungen Dritter. Brauereien sind auch nicht dafür verantwortlich, dass manche Menschen im Alkoholrausch Straftaten begehen, und jedenfalls führen wir deswegen nicht die Prohibition ein.
Übrigens haben J&S sich besser als von manchen befürchtet, aber doch auch schlechter als erhofft geschlagen. An die Spielregel, über Meinungsfreiheit zu reden und nicht über den Islam oder die Flüchtlingspolitik, haben sie sich gehalten, wenn auch zur Veranschaulichung, und um Beispiele zu geben, diese Themen auftauchten. Von Marc Jongen hätte ich mir etwas mehr philosophische Substanz gewünscht, von Thilo Sarrazin eine systematischere Herangehensweise, unterfüttert mit Beispielen aus seiner eigenen Karriere, wie Meinungsfreiheit auch ohne Zensur beschränkt wird. Der Einwand, man hätte J&S nicht an die Universität einladen müssen, da man ja auch einfach ihre Bücher lesen könne, ist, wenn nicht falsch, dann doch zumindest zu stark: Falsch ist er, weil der persönliche und gewissermassen leibhaftige Diskurs mit einem Menschen viel mehr oder jedenfalls anderes lernen lässt als das Studium seiner Texte; und sollte das nicht stimmen, so beweist der Einwand zu viel, weil dann ja überhaupt keine Vorträge an Universitäten stattfinden müssten. Jedenfalls sehe ich mich durch die persönliche Begegnung mit J&S in meiner Auffassung bestärkt, die ich bereits durch die Lektüre ihrer Texte hatte – Rassisten, geschweige denn Nazis sind die beiden nicht.
Brechende Dämme
Die Einschränkung der Meinungsfreiheit in einem Fall, in dem diese Einschränkung noch erlaubt sein könnte, trägt dazu bei, die Grenzen der Toleranz näher an die eigene Vorstellungswelt heranzurücken, wodurch der Spielraum der Freiheit immer kleiner wird; das ist der Kern des vierten Arguments. Ein zentraler Grund für diesen Dammbruch ist der inflationäre und unpräzise Gebrauch solcher Begriffe wie Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Essentialismus, Homophobie, Menschenverachtung usw. So hält ein Kollege, wie er mir sagte, Sarrazin für einen Rassisten, mit dem er «nicht in einer Veranstaltungsreihe auftreten» wolle. Das ist sein gutes Recht. Aber was bedeutet «Rassismus»? Absurd ist meines Erachtens die These, jemand sei Rassist, wenn er – wie etwa der Humangenetiker David Reich – argumentiert, dass es genetisch unterscheidbare Ethnien oder Populationen (im Englischen races) überhaupt gibt; noch absurder ist die These, Rassist sei bereits, wer bestreite, dass alle Menschen ein uneingeschränktes Recht auf Einreise in jedes Land der Welt haben. Vielmehr, so scheint mir, ist jemand tatsächlich Rassist, wenn er glaubt, dass es, evolutionsbiologisch betrachtet, unterschiedliche menschliche Populationen gibt und diese Unterschiede auch Unterschiede im axiologischen Status implizieren bis hin zu der furchtbaren Idee, manche Populationen wären anderen überlegen und dürften über diese herrschen. Ich kann nicht erkennen, dass Sarrazin diesem Verständnis zufolge Rassist ist.
In dubio pro libertate
Damit komme ich zum fünften und letzten Argument, einem Metaargument. Nehmen wir an, die Feinde der Freiheit fänden alle bisherigen Argumente nicht überzeugend. Und gehen wir einmal davon aus, die Feinde der Freiheit wären gar keine Feinde. Sie wären vielmehr Liebhaber der Freiheit, die diese schützen wollten vor ihren wahren, d.h. antidemokratischen, rassistischen, nationalistischen Antagonisten; und sie liebten nicht nur die Freiheit, sie achteten sie auch als ein sehr hohes Gut, das nur in höchster Not eingeschränkt werden darf. Sie achteten also auch meine Wissenschaftsfreiheit. Sollten sie dann nicht so viel Zweifel an ihrer kritischen Position hegen, um damit zu rechnen, an den Argumenten könne etwas dran sein? Und sollten sie mir nicht zumindest das Recht lassen, mich zu irren? Ist das Gut der Freiheit nicht so herausragend, dass es nur in allergrösster Not eingeschränkt werden sollte? Ist die Not wirklich so gross und die Unsicherheit so klein? Ich meine: Was im Recht für den Angeklagten gilt, gilt hier für die Freiheit: in dubio pro libertate.
Wer die Meinungsfreiheit wie ein Schönwetterprinzip behandelt, der hat sie nicht verstanden. Und in aller Deutlichkeit: Nicht verstanden haben es der Siegener Fakultätsrat, Senat und Hochschulrat, die den Restriktionen der Unileitung beipflichteten (vermutlich sogar aus echter Überzeugung). Nicht verstanden haben es auch die meisten Mitglieder des erweiterten Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, die es nicht vermochten, über ihren politischen Schatten zu springen und sich mit mir zu solidarisieren. Und auch Claudia Roths Verständnis, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, lässt zu wünschen übrig. Denn Roth hat zwar im Sommer 2018 einen Vortrag zur Meinungsfreiheit gehalten und sie verteidigt. Aber das hinderte Roth nicht daran, meine Bitte, mir ihren Vortragstext zuzuschicken, mit folgender Begründung abzulehnen: «Wir unterstützen keine Veranstaltungen, auf denen rechtsextremen und rassistischen Positionen eine Bühne gegeben wird.»
Es ist eine Sache, das Recht auf Wissenschaftsfreiheit anzugreifen (was nicht legitim ist), und eine andere, den Gebrauch dieses Rechts – der etwa darin bestehen kann, J&S einzuladen – zu kritisieren (was selbstverständlich legitim ist). Wer systematisch versucht, die Wissenschaftsfreiheit eines Kollegen einzuschränken, indem man etwa den Rektor dazu auffordert, J&S auszuladen, der verdient es, «Feind der Freiheit» genannt zu werden – selbst dann, wenn die von ihm monierten Denker ebenfalls «Feinde der Freiheit» sind. Die Freunde der Freiheit müssen sich wehren. Denn wer sich zum Wurm macht, bemerkt Kant sehr treffend, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füssen getreten wird.
Zum Weiterlesen:
Dieter Schöneckers Kollegen Erhard Schüttpelz und Nadine Taha sind von den hier aufgeführten Argumenten nicht überzeugt. Hier ihre Replik.
Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» hat die Entwicklungen im Fall «Schönecker» zusammengefasst. So hat sich in die Diskussion jetzt auch Peter-André Alt, Präsident der deutschen Hochschulrektorenkonferenz, eingeschaltet.
In unserem Schwerpunkt «Medien und Diskussionskultur» finden Sie weitere Lesestücke zu unserem derzeitigen Umgang mit Meinungsfreiheit, u.a. von dem renommierten Medienwissenschafter Bernhard Pörksen.