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Der Sandkasten des Bösen

Roberto Bolaño: Das Dritte Reich. Aus dem Spanischen von Christian Hansen.
München: Hanser, 2011.

Bolañomanía herrscht. Mario Vargas Llosa mag im letzten Jahr den Nobelpreis erhalten haben, aber der angesagteste Schriftsteller spanischer Sprache ist heute ein anderer, deutlich jüngerer Lateinamerikaner. Der Nobelpreis wird ihm vorenthalten bleiben, da er 2003 mit erst fünfzig Jahren während des Wartens auf eine Spenderleber gestorben ist. Immerhin wurde er in den USA als erster toter Autor mit dem renommierten National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. Seit den «Wilden Detektiven» (1998), einem multiperspektivischen Roman über eine Avantgarde-Poetengruppe im Mexiko-Stadt der siebziger Jahre, und spätestens seit seinem posthum erschienenen opus magnum, dem 1200-Seiten-Roman «2666» (2004) rund um die mysteriösen Frauenmorde von Ciudad Juárez, hat das europäische und US-amerikanische Feuilleton für den gebürtigen Chilenen Roberto Bolaño die Magnumflasche aus dem Kühlschrank geholt. Das Schöne daran: Bolaño ist wirklich so gut, wie der Hype es suggeriert.

Die Schattenseite des Ruhms: die Hinterbliebenen liefern sich Schlammschlachten und Stellungskriege. Schon am Sterbebett des Dichters soll dessen Ehefrau Carolina López der langjährigen Nebenbuhlerin und Bolaño-Freundin Carmen, die den Kranken zwei Wochen vor seinem Tod ins Spital gefahren hatte, jegliche Besuche (und später auch die Teilnahme an der Abdankung) untersagt haben. López ist auch die Mutter von Bolaños Kindern und Verwalterin des nachgelassenen Archivs in Blanes bei Barcelona, wo Bolaño seit 1986 lebte. Zusammen mit dem berüchtigten Literaturagenten Andrew Wylie, dessen nom de guerre «Der Schakal» lautet, und dem spanischen Schriftsteller Enrique Vila-Matas macht sie die eine Fraktion der Erben aus, während Bolaños Verleger Jorge Herralde und einer seiner besten Freunde, der scharfsinnige Kritiker Ignacio Echeverría, ein Gegenlager bilden. Sowohl López als auch Echeverría sollen an Büchern über Bolaño arbeiten. Eine Biographie schreibt derzeit auch die argentinische Journalistin Mónica Maristain, die als Chefredakteurin des lateinamerikanischen «Playboy» das berühmte letzte Interview mit Bolaño führte.

Unter anderem wird heftig darüber gestritten, ob und wie unveröffentlichte Texte aus Bolaños Ordnern und Computerdateien publiziert werden sollen. Nach «2666» sind auf Spanisch bereits diverse Bände mit Artikeln und Essays, Poesie und Kurzprosa sowie Erzählungen und zwei Romane erschienen. Ein weiterer (mit dem Titel «Diorama») liegt bereit. «Das Dritte Reich» (geschrieben 1989) ist das erste dieser posthum erscheinenden Bücher, von dem nun eine vollständige Eindeutschung (aus der Feder des souveränen Übersetzers Christian Hansen) vorliegt.

Der Roman spielt nicht etwa zur Zeit des Nationalsozialismus, sondern in den achtziger Jahren in einem Ferienort an der Costa Brava. Ich-Erzähler ist ein junger Deutscher namens Udo Berger, der mit seiner Freundin Ingeborg Urlaub in einem Hotel macht, in dem er schon als Kind mit seinen Eltern mehrmals die Sommerferien verbrachte. Zunächst plätschert alles gefällig dahin. Man lernt ein anderes deutsches Pärchen, Hanna und Charlie, kennen, durchtanzt die Nächte in Diskotheken. Doch tagsüber mag Udo seine «blendend» aussehende Ingeborg nicht an den Strand begleiten. Er bleibt im Hotelzimmer und baut sich dort seinen eigenen Sandkasten: Udo Berger ist westdeutscher Meister im Kriegsspiel «Das Dritte Reich» (im englischen Original: «Rise and Decline of the Third Reich») und knobelt an neuen Strategien, die er in spezialisierten Zeitschriften veröffentlicht. Doch der Spieler kommt nicht vom Fleck, denn vieles lenkt ihn ab: die deutsche Frau des krebskranken Hotelbesitzers, für die er schon als Jüngling schwärmte; der grossschnäuzige deutsche Surfer Charlie, der seine Hanna schlägt; einige Einheimische, die sich den Touristen anschliessen, insbesondere ein rätselhafter Typ mit Brandnarben, der am Strand Tretboote vermietet und sie nachts zu einer Art Festung aufschichtet.

Als Roberto Bolaño einmal gefragt wurde, welche Extravaganz er sich gönne, antwortete er: «Meine grosse Sammlung von Kriegsspielen.» Nach seinen schriftstellerischen Anfängen als «infrarealistischer» Avantgarde-Dichter in Mexiko-Stadt zog Bolaño 1977 nach Spanien, wo er sich zwei Jahrzehnte lang mit Brotjobs wie Campingplatznachtwächter oder Bijouterieverkäufer über Wasser hielt, daneben aber unermüdlich Erzählungen schrieb, die ab und zu auch an regionalen Literaturwettbewerben prämiert wurden. Ausserdem spielte er auf dem Spielbrett historische Schlachten und Kriege nach – oft mit Kontrahenten, die in anderen Ländern wohnten, wobei sich die Spieler ihre Züge jeweils per Post zuschickten. Das Martialische prägt aber auch Bolaños Selbstverständnis als Schriftsteller. Er plante eine «Militärische Anthologie der lateinamerikanischen Literatur» und sagte zu dem
mexikanischen Schriftsteller Juan Villoro: «Ich bin ein Marine. Wo du mich auch aufstellst, ich halte durch.» In «Das Dritte Reich» macht er sich nun einen Spass daraus, Nazigeneräle mit deutschen Schriftstellern zu vergleichen: von Manstein mit Günter Grass, Paulus mit Georg Trakl oder gar – Rommel mit Paul Celan.

Als Charlie mit dem Surfbrett tödlich verunglückt, lässt Udo Berger seine Freundin allein nach Deutschland zurückkehren und kommt sich zusehends abhanden – einerseits in einer Affäre mit der Hotelbesitzerin, andererseits in einer viele Abende andauernden Partie «Das Dritte Reich» gegen den Tretbootvermieter, den alle «den Verbrannten» nennen und der vielleicht ein Folteropfer der chilenischen Militärdiktatur ist. Eine weitere Bizarrerie: dass der deutsche wargame-Meister gegen einen unbedarften Gegner die Geschichte auf den Kopf stellt und die Wehrmacht triumphieren lässt. Doch der «Verbrannte» holt sich beim bettlägrigen Hotelier strategische Hilfe – und dreht das Spiel. Udo Berger bildet sich ein, dass ihn sein Gegenspieler als Nazi betrachtet und auch «im richtigen Leben» vernichten will.

In «Das Dritte Reich» arbeitet Bolaño bei weitem noch nicht so virtuos mit Perspektiven und vernetzten Strukturen wie in den «Wilden Detektiven» oder in «2666». Aber bereits hier protokolliert der erklärte Antipode des Magischen Realismus kafkaeske Träume und lässt Realität und Fiktion pausenlos ineinanderkippen. Und er lotet schonungslos eines seiner späteren Lieblingsthemen aus: das Böse. Noch in der harmlosesten Handlung, im beiläufigsten Small Talk glänzen finstere Aggressionen auf, und wie so oft bei Bolaño hat man beim Lesen das Gefühl, über eine dünne Schicht zu wandeln, unter der die schreckliche Wahrheit über den Menschen lauert. Schade, dass der Roman 1989 noch nicht erscheinen konnte. Im blinden Freudentaumel über das Ende des Kalten Kriegs und das «Zusammenwachsen» Europas hätte Bolaños Illusionslosigkeit gut getan.

In gewisser Weise ist «Das Dritte Reich» aber auch ein Künstlerroman in der Tradition Thomas Manns, eine ironisch-nüchterne Variation von «Der Tod in Venedig». Wie Gustav von Aschenbach sucht der apollinische Stratege Udo Berger am Mittelmeer dionysische Entgrenzung und Selbstauflösung. Der sich abkapselnde Kriegsspieler ist auch ein Modell des einsamen Künstlers, des Schriftstellers Bolaño, der sich in aller Erfolglosigkeit unbeirrbar seinem Werk widmete. Nur dass hier die Todesphantasien unerfüllt bleiben. Der Triumph, am Strand einen erotischen Tod zu sterben, bleibt Berger versagt. Dafür gewinnt er eine Erkenntnis: als sein Gegner mit dem Sieg am Spielbrett vollauf zufrieden ist und Udo körperlich unversehrt nach Deutschland zurückkehrt, interessieren ihn die Kriegsspiele kaum noch. An einem grossen wargame-Kongress in Paris nimmt er als distanzierter Beobachter teil und kommt zum Schluss, «dass achtzig Prozent der Redner psychiatrische Hilfe nötig hatten». Wer sich der Kunst in bürgerlicher Kontrolliertheit widmet, ist gestört. Dass Udo Berger seine Niederlage überlebt, bricht den Bann. Doch der Wahn, in den sich der Spieler/Künstler erst als Verlierer vorbehaltlos hineinsteigern konnte, barg die Wahrheit des Spiels.

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