Der Ruf nach der «starken Hand»
Zur aktuellen Lage in Russland Der Terror im Zusammenhang mit dem Tschetschenien-Konflikt verbreitet in
der russischen Bevölkerung eine zunehmende Unzufriedenheit mit den
Machthabern und verstärkt gleichzeitig den Ruf nach einer «starken Hand».
Während die Sowjetunion jahrzehntelang scheinbar monolithisch, nahezu immobil und deshalb in ihren Reaktionen auch berechenbar war, änderte sich nach ihrem Zusammenbruch das Verhältnis zum Ausland radikal. Das heutige Russland ist gleichzeitig ein geopolitischer Raum, in dem verschiedene Gesellschaftssysteme zusammen existieren, wie auch ein nicht immer konfliktfreies Konglomerat von Zivilisationen mit charakteristischen Merkmalen und heterogenen Wertesystemen; daraus ergibt sich ein grosses Unsicherheitselement. Da die alten Staaten in schnellem Tempo zerfielen und neue Staaten mit anderen Bündnispartnern entstanden, änderte sich das bislang stabile Kräfteverhältnis, und frühere Konfrontationen entluden sich in zähen Auseinandersetzungen und bisweilen sogar blutigen Konflikten. Wie lange diese Eruptionen die Weltpolitik erschüttern und mit welcher Konfiguration der Alten Welt die Menschen des 21. Jahrhunderts leben müssen, bleibt eine offene Frage. Ausschlaggebend ist dabei nicht nur die Richtung, die der Transformationsprozess in Russland einschlägt, sondern auch das Tempo, in dem er vonstatten geht.
Störfaktoren des Aufschwungs
Noch vor wenigen Jahren befand sich das Land in einer tiefen Finanzkrise. Versuche, marktwirtschaftliche Verhältnisse zu etablieren, schienen fehlzuschlagen. Dann veränderte sich die Situation rasant: In dem Budgetentwurf, den die russische Regierung im August 2003 für das Jahr 2004 veröffentlichte, rechnete diese bereits mit einem Einnahmenüberschuss von 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), auf der Basis eines durchschnittlichen Ölpreises von 22 US-Dollar pro Fass. Die russische Börse reagiert heftiger, und die Schuldenlast des Staates wurde stark verringert. Erstmals seit Jahren strömt in letzter Zeit ausserdem mehr Kapital ins Land, als von dort ins Ausland transferiert wird.
Das Bild eines positiven wirtschaftlichen Aufschwungs scheint jedoch für eine zuverlässige Aufwärtsprognose nicht auszureichen: Festzustellen ist eine sehr einseitige Abhängigkeit des russischen Budgets von den Erdöl- und Erdgaseinnahmen. Vor allem in Moskau, St. Petersburg und einigen anderen Metropolen gibt es einen etablierten Mittelstand, in vielen Regionen des Landes dagegen beherrschen Stagnation, gesellschaftlicher Zerfall, Armut und Verzweiflung das Feld. Äusserst beunruhigend ist zudem die aktuelle demographische Entwicklung. In den letzten zwölf Jahren ist die Bevölkerung Russlands um beinahe 10 Millionen Menschen auf 144,5 Millionen Menschen geschrumpft. Wenn diese Tendenz anhält, kann Russland, nach Einschätzungen von Experten, im Jahr 2040 nur noch mit 120 Millionen Einwohnern rechnen.
Der Bevölkerungsrückgang hat verschiedene Ursachen: äusserst niedrige Geburtenzahlen, eine im Vergleich zu anderen Industrieländern sehr geringe Attraktivität für Einwanderer und eine ungewöhnlich niedrige Lebenserwartung, vor allem unter den russischen Männern, wozu auch der übermässige Konsum alkoholischer Getränke beiträgt. Allerdings ist letzteres in der russischen Geschichte kein neues Phänomen. Es wird geschätzt, dass russische Familien bis zu 30 Prozent ihres Monatsbudgets für alkoholische Getränke ausgeben.
Die Entwicklung verborgener bzw. illegaler wirtschaftlicher Aktivitäten, die unter dem Sammelbegriff «Schattenwirtschaft» zusammengefasst werden, stört den Transformationsprozess zusätzlich. Die Durchführung marktwirtschaftlicher Reformen hat in Russland zu einer weiteren Ausbreitung der Schattenwirtschaft geführt: Das Staatskomitee für Statistik der Russischen Föderation schätzt die Grösse dieses Sektors auf 20 bis 25 Prozent des Bruttoinlandprodukts, der zivile Geheimdienst FSB und das Innenministerium gehen sogar von 40 bis 50 Prozent aus.
Eine Besonderheit der russischen Transformationswirtschaft ist die grosse Zahl der nicht offiziell verbuchten, vor den Steuerbehörden verborgenen Aktivitäten legal registrierter Firmen. Steuerhinterziehung seitens der legal agierenden Geschäftsleute macht einen grossen Teil der Schattenwirtschaft aus, der aber von der Statistik nicht unmittelbar erfasst werden kann.
Die Folgen der selbst im legalen Bereich weiten Verbreitung schattenwirtschaftlicher Tätigkeiten für Unternehmen, Branchen und die Wirtschaft insgesamt sind vielschichtig. Die Symbiose legaler und illegaler Aktivitäten innerhalb einer Firma wirkt sich auf die Prozesse auf der Mikroebene aus: Das wirtschaftliche Anreiz- und Verhaltensmuster der Unternehmen, der Beschäftigten und der Eigentümer wird ebenso verzerrt wie das Beziehungssystem zwischen den Marktsubjekten. Eigentumsrechte werden verletzt, und in der Folge sinkt die Bereitschaft zu sparen und zu investieren. Die schattenwirtschaftlichen Aktivitäten sowie die damit verknüpfte institutionelle Entwicklung fördern Korruption und Kriminalisierung der Wirtschaft. Das System der Geschäftsverbindungen stützt sich vorwiegend auf persönliche Beziehungen und inoffizielle Vertragsabschlüsse. Die Geschäftsethik toleriert auch gewaltsame Mechanismen des Schutzes von Eigentumsrechten und Verträgen, und Steuerhinterziehung ist zu einer allgemeinen Praktik geworden.
Krisenherd Tschetschenien
Die aktuelle Situation im Nord-Kaukasus bildet einen weiteren Unsicherheitsfaktor, der vor allem die russische, aber auch die gesamteuropäische Sicherheitspolitik beeinflusst. Der Kaukasus stellt mittlerweile in der sicherheitspolitischen Landschaft Europas einen Krisenherd erster Ordnung und erheblichen Risikopotentials dar; dabei spielt der Tschetschenien-Konflikt eine besondere Rolle und beeinflusst auch die innenpolitische Situation in Russland stark.
Er gilt inzwischen als ein Dauerbrenner: Auch nach der Ausschaltung einiger berüchtigter Feldkommandanten und Rebellengruppierungen hat Russland in den Kämpfen der letzten Monate keine entscheidende Wende erzielt; beinahe täglich wird über die Opfer des Partisanenkrieges sowie über Terroranschläge berichtet. Die laufende Konfliktentwicklung in Tschetschenien zeigt zudem ein Zusammenwirken von religiöser Motivation und Zermürbungstaktik; dazu gehören einerseits Kampfformen wie Terror- oder Selbstmordanschläge und anderseits die Ausrüstung der Guerillakämpfer mit modernsten militärischen Mitteln, wie z.B. tragbaren Luftabwehrsystemen.
In dieser Auseinandersetzung gelingt es den Rebellen, mit Hilfe der Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen und durch die Guerillataktik, ein Gleichgewicht herzustellen, das auf die Zermürbung des Gegners abzielt und ihn dadurch schliesslich zum politischen Einlenken zwingen könnte. Das Ziel der tschetschenischen Rebellen besteht offensichtlich nicht in einem militärischen Sieg über die russischen Truppen, die eine gravierende waffentechnische wie militärisch-organisatorische Überlegenheit besitzen, sondern vielmehr in der moralischen und ökonomischen Schwächung des Gegners. Während die Finanzierung des Krieges auf russischer Seite aus dem Staatsbudget möglich ist, werden die Rebellen aus illegalen Quellen unterstützt, nicht zuletzt aus illegalen Ölgeschäften. Dabei entstanden bereits im ersten Tschetschenien-Krieg gewaltgesteuerte schattenwirtschaftliche Strukturen, von denen nicht nur Guerillakämpfer, sondern auch russische Militärs und Polizisten profitierten.
Das Ausmass der Schattenwirtschaft im zweiten Tschetschenien-Krieg sprengt den volkswirtschaftlichen Rahmen und hat weitreichende politische Konsequenzen. Die Verbindungen sowie der Konkurrenzkampf im illegalen Ölbusiness zwischen den Rebellen und den russischen Militärs sind weithin bekannt. Viele Experten in Russland sprechen davon, dass das illegale Ölbusiness die Situation in der abtrünnigen Republik verändert hat: Ein Teil der in die Ölgeschäfte involvierten Spitze des russischen Militärs sowie gewisse Kreise in Tschetschenien sind an der Fortführung des Krieges interessiert.
Dies bestätigen auch die Angaben über die öffentliche Meinung in Russland: Im Februar 2000 waren, laut dem russischen Zentrum für Untersuchungen der öffentlichen Meinung (WZIOM), beinahe 70 Prozent der Russen von der Notwendigkeit und Legitimität der Kampfhandlungen überzeugt. Daraufhin liess die mediale Anstrengung des Staates offensichtlich nach: Zu Beginn des Jahres 2001 sank die Zahl der Sympathisanten der «Kriegspartei» fast auf die Hälfte. Im Juli 2002 stellte das WZIOM zum Tschetschenien-Krieg in Russland einen Tiefpunkt der öffentlichen Meinung fest. Eine Trendumkehr trat nach der Geiselnahme im Moskauer Theater im Oktober 2002 ein. So zeigten die Untersuchungen der russischen Stiftung Öffentliche Meinung (FOM), dass die Anzahl der Russen, die mit der Souveränität Tschetscheniens einverstanden wären, seit Mai 1998 von 32 Prozent auf 22 Prozent im Mai 2003 gesunken war. Gleichzeitig stieg die Anzahl von Personen, die die abtrünnige Republik als integralen Bestandteil der Russischen Föderation betrachteten, beinahe um die Hälfte.
Die propagandistischen Bemühungen des Kremls konzentrieren sich auf das Fernsehen, vor allem auf die kremlkonformen Sender ORT und RTR. Die Ressourcen des World Wide Web werden eher unterschätzt, was verheerende Auswirkungen auf die öffentliche Meinung Russlands haben könnte; denn die Zahl der Internet-Benutzer in Russland wächst stetig.
Die jüngsten Präsidentenwahlen in Tschetsche-nien liessen eine politische Lösung kaum näherrücken. Putin betrachtete zwar die Volkswahl eines neuen Republikspräsidenten als wesentlichen Schritt zu einer politischen Lösung des Konfliktes. Dies liesse sich rechtfertigen, wenn es sich um eine einigermassen glaubwürdige Wahl gehandelt hätte. Davon kann aber nicht die Rede sein; denn der Machtapparat des Kremls hat vor den Wahlen alles getan, um jene drei Kandidaten (Aslachamow, Dschabrailow und Saidullajew) auszuschalten, die den Sieg des bisherigen Moskauer Statthalters Kadyrow hätten gefährden können.
Zunehmende Verunsicherung
Viele Wissenschafter sind sich einig darüber, dass die Konfrontation mit dem Westen ein Merkmal der russischen Geschichte ist. Über Jahrhunderte hinweg hat sich diese Konfrontation in der Gesellschaft und im Bewusstsein der Menschen in Russland verankert und ist Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses, des russischen nationalen Bewusstseins und seiner politischen Kultur geworden. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum Putins verstärktes aussenpolitisches Engagement – wie z.B. neu aufgebaute Beziehungen zur EU und den USA, die strategische Partnerschaft zwischen der Nato und Russland sowie nicht zuletzt die Unterzeichnung einer Übereinkunft über die Gründung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums zusammen mit der Ukraine, Weissrussland und Kasachstan – Fehlentscheidungen in der russischen Innenpolitik relativiert.
Die dauernde Terrorgefahr bringt eine zunehmende Verunsicherung der Bevölkerung mit sich. Der letzte Anschlag könnte durchaus eine Reaktion der Rebellen auf die landesweiten russischen Parlamentswahlen vom 7. Dezember 2003 gewesen sein. Diesen kam die Aufgabe zu, das Terrain vor dem eigentlich wichtigen Grossereignis, den Präsidentschaftswahlen im März dieses Jahres vorzubereiten. Entsprechend konnten dem Lager des Präsidenten nahestehende Parteien ihre Mehrheit in der Duma deutlich ausbauen: die kremltreue Partei «Vereintes Russland» hat mit 37,1 Prozent der Stimmen mit grossem Abstand die Parlamentswahl gewonnen. Die «Kommunistische Partei» steht mit 12,7 Prozent der Stimmen auf Platz zwei, gefolgt von der «Liberaldemokratischen Partei» des Ultra-nationalisten Schirinowski mit 11,6 Prozent. Die westlich orientierten liberalen Parteien «Jabloko» und «Union der Rechten Kräfte» lagen weiter deutlich unter der Sperrklausel von 5 Prozent. Dagegen erreichte die neue, von Kommunisten und Nationalisten gegründete Partei «Heimatland» auf Anhieb 8,8 Prozent der Stimmen.
Alexander Schrepfer-Proskouriakov, geboren 1969 in Tambov/Russland, studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Staatlichen Pädagogischen Hochschule in Tambov und promovierte 2003 an der Universität Konstanz.(alexander.s-p@gmx.ch)