Der Revisionismusvorwurf
beendet
die Geschichtsschreibung
Einigen jüngeren Studien zur Schweizer Zeitgeschichte schlägt unsachliche und faktenwidrige Kritik entgegen. Dass unser Bild der Vergangenheit ständig neu beurteilt werden darf und muss, geht vergessen.
Es kommt vor, dass wissenschaftliche Arbeiten das Bild der Vergangenheit nicht nur ergänzen, sondern auch neu zeichnen. In der Schweiz gelang dies unlängst einigen Studien insbesondere zum 20. Jahrhundert. Dazu gehören die materialreichen Dissertationen von Ruth Fivaz-Silbermann zur Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs (2017) und von Titus Meier zu den Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall im Kalten Krieg (2018). Diese Publikationen wurden in der Forschungswelt alles andere als konfliktfrei aufgenommen. Obwohl sich Meiers Studie auf bislang unzugängliche Bundesakten stützte, wurde sie als tendenziöse Darstellung eines freisinnigen Politikers bezeichnet. Der Lausanner Historiker Hans Ulrich Jost versuchte Fivaz-Silbermanns in zwanzigjähriger Recherche entstandenes Werk zu disqualifizieren. Es sei eine grosse Fleissarbeit, aber keine richtige Dissertation. Es fehle die Struktur einer Doktorarbeit, liess sich Jost zitieren.
Dieses Urteil folgt einem Muster, das einer offenen wissenschaftlichen Diskussion nicht gut ansteht. Die genannten Studien müssen kritisiert werden können, aber der Ton mancher Kritiken frappiert. Als würde die Geschichtsschreibung weder innovative Rekonstruktionen der Vergangenheit noch Archivrecherchen in frisch zugänglichen Beständen benötigen, werden Studien mit neuen Quellen und faktischen Richtigstellungen mit dem Allerweltswort «Revisionismus» abgetan oder als unwissenschaftlich bezeichnet. Besonders beschlagene Geschichtswächter entstellen den Standpunkt des Gegners so sehr, dass selbst die geringfügigste Korrektur am hergebrachten Geschichtsbild wie ein Elefant in einer Kabinettausstellung wirkt.
Ungenauigkeit und Quellenscheu
Wie diese Mechanismen funktionieren, erlebte auch ich in den letzten Monaten. Meine jüngst erschienene Dissertation beleuchtet das lange politische Leben des umstrittenen katholisch-konservativen Bundesrats Philipp Etter (1891–1977), der zwischen 1934 und 1959 das Eidgenössische Innendepartement leitete. Etters Kulturpolitik der geistigen Landesverteidigung behandle ich ebenso wie seine antisemitischen Äusserungen und seine Haltung zu einer christlich-autoritären Erneuerung der Demokratie in den 1930er Jahren.
Das Verdikt von Kritikern fiel teilweise positiv, teilweise zurückhaltend, mitunter aber auch vernichtend aus. Den emeritierten Geschichtsprofessor Jakob Tanner etwa irritierte in seiner Rezension, dass meine Arbeit an der Universität Zürich «akademische Qualifikationsziele» erreicht habe.1
Gravierender als dieses subjektive Werturteil sind die Ungenauigkeiten in der Argumentation mancher Kritiker. So schrieb Josef Lang in seiner Rezension, ich würde verschweigen, verharmlosen und Fragwürdiges übergehen.2 Als Beispiel nannte er Etters enge Verbundenheit mit dem Geistlichen und Jugendbuchautor Josef Konrad Scheuber, die ich unterschlagen hätte. Lang wollte mit Scheuber aufzeigen, «wie massiv die Linken-, Frauen- und Judenfeindlichkeit im katholischen Milieu» und also auch bei Freund Etter gewesen sei. Allerdings pflegten Etter und Scheuber eher eine Bekanntschaft und blieben bis in die 1950er Jahre per Sie. Um bei der Leserschaft den Eindruck von Unkenntnis oder Tendenz zu erzeugen, schrieb Lang, die Broschüre «Verfassungsreform» des Journalisten Carl Doka werde von mir «nicht einmal erwähnt». Diese Broschüre wird bei mir durchaus berücksichtigt, jedoch nicht in der Wichtigkeit, die Lang ihr für Etter beimisst. Meine Studie verharmlose den bekannten Schweizer Offizier Eugen Bircher als bloss «deutschfreundlich und streitbar», behauptete Lang weiter, ohne zu erwähnen, dass Bircher in meinem Buch als ein «unter Übernahme nationalsozialistischer Propaganda» politisierender Militär bezeichnet wird.
Ähnliche Unterlassungen warf mir Jakob Tanner vor. So etwa würde ich die Schweizer Ärztemissionen unter nationalsozialistischem Wehrrecht ab 1941 an die Ostfront als humanitäre Hilfe verharmlosen. In Wirklichkeit erwähne ich die Ärztemissionen im Kontext von Furcht, Opportunismus, Entspannungspolitik und Sympathien für Deutschland. Dazu zitiere ich unter anderem Daniel Bourgeois und den Bergier-Schlussbericht. Dabei problematisiere ich die Ärztemissionen als Teil einer «stark legalistisch ausgelegten Neutralitätsdoktrin».
Abgesehen von diesen vermeintlichen Unterlassungssünden nahmen einige Kritiker neue Quellenbelege kaum zur Kenntnis. Vor allem bei Etters Haltung zur Totalrevision der Bundesverfassung wiegt dies schwer. Wie ich zeigen konnte, befürwortete Etter 1935 nach langem Zögern die Idee einer Totalrevision, stand jedoch der teilweise frontistisch inspirierten Totalrevisionsinitiative skeptisch gegenüber. Josef Lang zitierte in seiner Kritik nur Etters allgemeine Aussage im Vorfeld der Abstimmung: «Ich für meinen Teil bekenne mich offen zu einer Totalrevision.» Etters Distanzierung vom Frontismus und von nationalistischen, sozialistischen wie auch antidemokratischen Tendenzen in der gleichen Stellungnahme fand bei Lang hingegen keine Erwähnung. In meinem Buch wird Etters Skepsis gegenüber der Totalrevisionsinitiative unter anderem durch einen Privatbrief belegt, in dem er über die Initianten auf katholischer Seite schrieb: «Unsere Jungen verlegen das Schwergewicht auf eine Änderung der Organisation der Staatsgewalt. Aber gerade da hätten wir meines Erachtens nicht in erster Linie zu revidieren.»
Jakob Tanner betonte in seiner Rezension, dass Etter fünf Jahre später, 1940, erneut eine Totalrevision der Bundesverfassung mit «starker Führungsgewalt» angestrebt habe. Meine Darstellung dieses Zusammenhangs sah Tanner als weitere verharmlosende Rechtfertigung. Doch entstellt Tanners Kurzfassung, was Etter in der konkreten Stellungnahme vom September 1940 seitens des Gesamtbundesrats sagte. Er sprach nicht von «Führungsgewalt», wie Tanner zitiert, sondern von «Regierungsgewalt». Es bestehe «zur Stunde keine unmittelbare Notwendigkeit, durch neue rechtliche Massnahmen die Regierungsgewalt zu verstärken», meinte Etter mit Verweis auf bereits bestehende Regierungsvollmachten. Er schränkte für die Dauer des Kriegs ein, wogegen auch Kritiker nichts einzuwenden hatten: «Der Bundesrat bejaht die Notwendigkeit einer Totalrevision der Bundesverfassung. Solange jedoch das Land alle seine Kräfte zusammenfassen muss, um sich wirtschaftlich durchzuhalten und seine politische Unabhängigkeit zu behaupten, betrachten wir die Durchführung einer Totalrevision als untunlich.»
Kein Eugeniker
Als Teil einer durchgängigen Rechtfertigungsstrategie kritisierten schliesslich manche Historikerkollegen meine Ausführungen zur Frage, wie sehr Etters öffentliche Appelle in den 1930er und 1940er Jahren völkischen Charakter trugen. In meiner Studie weise ich hierzu nach, dass Etter der seinerzeit populären Eugenik ambivalent bis kritisch gegenüberstand. Im Gegensatz zu früheren Überhöhungen ist Etter durchaus als Politiker mit Fehlern und Schwächen zu sehen. Doch aus der in seinem Einzelbeispiel katholisch geprägten Überzeugung, über den Wert und Unwert des Lebens nicht entscheiden zu dürfen, blieb er hier skeptisch.
Der Geschichtsschreibung unterliefen Fehler in der Einschätzung dieser wichtigen Frage. In Jakob Tanners Referenzwerk «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» von 2015 wird Etter zitiert, der gesagt haben soll, eine Armee von «Anormalen» verschlinge Finanzmittel, «die dann bei der richtigen Armee fehlten». Das ist ein Falschzitat. Etter rief, im Gegenteil, zur Hilfe für die Armee von «Anormalen» und die Pro Infirmis auf: «Stellen wir der Armee der Geprüften und Leidbeladenen eine viel grössere Armee helfender und gebefreudiger Liebe entgegen!» Der Irrtum findet sich bereits in einem Beitrag von Georg Kreis von 1995 und geht unter anderem zurück auf eine missverständliche Stelle in Christoph Kellers «Der Schädelvermesser» aus dem gleichen Jahr.
Es braucht den selbstkritischen Austausch
Wie ist mit diesen Revisionismusvorwürfen, ihrer Vehemenz und ihren Entstellungen umzugehen, wenn gleichzeitig Korrekturen im Kleinen und teilweise im Grossen notwendig wären? Nötig ist ein selbstkritischer Austausch unter den Historikerinnen und Historikern, der die Quellenforschung in den Archiven ins Zentrum stellt und unser Verständnis der Vergangenheit immer wieder neu beurteilt. Empirische Forschung beginnt bei der Diskussion überlieferter Quellen, die an sich problematische, aber die hauptsächlichen Stoffe der Geschichtsschreibung sind. Im Archiv stösst mit zunehmender Aufenthaltsdauer jeder auf neue Erkenntnisse und entdeckt korrigierenswerte Fehler in der bisherigen Literatur.
Neben der wichtigen Kritik unangebrachter Revisionismen, falscher Geschichtsbilder und politischer Mythen müssen sich Historikerinnen und Historiker ständig um Selbstbescheidung und mehr Redlichkeit gegenüber den Quellen bemühen. Revision ist ein wiederkehrender, selbstverständlicher Vorgang in der Geschichtsschreibung.