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Der Rechtsrutsch, der keiner war

Trotz guten Voraussetzungen haben die bürgerlichen Parteien in der vergangenen Legislatur Weichenstellungen hin zu einer freiheitlicheren Politik verpasst. Sie versprachen am Sonntag Zusammenarbeit und standen sich schon am Montag im Weg.

 

Wer nach dem 18. Oktober 2015 die Medienberichterstattung verfolgte, wähnte sich in einer neuen Ära. Von einem «Rechtsrutsch» war nach den eidgenössischen Wahlen die Rede, bei denen SVP und FDP hinzugewonnen hatten. Während die NZZ mit Befriedigung eine «Rückkehr zur Normalität» feststellte, sah die linke WOZ «vier eiskalte Jahre» auf die Schweiz zukommen.

Doch wie oft in der Schweizer Politik steht der politische Alltag im Kontrast zu den kühnen Prophezeiungen. Das politische System mit regelmässigen Volksabstimmungen wirkt scharfen Kurswechseln entgegen. Von einem «Rechtsrutsch» war in der 50. Legislatur ebenso wenig zu sehen wie vom vielzitierten «bürgerlichen Schulterschluss», den Vertreter von SVP, FDP und CVP beschworen hatten. Gemeinsam gelang den drei Parteien in den vier Jahren wenig. In wichtigen Fragen standen sie sich gegenseitig mehr im Weg, als das die Linke vermocht hätte. Sie konnte dem Dissens unter den Bürgerlichen frohgemut zusehen.

Bei der Reform der Altersvorsorge spannte die CVP mit der Linken zusammen und schnürte ein Paket, das vor allem auf Mehrausgaben setzte. Die Vorlage scheiterte 2017 in der Volksabstimmung. Auch bei der Energiestrategie 2050 waren sich die drei bürgerlichen Parteien uneinig. Während sich die Christdemokraten und eine Mehrheit des Freisinns – unter anderem durch Zückerchen fürs Gewerbe – von der Vorlage überzeugen liessen, zog die SVP allein dagegen ins Feld. Es war eine häufige Konstellation, nicht nur bei den Initiativen der Volkspartei, von denen seit der Masseneinwanderungsinitiative keine mehr Erfolg hatte, sondern etwa auch bei der «No Billag»-Initiative.

Druck von aussen

Und wenn sich die drei bürgerlichen Parteien doch einmal einig waren, agierten sie oft unglücklich. So erlitt das für die Wirtschaft entscheidende Projekt der Unternehmenssteuerreform III im Februar 2017 an der Urne Schiffbruch. Das Paket – gemäss Nachbefragung die komplizierteste Vorlage, seit Umfragen dazu durchgeführt werden – war schwierig zu erklären, zudem fehlte das Vertrauen, nachdem der Bundesrat die Folgen der Unternehmenssteuerreform II falsch eingeschätzt hatte.

Das Parlament reagierte auf die Ablehnung der Steuerreform mit dem Paket zur Altersvorsorge, indem es beide Themen in ein noch grösseres Paket packte – ein Monstrum namens «Steuer­reform und AHV-Finanzierung» (STAF). Die Vorlage war eine Bankrotterklärung: Wenn zwei Projekte für sich allein das Volk nicht überzeugen, so die Logik dahinter, kombinieren wir sie eben zu einem Paket, in dem für jeden etwas dabei ist. Die SP hatte das Maximum herausgeholt im Austausch für ihr Ja zur Steuerreform. Auch das Volk stimmte zu, auch wenn – oder gerade weil – aufgrund der Verknüpfung völlig unterschiedlicher Themen die freie Willensäusserung in krasser Weise verletzt war.

Die vergangene Legislatur war auch vom Aufstieg neuer ­Bewegungen geprägt, die regelmässig oder auch nur punktuell in die öffentliche Debatte eingriffen. So trugen 2016 mit der Operation Libero und dem Zusammenschluss «Dringender Aufruf» zwei relativ junge zivilgesellschaftliche Gruppierungen zum Absturz der SVP-Durchsetzungsinitiative an der Urne bei. Die Klima­demos beeinflussten 2019 die parlamentarische Debatte etwa über das CO2-Gesetz massgeblich. Und die Initiative für einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub brachte National- und Ständerat dazu, zu zwei Wochen «Papizeit» Hand zu bieten. Im direktdemokratischen System der Schweiz sind die Schwellen, um Einfluss auf die Politik zu nehmen, tief. Zudem machten sich die Bewegungen das Internet als Mobilisierungsinstrument zunutze. Digitale Kommunikationsmittel erleichtern es, schnell und mit wenig Aufwand Unterstützung für ein Anliegen zu organisieren. Sie beleben den politischen Prozess, erschweren aber zuweilen die Zusammen­arbeit im Parlament – auch im bürgerlichen Lager.

«Gelingt die bürgerliche Zusammenarbeit nicht,

werden etatistischere Kräfte sich nicht zweimal bitten lassen

und die bisher vergleichsweise schlanke und wendige Helvetia

dick und träge machen.»

Verletzter Stolz

Dass liberalen Projekten kein günstigeres Schicksal beschieden war, hat unterschiedliche Gründe. Die Wunden erbitterter Streitigkeiten zwischen der in den 1990er Jahren zur wählerstärksten Partei aufgestiegenen SVP und ihren traditionellen Partnern im «Bürgerblock» sind noch nicht verheilt. Der Konflikt, befeuert vom aggressiven Politikstil der SVP, die für den Wahlerfolg Konkurrenten gerne als «Wischiwaschiparteien» oder «Weichsinnige» verunglimpfte, gipfelte in der Abwahl von zwei Bundesräten 2003 und 2007 – ein Vorgang, der in der von Konkordanz geprägten Schweiz einer offenen Kriegserklärung gleichkommt.

Doch verletzter Stolz und Neid greifen als Erklärung zu kurz. Die Generation von Politikern, die am damaligen Rosenkrieg beteiligt waren, verschwindet nach und nach von der Bildfläche. Seit Jahren beschwören die Parteipräsidenten den «bürgerlichen Schulterschluss». In der Praxis bleiben die Auswirkungen bescheiden. Die Präsidenten von SVP, FDP und CVP einigten sich 2015 beispielsweise auf ein Paket mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu stärken. Von den rund 50 damals anvisierten Massnahmen sind fünf Jahre später weniger als die Hälfte umgesetzt (unter anderem die Korrektur des Finanzdienstleistungsgesetzes oder der Verzicht auf eine Kapitalgewinnsteuer). Andere Ziele wie die Plafonierung des Personalbestandes des Bundes, die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten oder eine Schuldenbremse für die AHV wurden teilweise meilenweit verfehlt, obwohl die drei Parteien in beiden Parlamentskammern über satte Mehrheiten verfügten. Im parlamentarischen Alltag sind hehre Ziele eben schnell vergessen, wenn Interessen – eigene oder solche wichtiger Lobbies – ins Spiel kommen. Dann schmilzt auch der Sparwille schnell dahin. Vor allem aber standen liberalen Lösungen oft auch Parteiinteressen im Weg.

Profilierung über alles

Seit längerer Zeit verlieren traditionelle Parteibindungen an Bedeutung. Neue Kräfte fordern die etablierten heraus. Zugleich ist der Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit intensiver ­geworden. Das alles hat den Druck auf die Parteien erhöht, sich zu profilieren. Kooperation und Kompromisse bringen keine Schlagzeilen, vermeintlicher Mut und Standfestigkeit (vulgo: Sturheit) hingegen schon. So hat die SVP keinerlei Interesse, ihre Fundamentalpositionen in der Migrationspolitik oder beim Rahmenvertrag aufzugeben. Ebenso wird die CVP nie Hand bieten zur Indi­vidualbesteuerung und lanciert lieber eine weitere Heiratsstrafeinitiative, nachdem sie die erste zurückgezogen hat.

In anderen Bereichen ist die Zusammenarbeit dennoch möglich. Doch sie ist heute weder selbstverständlich noch alternativlos. Zwar bilden SVP, FDP und CVP nach wie vor am häufigsten die Mehrheit bei Abstimmungen im Parlament. Doch alle drei Parteien paktieren mehr oder weniger regelmässig mit Parteien links der Mitte. Gemäss einer Auswertung der Plattform Politik.ch stimmten sie lediglich in 38 Prozent aller Abstimmungen erfolgreich geschlossen (wobei es sich bei 10 Prozent um unumstrittene Geschäfte handelte, in denen sich alle Fraktionen von Grünen bis SVP einig waren). In einem Viertel der Fälle hiess die siegreiche Allianz «alle gegen die SVP», in einem weiteren Viertel spannte die CVP mit der linken Ratsseite gegen SVP und FDP zusammen, wobei sich beide Seiten etwa gleich oft durchsetzten. Das Spek­trum der möglichen Koalitionen im Parlament ist breiter geworden – und entsprechend fragil sind sie.

 Neue Gegensätze

Das hat auch damit zu tun, dass der klassische Links-rechts-Gegensatz komplizierter geworden ist. Bürgerliche und Linke unterschieden sich früher in erster Linie in bezug auf die Frage, wie viel Einfluss der Staat auf die Wirtschaft nehmen soll. Hier haben sich die Positionen nicht fundamental verändert. Hingegen ist in der jüngeren Vergangenheit die kulturelle Dimension wichtiger geworden, also der Gegensatz zwischen einer konservativen und einer liberalen Gesellschaftspolitik oder auch zwischen aussenpolitischer Öffnung und nationaler Eigenständigkeit. Für den letzteren Konflikt war die EWR-Abstimmung 1992 prägend. Im Konflikt über die Position der Schweiz in Europa, der seither – mal mit mehr, mal mit weniger Intensität – ausgefochten wird, gingen Freisinn und Christdemokraten wiederholt mit den linken Parteien zusammen.

Solche Allianzen sind weder verboten noch verwerflich. Geht es jedoch darum, liberale Lösungen zu verteidigen oder ihnen zum Durchbruch zu verhelfen, führt kein Weg an einer Zusammenarbeit im bürgerlichen Lager vorbei. Ob diese gelingt, wird in den kommenden Jahren entscheidend sein für die Reformen und Projekte, die etwa bei der Altersvorsorge, beim Klimaschutz anstehen. Oder in der Finanzpolitik, die wegen dem Coronavirus und der Rezession vor Herausforderungen steht wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Gelingt die bürgerliche Zusammenarbeit nicht, werden etatistischere Kräfte sich nicht zweimal bitten ­lassen und die bisher vergleichsweise schlanke und wendige Helvetia dick und träge machen.

Allerdings hat die 50. Legislatur auch gezeigt, dass Wahlen die Richtung der Politik in der Schweiz nicht unabänderlich bestimmen. Die verschobenen Sitzverhältnisse machen aus liberaler Sicht die Konstellationen im Parlament umso entscheidender. Und der Lackmustest ist und bleibt ohnehin der Abstimmungssonntag, und da spielen die Sitzzahlen keine Rolle.

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