Der «Peak West» ist überschritten – die Schweiz muss wieder erwachsen werden
Die Wohlstandsgewinne der Nachkriegszeit haben unsere Gesellschaft satt und realitätsvergessen gemacht. Doch auf dem globalen Pausenplatz werden die Sitten rauer.
Wir leben in der wohlhabendsten Epoche unserer Geschichte – und benehmen uns wie eine überforderte Jugendgruppe ohne Aufsicht. Unsere Gesellschaft ist satt, anspruchsvoll und entfernt sich zunehmend von der Realität. Ein Schweizer Polizeikorps schreibt von «strukturellem Egoismus». Wir streiten über «gendergerechte» Verkehrstafeln, während draussen vor der Tür ein geopolitischer Sturm tobt. Was ist aus der Schweiz und dem Westen geworden, die einst für Freiheit, Eigenverantwortung und Leistung standen?
Der Westen ist bequem und kindlich geworden, süchtig nach Sicherheit und Geborgenheit. Während wir unsere Komfortzonen auspolstern, rüstet sich der Rest der Welt – hungrig, entschlossen. Auf dem Pausenplatz der Weltpolitik werden die Sitten wieder härter.
Streben nach einer besseren Zukunft
Der Westen war lange Zeit wie eine «geschützte Werkstatt» und konnte abgeschirmt durch den Eisernen Vorhang Wohlstand aufbauen. Es galten bürgerliche Tugenden wie Fleiss, Sparsamkeit und Gemeinsinn, die wohl stark durch die Entbehrungen des Zweiten Weltkrieges im Bewusstsein der Bevölkerung verankert waren. Die Schweiz war verschont worden und hatte grosses Glück. Das wussten die Schweizer, weshalb sie den Startvorsprung ab 1945 nutzten, um innovativ zu sein. Die Bevölkerung einte ein gemeinsames Ziel: Wohlstand aufzubauen und sicherzustellen, dass es den Kindern einmal noch besser gehen würde. Es war ein Aufbau unter Unsicherheit. Doch aus Entbehrung wuchs Charakter. Man arbeitete nicht für Likes, sondern für die Zukunft der nächsten Generation.
Im Unterbewusstsein der Schweizer war verankert, dass man sich nicht immer auf Glück und die Unterstützung anderer verlassen kann. Man muss erwachsen sein, auf eigenen Beinen stehen und für sich selbst sorgen können. Die Schweiz war ehrgeizig, wehrhaft und zugleich weltoffen. Sie wurde mehrheitlich von Politikern geführt, die wussten, dass das Land nicht nur Freunde hat. Diese Leute dachten in Szenarien und zeigten eine gewisse Schlitzohrigkeit.
Die Wende
1989 fiel der Eiserne Vorhang. Bis Ende der 1980er-Jahre war der Westen von der Schaffenskraft Asiens und Osteuropas abgeschirmt, da diese Länder dem Sozialismus und Kommunismus huldigten, was sie offensichtlich nicht prosperieren liess.
«Im Unterbewusstsein der Schweizer war verankert, dass man sich nicht immer auf Glück und die Unterstützung anderer verlassen kann. Man muss erwachsen sein, auf eigenen Beinen stehen und für sich selbst sorgen können.»
Die 1990er-Jahre waren die Hochblüte der liberalen Demokratien. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und Chinas Eintritt in die globale Wertschöpfungskette wurde die «Goldilocks»-Zeit Tatsache. Die Industrie lagerte arbeitsintensive Prozesse in den Osten aus. Unsere Produkte wurden dank westlicher Ingenieurskunst und östlichem Fleiss immer besser und tendenziell sogar günstiger. Wir Westler bezahlten westliche Preise für mit östlichen Kosten produzierte Güter. Die Margen weiteten sich aus. Westliche Firmen und Konsumenten strichen die Globalisierungsdividende ein.
Die infantile Gesellschaft
Die Globalisierungsdividende hat dem Westen weiteren Wohlstand gebracht, ihm jedoch in einem gewissen Sinne seinen Ehrgeiz genommen und den Charakter verdorben. Wenn Wohlstand scheinbar mühelos entsteht, ist Hybris die Folge. Die Gesellschaft wird kindlich – kindlich im Sinne von unselbstständig, auf Führung angewiesen, naiv und gutgläubig. Auf dem Pausenplatz der Geopolitik gerät eine solche Gesellschaft zwangsläufig in die Defensive. «Demokratien sind friedenssozialisiert. Sie tun sich schwer mit der Vorstellung, dass es echte Feindschaft, Gemeinheit, sogar Bosheit gibt», sagte die Nato-Wissenschafterin Florence Gaub jüngst in einem Interview mit der NZZ.
Wie konnte es so weit kommen?
Es gibt meiner Ansicht nach einen Kipppunkt, an dem in einer wohlstandsverwöhnten Gesellschaft der politische Wind nach links dreht. Ich nenne ihn «Peak West». Je reicher eine Gesellschaft wird, desto fruchtbarer ist der Boden, auf den gutgemeinte, linke Ideen fallen. Die jeweilige Idee stellt für sich keinen grossen Eingriff in die persönliche Freiheit dar und kann sogar noch gut finanziert werden. Dies ist immer gleichbedeutend mit der Delegation von Eigenverantwortung an den Staat. Eine gutgemeinte, den Einfluss des Staates ausbauende und von bürgerlichen Politikern durchgewunkene Idee nach der anderen höhlt das Fundament des Wohlstands – die erwachsene, selbstverantwortlich handelnde Gesellschaft – weiter aus. Die Verantwortung für das eigene Handeln wird abgegeben an «die anderen», an eine diffuse Wolke namens Staat.
«Wenn Wohlstand scheinbar mühelos entsteht, ist Hybris die Folge. Die Gesellschaft wird kindlich – kindlich im Sinne von unselbstständig, auf Führung angewiesen, naiv und gutgläubig.»
«Peak West» ist keine blosse Metapher, sondern eine messbare Entwicklung – wirtschaftlich, bildungspolitisch, kulturell und moralisch. Westliche Staaten fahren seit Jahren strukturelle Defizite ein. Nicht etwa, weil sie sich in einer Notlage befänden und kriegerische Auseinandersetzungen finanzieren müssten, sondern schlichtweg, weil sie der Bevölkerung immer mehr Mühsal abnehmen und den Sozialstaat ausbauen. Grundsätzlich ist diese Entwicklung auch in der Schweiz zu erkennen. Hier ist es bislang trotz anämischem Wachstum gelungen, Überschüsse zu erzielen. Doch die Schweizer denken leider zu oft relativ. Sie vergleichen sich mit den Nachbarn. Absoluter Abstieg fühlt sich nicht so schlimm an, wenn es dem Nachbarn noch schlechter geht.
Gesellschaftlicher Selbstbetrug
Insgeheim aber spüren auch wir Schweizer, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. «Es hed, solang’s hed», lautet das Motto. Warum verzichten, wenn doch alle auch nehmen? Wir leben in einer Anspruchsgesellschaft, die auf Konsum statt Verantwortung baut. Die 13. AHV-Rente wird eingefordert, nicht verdient. Menschen mit Noise-Cancelling-Kopfhörern leben stumm in ihrer digitalen, kuratierten Komfortzone. Das «Reality-Cancelling» der Social Media hält den wohligen Selbstbetrug noch eine Weile aufrecht. Psychiatrische Diagnosen und Sonderbehandlungen waren einst Stigmata, heute sind sie Erlösungen. Der Staat soll richten, was man selbst verpasst hat. Der Bürger wird zum Konsumenten, die Politik zur Serviceplattform.
Unsere Gesellschaft betrügt sich in immer mehr Lebensbereichen selbst. Social Media, Werbung und Politiker leugnen, dass wir nicht alle gleich leistungsfähig sind, dass wir nicht alle gleich erfolgreich sind und dass wir aber alle altern. Besonders einschneidend ist das Leugnen der Tatsache, dass von nichts nichts kommt.
Der Staat macht es vor. Mit Geld «lösen» Regierungen Probleme, während Zentralbanken seit den 1990er-Jahren rezessive Tendenzen mithilfe der Notenpresse zudecken. Politiker scheuen sich, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken und sie daran zu erinnern, erwachsen zu sein und für sich selber zu sorgen. Wir mutieren zu einer Art potemkinschen Gesellschaft: äusserlich gepflegt, scheinbar stabil, aber von der Substanz zehrend.
«Wir leben in einer Anspruchsgesellschaft, die auf Konsum statt Verantwortung baut.»
Globale Gegenbewegungen
Unser vielgerühmter westlicher Lebensstil wirkt in vielen Teilen der Welt nicht mehr als Vorbild, sondern arrogant und abgehoben. Unsere Sorgen und Ängste, der linke, westliche «Opferkult», in welchem wir alle irgendwie Opfer von Unterdrückung und Diskriminierung sind und deshalb unterstützt werden müssen, wirken für die Globalisierungsverlierer wie Hohn.
Dem Rest der Welt, Staaten wie China oder Russland, ist der Reifeverlust des Westens nicht entgangen. In ihrer – falschen – Wahrnehmung ist wirtschaftliche Entwicklung ein Nullsummenspiel: Wenn einer gewinnt, muss ein anderer verlieren. Er ist tendenziell jung, hungrig, wach und er hat eine hohe Motivation, die ihn antreibt, die Überlegenheit des Westens Lügen zu strafen.
Die Gegenbewegung kommt nicht nur aus dem gekränkten «Nichtwesten». Donald Trump hat in den USA die Gefühlslage in grossen Teilen der Bevölkerung aufgegriffen, und er scheut sich nicht, in vielen Bereichen eine Korrektur einzuleiten. Brachial, chaotisch, die diplomatischen Gepflogenheiten mit Füssen tretend, aber entschlossen und zielgerichtet. Er ist der erste westliche Staatschef, der die oben genannten Probleme anpackt und zu korrigieren versucht. Doch auch seine Wirtschaftspolitik läuft auf Pump.
Die Verlierer der Globalisierung begehren auf. Da es auch bei vermeintlichen Freunden der Schweiz viele Wähler gibt, die sich als Globalisierungsverlierer sehen, stehen die dortigen Politiker unter Druck, sich für sie einzusetzen. Die Folge ist, dass auf dem Pausenplatz der Geopolitik wieder das Recht des Stärkeren gilt. Gegenüber der Schweiz haben mit der Kraftmeierei nicht die USA begonnen, sondern die EU. Im Juli 2019 setzte sie die Börsenäquivalenz aus, weil die Schweiz die damalige Frist für das «Rahmenabkommen» hatte verstreichen lassen.
Strategie für den globalen Pausenplatz
Die Schweiz muss zu den Erwachsenen auf dem geopolitischen Pausenplatz gehören.
Es gibt kein Patentrezept, um in dieser neuen, multipolaren Welt zu bestehen. Aber es gibt Prinzipien.
- Wehrhaftigkeit
Sicherheit ist die Voraussetzung von Freiheit und Wohlstand. Ein Land, das sich nicht verteidigen kann, wird entweder irrelevant oder fremdbestimmt. Die Schweiz braucht eine glaubwürdige Landesverteidigung, moderne Cyberresilienz und funktionierende Nachrichtendienste. Nicht als Aggressor, sondern als ernst zu nehmender Akteur.
- Strategische Autonomie
Energie, Daten, Rohstoffe: Wer in kritischen Bereichen abhängig ist, wird erpressbar. Die Schweiz muss ihre Versorgungssicherheit sichern – nicht mit Symbolpolitik, sondern mit Realitätssinn. Souveränität heisst, im Ernstfall selbstständig überleben zu können.
- Fähigkeiten, nicht «Kompetenzen»
Bildung ist die wichtigste Ressource für die Schweiz. Wir brauchen keine überladene, «kompetenzorientierte Schule», sondern eine ernsthafte Bildung: Wissen, Können, Urteilsfähigkeit, Problemlösungskompetenz. Innovation entsteht nicht aus Buzzwords, sondern aus Substanz. Technik ist ein Hilfsmittel, nicht der Ersatz für Denken.
- Selektive Migration
Wir brauchen nicht einfach Wachstum in die Breite, sondern in die Tiefe. Die Schweiz ist in vielen Bereichen auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Ein offenes Land ist aber kein bedingungslos offenes Land. Die Schweiz ist ein souveräner Staat, der auf seine eigene Art und Weise den Erfolg sucht. Die Immigration muss deshalb gezielter und selektiver werden.
Zu guter Letzt noch ein (frommer) Wunsch: Die Schweiz muss wieder im ursprünglichen, staatspolitischen Sinn liberal werden: mit dem Primat des Individuums vor dem Staat. Selbstverantwortliche Bürgerinnen und Bürger machen eine Gesellschaft erwachsen.