
Der Pandemiepakt unter der Lupe
Der Vertragsentwurf ist von einem technokratischen Geist durchdrungen und darauf angelegt, den Krisenmodus zu perpetuieren. Er wird das Wachstum der Gesundheitsbürokratie beschleunigen und ist deshalb abzulehnen.
Den Startschuss feuerte Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, auf dem Pariser Friedensforum im November 2020 ab, als er dazu aufrief, «weitere Schritte zu unternehmen und die Lehren aus der Pandemie zu ziehen». Es sei entscheidend, schneller und koordinierter handeln zu können, für medizinische Ausrüstung zu sorgen und Informationen sehr schnell auszutauschen, um die Bürger zu schützen. Ein gutes Jahr später beschlossen die 194 Mitglieder der Weltgesundheitsorganisation WHO an einer Sondertagung der Weltgesundheitsversammlung, eine internationale Vereinbarung zur Pandemieprävention, -vorsorge und -reaktion auszuarbeiten.
Der Weg zum Pakt
Sie setzten dafür den Intergovernmental Negotiating Body (INB) ein, ein eigenes Gremium, das sich seither mehrfach getroffen und Vertragsentwürfe verfasst hat. Die aktuellste Fassung des (nicht auf Deutsch verfügbaren) Werks trägt den sperrigen Titel «Bureau’s Text of the WHO Convention, Agreement or other International Instrument on Pandemic Prevention, Preparedness and Response (WHO CA+)», erstreckt sich über 43 Seiten und datiert vom 2. Juni 2023.1 In der Zwischenzeit fanden weitere Treffen des INB statt, das jüngste Anfang September, bei dem bekannt wurde, dass das Bureau (Ausschuss) dem INB bis Mitte Oktober einen überarbeiteten Entwurf vorlegen soll. Am 20. September bekräftigte das oberste Gremium der Völkergemeinschaft, die UNO-Generalversammlung, ihren Willen, Pandemien künftig koordiniert auf internationaler Ebene zu bekämpfen, und unterstrich die Bedeutung ihrer Sonderorganisation WHO und des Abkommens.2 Vorgesehen ist, dass es im Mai 2024 von der Weltgesundheitsversammlung verabschiedet wird – die Vertragsstaaten haben danach 18 Monate Zeit, das Abkommen gemäss nationalem Recht zu ratifizieren. Parallel dazu läuft die Revision der Internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations 2005), die ebenfalls im Mai 2024 von der Weltgesundheitsversammlung abgesegnet werden soll.
In der öffentlichen Diskussion steht heute der Pandemiepakt im Zentrum. Dass er die Gemüter derart erregt, mag erstaunen. Erstens dürfte das Ziel, sich auch auf internationaler Ebene besser gegen eine Pandemie zu wappnen, Massnahmen zu koordinieren und wissenschaftliche Erkenntnisse auszutauschen und damit Leben zu retten, wenig umstritten sein. Zweitens liegt erst ein Entwurf und noch kein definitiver Vertragstext vor. Hinzu kommt, dass bei vielen Artikeln «Optionen» vorgeschlagen werden, also inhaltlich oft stark variierende Versionen. Auffällig sind auch die zahlreichen Einschübe und Relativierungen wie «wo möglich» und besonders «in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht», «… den Mitteln der Vertragspartei» und «… dem nationalen Kontext», was zu Interpretationen einlädt, wie bindend die Bestimmungen denn nun effektiv sein werden. Aber weil der Zeitplan so eng gesetzt wurde, lohnt es doch, sich heute schon mit dem Abkommen auseinanderzusetzen.
Der Kampf um Begriffe
Der Pandemiepakt umfasst drei Kapitel. Im ersten Kapitel werden Begriffe definiert, Ziel und Zweck vorgestellt sowie generelle Prinzipien und Ansätze dargelegt. Dass Begriffe zu Beginn geklärt werden, ist richtig, doch kann dadurch auch ein Framing betrieben werden. So wird beispielsweise «Infodemie» definiert als «zu viel Information, einschliesslich falscher und irreführender Information während eines Krankheitsausbruchs», die Verwirrung und gesundheitsschädigendes Verhalten hervorrufe – und ausserdem zu Misstrauen gegenüber den Gesundheitsbehörden führe (Artikel 1). Offenbar wurde aus der Coronakrise (wo es laut WHO zu einem «katastrophalen Versagen der internationalen Gemeinschaft beim Zeigen von Solidarität und Gleichheit» gekommen ist) die Lehre gezogen, dass Falschinformationen (natürlich nicht von Behördenseite) ein grosses Problem für die Bewältigung einer Pandemie seien. Die Vertragsparteien wollen eine Infodemie unter anderem «mit regelmässigen Analysen und Konsultationen mit den Medien» bekämpfen, eine Formulierung, die Verfechter der Pressefreiheit alarmieren muss (Artikel 18).
«Offenbar wurde aus der Coronakrise die Lehre gezogen, dass
Falschinformationen (natürlich nicht von Behördenseite)
ein grosses Problem für die Bewältigung einer Pandemie seien.»
Ambitioniert sind die Definitionen des «Eine-Gesundheit-Ansatzes» (One Health Approach) und der «weltweiten Gesundheitsabdeckung» (Universal Health Coverage). Es wird darin etwa «anerkannt, dass…

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Dieser Artikel ist in Sonderpublikation 45 – November 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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