Der Nihilismus frisst sich durch
In den westlichen Gesellschaften erodieren die Werte, vor allem aber der Glaube daran. Das betrifft nicht nur die Religion.

«Bloquons tout» – unter diesem Motto hat in Frankreich eine sehr heterogene Bewegung für den 10. September zu landesweiten Streiks und Protesten aufgerufen. Vordergründig richtet sich die Aktion gegen die Sparmassnahmen der Regierung. Aber es scheint um mehr zu gehen. Einige der Organisatoren sind Vertreter der «Gilets jaunes», die 2018 gegen höhere Benzinpreise auf die Strasse gegangen waren. Sie verbünden sich mit Linksradikalen, die den Aufruf, «alles zu blockieren», als Zeichen gegen die kapitalistische Konsumgesellschaft sehen. Die Protestierenden haben kein gemeinsames Ziel, keine klaren Prinzipien, an denen sie sich orientieren. Im Fokus steht die Blockade, die Destruktion.
Die heterogene Bewegung steht damit sinnbildlich für eine Tendenz in westlichen Gesellschaften des Anything goes. Wir haben aufgehört, an Werte zu glauben, und denken, dass eigentlich alles möglich sei. Die Beliebigkeit betrifft nicht nur die Religion, sondern generell alle Werte. Die Entwicklung zeigt sich in verschiedenen Bereichen.
- Gesellschaft: Mit der Individualisierung der Gesellschaft, die an sich eine grossartige Entwicklung ist, geht auch ein abnehmender Gemeinsinn einher. Die Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, schwindet. Man sieht das etwa an der zunehmenden Mühe von Gemeinden oder Vereinen, Milizämter oder freiwillige Ämter zu besetzen. Aber auch an alltäglichen Dingen wie Abfall, der liegen bleibt, alten Menschen, die vereinsamen, oder Leuten, die im Zug gedankenlos mit Lautsprechern telefonieren oder Musik hören. Anstand ist auf dem Rückzug, aber auch Zivilcourage, Gerechtigkeitssinn, Grossmut – und auch echte Solidarität, die zwar gerne propagiert wird, aber nur immer, solange sie einen nichts kostet.
- Spiritualität: Die abnehmende Religiosität mag eine der Folgen der Individualisierung der Gesellschaft sein. Dass weniger Menschen religiös sind, bedeutet aber nicht, dass sich das Bedürfnis nach Spiritualität aufgelöst hätte. In die entstandene Lücke sind zahlreiche Ersatzreligionen gesprungen: politische Ideologien, kulturelle Gruppen, die sich über den gleichen Musik- oder Modegeschmack definieren, Gruppen mit gleichen Hobbys, Herkunft etc.
- Wirtschaft: Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von einer extrem expansiven Geldpolitik, begleitet von einer extrem expansiven Fiskalpolitik. Durch die Inflation wird das staatliche Monopolgeld schleichend entwertet. Assets wie Immobilien werden immer teurer und rücken damit für Junge zunehmend ausser Reichweite. Die Folge davon ist, dass die junge Generation das Vertrauen in diese Werte verliert. Das Phänomen des finanziellen Nihilismus zeigt sich etwa in Spekulationsblasen wie Kryptoprojekten, Memecoins oder «Wall Street Bets». Die jungen Anleger setzen auch deshalb auf Assets ohne zugrunde liegenden Wert, weil sie den Glauben daran verloren haben, dass das Finanz- und Wirtschaftssystem überhaupt etwas von Wert hervorbringen kann.
- Schulden: Dass das System für die Jungen nicht mehr funktioniert, liegt auch daran, dass der Staat auf ihre Kosten immer mehr Geld ausgibt und immer mehr Schulden anhäuft. Die gegenwärtigen Schuldenstände sind ohne Beispiel in Friedenszeiten. Selbst die als so vorsichtig und gewissenhaft bekannte Schweiz leistet sich ein Rentensystem, das in verantwortungsloser Weise Lasten auf die künftigen Generationen verschiebt. Wer als junger Mensch diesem frivolen Treiben zusieht, verliert leicht das Vertrauen darauf, dass sich ehrliche Arbeit und Sparen lohnen.
- Politik: Die Protestierenden in Frankreich, die «alles blockieren» wollen, die Anhänger der Klimabewegung, Corona-Massnahmenkritiker oder Bitcoiner: Sie alle eint, dass sie das Vertrauen ins politische System, ins «Establishment» so vollständig verloren haben, dass sie den Sturz desselben als einzige Lösung sehen. Dass das marode Kartenhaus endlich in sich zusammenfällt, scheint wichtiger als die Frage, was es ersetzen könnte. Diese Haltung ist laut dem Autor und ehemaligen CIA-Analysten Martin Gurri die Definition von Nihilismus. Sicherlich hat auch der Wandel des Mediensystems eine Rolle gespielt dafür, dass solche Bewegungen Erfolge feiern. Die Verlagerung der Debatten auf digitale Plattformen geht einher mit einer zunehmenden Verbissenheit und einer abnehmenden Bereitschaft zum Kompromiss. Aber wer keine festen Werte hat, an denen sie oder er sich orientieren kann, lässt sich eher in solche destruktiven Spiele hineinziehen.
Nihilismus bedeutet nicht nur, an nichts zu glauben. Er bedeutet auch, dass alles gleichgültig wird. Wer keine Werte anerkennt, dem bleibt nur die Zerstörung oder die Flucht in Traumwelten.
Es lohnt sich jedoch, den Nihilismus nicht einfach hinzunehmen und zu akzeptieren, sondern ihm etwas entgegenzustellen: Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Verantwortung, Mitgefühl, Zivilcourage, Wahrheit. Der Vorteil von Werten ist, dass sie einem Halt, Orientierung und damit auch eine gewisse Gelassenheit geben. Das scheinen derzeit viele Leute dringend nötig zu haben.