Der New Deal liegt in Scherben
Er ist das Losungswort der Stunde. Und das Schlagwort, das heute staatliche Interventionen rechtfertigt: «New Deal». Aber waren die Massnahmen der 1930er Jahre in den USA wirklich ein Erfolg? Ein Blick in die historische Forschung.
Der New Deal – das war ein Bündel von Wirtschafts- und Sozialmassnahmen in den USA der 1930er Jahre. Mit jedem neuen Konjunkturprogramm, das heute mit ihm begründet wird, nistet sich der Mythos eines erfolgreichen New Deal fester ins kollektive Bewusstsein ein. Die USA sollen sich, so wird erzählt, dank starken staatlichen Interventionen in Arbeitsmarkt und Gesellschaft aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre befreit haben.
In der gegenwärtigen Ratlosigkeit wird der New Deal zum dankbar ergriffenen Strohhalm der Hoffnung. Über Jahrzehnte das Spezialgebiet von Wirtschaftshistorikern, sind die vermeintlichen Erfahrungen aus den 1930er Jahren über Nacht zur täglichen Referenz für Bankenrettungs- und Konjunkturprogramme weltweit geworden.
Beim New Deal geht es um die Frage aller ökonomischen Fragen: diejenige nach dem Funktionieren des Marktes. War die US-Wirtschaft Anfang der 1930er Jahre in einer aussichtslosen Spirale gefangen, aus der sie sich selbst nicht mehr befreien konnte und eben des Staatseingriffs bedurfte? Oder brauchte der Markt seine Zeit, um falsche Entscheidungen zu korrigieren, und wurde durch den New Deal eher gestört?
Der New Deal war neben dem «Wirtschaftswunder» der Nazis die radikale Antwort auf die Great Depression. Er warf vieles über den Haufen, was bis dahin common sense war. Und er ist der defining moment der amerikanischen Linken. Sein Erfinder, der 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Franklin Delano Roosevelt, gilt den meisten seiner Landsleute bis heute als wichtigster Präsident des 20. Jahrhunderts.
Dabei geraten Wunsch und Wirklichkeit leicht durcheinander. «Das Urteil der Fachwelt hat mit dem der Öffentlichkeit relativ wenig zu tun», hält der renommierte Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl von der London School of Economics (LSE) fest. «Und dieses Urteil der Fachwelt ist im Laufe der Jahrzehnte immer skeptischer geworden.»
Die Mehrheit der Wirtschaftshistoriker sieht den New Deal heute in der Tat kritisch. Er bedeutete vor allem eine Vielzahl massiver Staatseingriffe, die per saldo der wirtschaftlichen Erholung eher geschadet als genützt haben. «Der New Deal hat das Ende der Depression um sieben Jahre hinausgezögert», schliessen die Wirtschaftshistoriker Harold Cole von der Universität Pennsylvania und Lee Ohanian von der Universität Los Angeles in einem Beitrag für das Wall Street Journal («How Government Prolonged the Depression», 2. Februar 2009).
Der Schlüssel zum Verständnis des New Deal ist das Jahr 1937, die «Rezession in der Depression». Keynesianer wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman müssen hier so argumentieren: der New Deal sei eben nicht konsequent genug gewesen. Die Roosevelt-Administration sei zu früh zu restriktiver Haushaltspolitik zurückgekehrt – was den gerade einsetzenden Aufschwung wieder abwürgte. Tatsächlich hat Roosevelt 1937 die Steuern auf einbehaltene Gewinne erhöht und Sozialversicherungssteuern eingeführt. Entgegen Krugmans Behauptung ist Roosevelt in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre politisch nach links gerutscht und nicht etwa konservativer geworden.
Nach Ansicht von Fachhistorikern ist die entscheidende Ursache für den Rückfall – neben einer allzurestriktiven Geldpolitik der US-Notenbank – woanders zu suchen. Das Gewerkschaftsgesetz von 1935 gab den Gewerkschaften eine neue, ungeahnte Marktmacht und liess die Löhne spürbar steigen. Nach Schätzungen von Cole und Ohanian dürften mit der plötzlich erstarkten Marktmacht der Gewerkschaften die Löhne um etwa einen Viertel über das gestiegen sein, was dem Marktniveau entsprochen hätte. «Die Löhne in den wichtigsten Industriebranchen kletterten zwischen Januar und Juli 1937 um 11,4 Prozent», schreibt Gene Smiley in seinem Buch «Rethinking the Great Depression» (2003). Die Löhne stiegen rasch – ohne dass Produktivität oder Absatz mithalten konnten. «Die meisten Unternehmen reagierten mit dem Abbau von Produktion und Beschäftigung», so Smiley.
Das Gesetz «war ein Signal für die Gewerkschaften, ihre Mitgliederschaft und ihre aggressiven Verhandlungstaktiken zu erweitern», so Charles Kindleberger in «Die Weltwirtschaftkrise». Sie hätten damit bei den Unternehmern Befürchtungen einer Lohninflation geweckt. «Die Rezession in der Depression war nicht das Ergebnis einer Umkehr der Richtung des New Deal, wie einige behaupten, sondern eher die Folge einer Vertiefung des New Deal», folgern Cole und Ohanian im Wall Street Journal.
Der eigentliche Irrtum Roosevelts war: er hielt fallende Preise für das Grundübel – statt für ein Symptom. Roosevelt glaubte, ruinöser Wettbewerb sei verantwortlich für die Depression, weil er Löhne und Preise nach unten drücke. Entsprechend war er bemüht, Löhne und Preise zu stabilisieren und setzte alles daran, dass sie wieder stiegen. «Der New Deal erhöhte Löhne und Preise über ihr Wettbewerbsniveau und verhinderte damit, dass die Kräfte von Angebot und Nachfrage ihre Wirkung entfalten konnten», schreiben Cole und Ohanian. Erst wenn in der Rezession Preise und Löhne entsprechend gefallen sind, ziehen die Investitionen wieder an. Mit seiner Ansicht, sinkende Löhne und Preise seien das Hauptübel, unterschied sich Roosevelt im übrigen nicht von seinem Vorgänger Herbert Hoover.
Nicht einmal als Beleg dafür, dass Fiskalpolitik in der Rezession hilft, kann der New Deal herhalten. «Zieht man bei der Fiskalpolitik die automatischen Stabilisatoren ab, ist das Ergebnis sehr ernüchternd», meint LSE-Historiker
Ritschl. «Selbst aus keynesianischer Sicht hat der New Deal kaum etwas geleistet.» Die Fiskalpolitik spielte in der Erholung in den USA bis zum Jahr 1942 fast keine Rolle, schreibt auch Christina Romer in ihrem einflussreichen Artikel von 1992 «What Ended the Great Depression?».
Die Grosse Depression dauerte in den USA deutlich länger als in allen europäischen Staaten. Und die Verantwortung dafür dürfte bei Roosevelt selbst liegen. Das entscheidende Problem war, dass er die privaten Investoren in extremer Weise verunsicherte. Im Kampf gegen die Deflation griffen er und seine Berater zu unorthodoxen Aktionen, die nicht nur den Wettbewerb in vielen Wirtschaftssektoren ausser Kraft setzten und die freie Preisbildung unmöglich machten. In den 1930er Jahren, in Zeiten, in denen
Mussolini, Hitler und auch Stalin weltweit Propagandaerfolge erzielten, konnten private Investoren nicht sicher sein, dass nicht auch Amerika auf dem Weg in die Staatswirtschaft war. Historiker bezeichnen das Phänomen heute als regime uncertainty: Unternehmer mussten grundsätzlich daran zweifeln, dass die Regierung ihre Eigentumsrechte in jedem Fall respektieren würde. Ihre Rechte drohten im Machtkampf zwischen der Administration und dem Supreme Court unter die Räder zu kommen.
Tatsächlich setzte der National Industrial Recovery Act NIRA von 1933 die bestehenden Anti-Kartellgesetze ausser Kraft und erlaubte es jeder Branche, sich selbst zunftähnliche Regeln zu setzen: Preise, Löhne und Arbeitsbedingungen wurden für ganze Branchen festgeschrieben. Die National Recovery Administration (NRA) leistete so einer umfassenden Kartellierung der gesamten US-Wirtschaft Vorschub. Der Verkauf unterhalb dieser festgesetzten Preise wurde verboten. Es kam einer Einladung an die Grossindustrie gleich, sich selbst ihr genehme Preise zu setzen und damit unliebsame Konkurrenz auszuschalten. Kleinbetriebe waren oft nicht in der Lage, diese Bedingungen zu erfüllen und mussten dann empfindliche Strafen, bis hin zu Gefängnis, befürchten.
Durch die Presse ging damals der Fall eines Schneiders, der wegen zu billigen Bügelns von Anzügen verhaftet wurde. Berühmt ist der Fall der New Yorker Schechter-Brüder, den Amity Shlaes in ihrem Buch «The Forgotten Man» (2008) plastisch erzählt. Die Schechter-Brüder waren Geflügelgrosshändler und versorgten die Juden Brooklyns mit koscherem Geflügelfleisch. Die Regierungsinspektoren warfen ihnen 1934 vor, nicht nur gegen Gesundheitsvorschriften zu verstossen, sondern auch die Preise der Konkurrenz zu unterbieten und den Kunden vor dem Schlachten die Wahl des Huhns zu lassen, was den Vorschriften der NRA widersprach. Das Urteil des Supreme Court 1935 zugunsten der Schechter-Brüder war einer der schlimmsten innenpolitischen Rückschläge für Roosevelt.
Während der gesamten Zeit des New Deal blieben die privaten Investitionen zurück und erklären die extrem schwache und langsame wirtschaftliche Erholung. So erreichte etwa die Bauwirtschaft erst 1951 wieder das Niveau von 1929. «Der New Deal liegt in Scherben», resümiert Wirtschaftshistoriker Ritschl.
Die Jahre nach 1929 ähneln der Gegenwart darin, dass unternehmerfreundliche Politik einen Rückschlag erleidet, weil die Schuld an der Krise allein den privatwirtschaftlichen Akteuren – v.a. den Investoren und Banken – zur Last gelegt und auf eine zu laxe Regulierung zurückgeführt wird. Das Risiko eines übertriebenen Rückschlags ist heute so hoch wie damals – weil ein wirtschaftlicher Misserfolg immer dem angeblich freien Markt in die Schuhe geschoben werden kann, der die Krise verursacht haben soll. Es scheint, dass wir nicht viel aus der Wirtschaftsgeschichte gelernt haben.
Hubert Beyerle, geboren 1970, ist Ökonom und freier Autor.