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Der neue Sonderbund
Thomas Cottier, zvg.

Der neue Sonderbund

So wie die katholischen Kantone sich der Bundesstaatsgründung widersetzten, stellen sich konservative Kreise heute gegen die Integration der Schweiz in ein föderales Europa. Sie können nicht nachhaltig erfolgreich sein.

I. Der Sonderbund von 1845

Am 11. Dezember 1845 schlossen sieben katholische Orte der Eidgenossenschaft mit Unterstützung der Habsburger Monarchie einen Schutzvertrag ab, der als Sonderbund in die Geschichte einging. Die katholischen Orte versuchten unter der Schirmherrschaft Habsburgs die Restauration zu verteidigen, um damit die alte, nach den Napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress unter dem Bundesvertrag von 1815 wiederhergestellte ständestaatliche Ordnung zu wahren. Die Grundsätze des Liberalismus, insbesondere der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen unter dem Titel der Handels- und Gewerbefreiheit und der Niederlassungsfreiheit, gefährdeten bestehende wirtschaftliche Vorrechte und Privilegien, namentlich die Kontrolle der Handelswege und die Reisläuferei als Dienstleistungshandel in Europa. Dies alles unter dem Titel der absoluten kantonalen Souveränität.

Die militärische Aufrüstung der Sonderbundskantone und ihre Einheit wurden seitens der regenerierten Orte als Bedrohung wahrgenommen, vor allen von Bern und Zürich. Sie führten den kurzen, erfolgreichen Sonderbundskrieg. Der Sieg war keineswegs gewiss. Erst die Kriegsanstrengung schuf die erforderliche Einheit der liberal regierten Kantone. Der Krieg machte den Weg frei für die Aushandlung und Annahme der neuen Bundesverfassung vom 12. September 1848, die auf den liberalen Grundsätzen der Handels- und Gewerbefreiheit, der freien Niederlassung für Angehörige der christlichen Religion (damals noch unter Ausschluss der Juden), der Zentralisierung von Armee und Aussenhandelsrecht beruhte und bis heute das schweizerische Verfassungsrecht prägt. Vor allem wurde das amerikanische Modell des Zweikammersystems übernommen. Das war der grosse historische Verfassungskompromiss zwischen den Radikalen, die einen Einheitsstaat wollten, und den geschlagenen Sonderbundskantonen, die es einzubinden und nicht zu unterwerfen galt.

Ein Sieg des Sonderbundes 1847 hätte zur Fortsetzung des Partikularismus und wohl zur Aufteilung der Schweiz unter den europäischen Mächten geführt und damit zu ihrem Ende. Weder wäre die Schweiz für das Zeitalter der Industrialisierung und wachsender Märkte noch für das Zeitalter mechanisierter Kriegsführung gewappnet gewesen. Die Schweiz hätte sich nicht zu behaupten vermocht und ihre Freiheit und Unabhängigkeit ohne Bundesstaat verloren.

II. Parallelen zur Gegenwart

Die heutige Debatte um die Integration der Schweiz in die Europäische Union und Nato weist hierzulande wichtige Parallelen zur Gründungszeit des Bundesstaates von 1848 auf. Erneut geht es um die Frage der Souveränität. Diesmal nicht mehr um die Souveränität der Kantone, sondern die Souveränität der Schweiz in ihrem Verhältnis zum neuen Bund in Europa, der EU. Die Befindlichkeit ist dieselbe wie vor bald 180 Jahren: Wer damals die absolute kantonale Souveränität verteidigte, verteidigt heute resolut und absolut die eidgenössische Souveränität. Erneut geht es um die Frage des historischen Kompromisses. Diesmal nicht um das Zweikammersystem der Schweiz, sondern um die Integration der Schweiz in die EU. Ein innenpolitischer Kompromiss zwischen Anhängern der EU-Integration und ihren Gegnern, zwischen geteilter, kooperativer Souveränität und absoluter nationaler Souveränität besteht bis heute nicht. Stattdessen vertieft sich der Graben zwischen urbanen Zentren und der ländlichen Schweiz und führt immer wieder zu Spannungen im Interessenausgleich.

Die Bewahrung der nationalen Souveränität ist der gemeinsame Nenner dessen, was ich als Metapher den von Christoph Blocher gegründeten «neuen Sonderbund» nennen will. Dazu gehören heute die SVP, Pro Schweiz (bestehend aus drei früheren Vereinen AUNS, «Nein zum schleichenden EU-Beitritt» und «Unternehmer-Vereinigung gegen den EU-Beitritt») sowie Autonomiesuisse und Kompass Europa. Als stiller Partner muss auch der Schweizerische Bauernverband angefügt werden, der sich gegen jede Liberalisierung des Agrarsektors wehrt. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund ist ein zugewandter Ort und setzt den nationalen Lohnschutz und Eigeninteressen über die Integration der Schweiz in Europa.

Gewiss, ein förmlicher Bund liegt nicht vor. Weder sind die Kantone in diesen Bestrebungen involviert noch beschränkt er sich auf die Innerschweiz. Es handelt sich neben der SVP als Bundesratspartei um nichtgouvernementale, private und teilweise finanzkräftige Organisationen und Unternehmer. Darüber hinaus ziehen sich die Gegner der Integration der Schweiz in Europa weit hinein in die Mitte, in liberale Kreise wie auch in die Sozialdemokratie, die in dieser Frage mehrheitlich den strukturkonservativen Gewerkschaften folgt.

Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der beiden Epochen lassen sich nicht vergleichen. Die Schweiz ist nicht mehr arm und ein Auswanderungsland, sondern reich und ein Einwanderungsland. Die seit jeher starke wirtschaftliche Verflechtung mit den europäischen Nachbarn hat weiter zugenommen hin zum Europäischen Wirtschaftsraum von EU und Efta als dem eigentlichen Heimmarkt der Schweiz.

Gleichwohl sind die Parallelen frappant. Die den neuen Sonderbund konstituierende Thematik der nationalen Souveränität prägt die Debatte in der Schweiz seit den Verhandlungen zu einer Assoziierung 1961, zum Freihandelsabkommen von 1972, über die 1992 knapp abgelehnte Vorlage zum EWR, den Bilateralen I (1999) und II (2004) sowie heute den Bilateralen III. Die Gegner der Integration der Schweiz in Europa bilden eine breite Allianz und nehmen im Grundsatz den gleichen Standpunkt ein wie damals die Sonderbundskantone gegenüber der Bundesverfassung, die sie heute verteidigen. Sie sind überzeugt, dass die Wohlfahrt der Schweiz, ihre Wirtschaft und Vorrechte am besten durch die nationale Souveränität und Unabhängigkeit im Rahmen der geltenden Bundesverfassung gewährleistet werden können.

«Die Gegner der Integration der Schweiz in Europa bilden eine breite

Allianz und nehmen im Grundsatz den gleichen Standpunkt ein wie

damals die Sonderbundskantone gegenüber der Bundesverfassung, die sie heute verteidigen.»

Was passiert, wenn sich der finanzstarke neue Sonderbund durchsetzt und siegt? Wird die Schweiz gleich wie mit einem Sieg des Sonderbundes 1847 untergehen, oder wird sie umgekehrt prosperieren? Wir wissen es nicht. Sicher ist, dass es eine Schweiz ohne politische Heimat in Europa sein wird.

III. Notwendige Weitsicht

In der globalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie gehört die Schweiz mittelfristig in einen europäischen, föderalen Bund. Sie muss sich vermehrt im transnationalen, demokratischen Föderalismus engagieren und Farbe zum europäischen Projekt bekennen. Sie muss diesen mit all ihrer Kraft stärken – in ureigenem Interesse ihrer Bevölkerung und der Bewahrung ihrer direkten Demokratie. Denn erstens wird die Existenz der Demokratie vom westlichen Bündnis abhängen und kann im Alleingang nicht verteidigt werden. Und zweitens ist direkte Demokratie auch innerhalb der EU weitgehend möglich, so wie sie auch heute in Kantonen und Gemeinden lebhaft ist. Die Strukturen der EU mit ihrem Zweikammersystem und den enumerierten Kompetenzen und einer Kollegialbehörde an der Spitze sind mit der Struktur der Bundesverfassung kompatibel. Sie reiht sich ein in ein System der Mehrebenenregierung (multi-level governance) mit geteilter Souveränität, wie sie die Schweiz mit ihren drei Stufen von Gemeinde, Kanton und Bund prägt.

Dieses System schützt die lokale und kantonale Autonomie und lässt weiterhin die direkte Demokratie auch gegenüber umsetzungsbedürftigen Akten der EU (Richtlinien) zu, die das Recht weitgehend bestimmen. Und wo das EU-Recht unmittelbar greift und die direkte Demokratie im Interesse des Binnenmarktes und morgen auch der europäischen Sicherheit einschränkt, betrifft dies in aller Regel Kompetenzen des Bundes. Sie rechtfertigen sich durch das strategische Ziel, die Demokratie überhaupt und erfolgreich gegen die Autokratie angesichts der zunehmend brüchigen Weltordnung zu verteidigen. Sie werden durch Mitsprache und Mitbestimmung auf der europäischen Ebene kompensiert.

Die Integration kann dabei durchaus schrittweise auf dem bilateralen Weg erfolgen, aber das Ziel muss verfassungsrechtlich klar definiert werden, ohne den Beitritt zu EU und Nato auszuschliessen. Der Bund bekennt sich in der Verfassung zur europäischen Integration, belässt aber die Entscheidung über Zeit, Mittel und Wege dazu dem demokratischen Prozess. Der neue Sonderbund gibt dabei im Gegenzug seine Fundamentalopposition auf. Darin liegt der neue historische Verfassungskompromiss für das 21. Jahrhundert.

Wer weiterhin mit dem neuen Sonderbund daran festhält, die Regierung könne das Land durch Rekurs auf eine absolute Souveränität des Bundes und seine Neutralität abseits der EU und der Nato beschützen und behaupten, muss die Lehren und Erfahrungen aus der Gründerzeit der Schweiz bedenken. Bald 180 Jahre nach der Gründung des Bundesstaates bleiben die Grundfragen die gleichen. Die Hoffnung besteht, dass der Streit in der Eidgenossenschaft heute friedlich und wie damals nach dem Sonderbundskrieg mit einem neuen Verfassungskompromiss im Einvernehmen gelöst werden kann. Die Schweiz könnte dann endlich pragmatisch und vernünftig ihren festen Weg und Platz in Europa mit Blick in die Zukunft und nicht mehr rückwärtsgewandt finden.

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