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Der neue (Neo-)Liberalismus

Wie kann man die fehlende Unterstützung für die Wirtschaftsfreiheit und den segensreichen, mit Augenmass geführten Wettbewerb wiederherstellen? Das ist die Frage. Thomas Straubhaar liefert drei Vorschläge.

Seit Monaten hält die Griechenlandkrise Europa in Atem. Vordergründig geht es um den Konflikt, ob ein staatsbankrottes Griechenland Mitglied der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bleiben kann oder ob es zu einem Grexit, einem Austritt aus dem Euroverbund, kommen muss. Im Hintergrund aber tobt ein Kampf der Systeme. Er hat sich in Griechenland entzündet, kann sich jedoch jederzeit zu einem Flächenbrand in Europa ausweiten. Es geht um die Zukunft des freiheitlichen, marktwirtschaftlichen, offenen und aufgeklärten Wirtschaftsmodells, das dem europäischen Integrationsprozess der Nachkriegszeit Pate gestanden hat. Es wird von seinen Feinden als «neoliberal» negativ gebrandmarkt. Damit wollen sie anprangern, dass Selbstverantwortung und Wettbewerb zu Ungleichheit führe. So wie es in Griechenland geschehe. Für Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit sei das neoliberale Europa verantwortlich. Deshalb kämpfen Syriza in Athen oder Podemos in Spanien für ein neues, sozialistisches und scheinbar gerechteres Europa.

Was «Neoliberalismus» meint und was er will, bleibt oft – manchmal bewusst – unverstanden und wird häufig vorsätzlich missverstanden. Mit Absicht missbrauchen die Gegner den «Neoliberalismus» als Kampfbegriff, der für alles Schlechte dieser Welt von Arbeitslosigkeit bis Umweltzerstörung, Verarmung und Verelendung verantwortlich gemacht wird. Dabei will der Neoliberalismus eigentlich nur, dass möglichst viele Menschen nach ihrem eigenen Gutdünken entscheiden können, was sie tun oder lassen wollen.

Die Vorsilbe «Neo» soll signalisieren, dass ein radikaler Liberalismus mit einem Nachtwächterstaat, Manchesterkapitalismus und einer Laisser-faire-Gesellschaft zu kurz greift. Denn die Wirtschaftsgeschichte liefert genügend Beispiele dafür, dass ein ungezügelter Liberalismus eben gerade nicht die Freiheit aller schützt. Vielmehr führt er zu Macht und deren Missbrauch in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und damit zum Nutzen weniger, aber dem Schaden vieler. Deshalb setzt der Neoliberalismus der absoluten Freiheit Grenzen.

Ein starker Staat mit Gewaltenteilung, eine Verfassung, die niemandem die Macht über alles gibt, und ein Wirtschaftsrecht, das den Zugang zu den Märkten offen hält und für einen funktionierenden Wettbewerb sorgt, sind die unverzichtbaren Voraussetzungen, um individuelle Freiheits- und Grundrechte für alle zu sichern und Menschen, Minderheiten und Märkte gegen Übergriffe, Monopole und Interessengruppen aller Art zu schützen.

Aber es sind längst nicht nur die Linken oder die Libertären, die den (Neo-)Liberalismus aus ideologischen Gründen (immer schon) an den Pranger stell(t)en. Die Totengräber einer weltoffenen, aufgeklärten, liberalen Bürgergesellschaft kommen nicht nur von aussen, sondern auch von innen. Dazu gehören Freigeister und Hedonisten, die Freiheit mit Rücksichtslosigkeit, Individualität mit Egoismus und Liberalität mit Beliebigkeit gleichsetzen. Vor allem aber erleidet der (Neo-)Liberalismus Schaden von Unternehmensleitungen, die im Streben nach Gewinnmaximierung Moral und Anstand, Regeln und Gesetze missachten und damit jene Freiheiten missbrauchen, die ihnen gerade der Liberalismus bietet.

Wenn immer wieder Skandale dokumentieren, wie mit üblen Tricks und illegalen Machenschaften auf den globalen Finanzmärkten Referenzkurse wie der Libor (für Zinsgeschäfte) oder der Forex (für Wechselkursgeschäfte) und damit Massstäbe für Finanzgeschäfte im Volumen von täglich vielen Billionen Dollar systematisch getürkt, gefälscht und von Finanzakteuren zu eigenen Zwecken manipuliert werden, oder wenn Kartelle gebildet und von Firmen Steuern hinterzogen werden, verliert die Bevölkerung das Vertrauen in Fairplay, Fairness und darauf, dass die liberalen Spielregeln für alle gleichermassen gültig sind. 

Obwohl sich der Rechtsstaat durchaus Mühe gibt, alle gleich zu behandeln, genügt das subjektive (Vor-)Urteil der Massen, dass die «oben» Moral und Anstand und damit Respekt und Gefolgschaft verloren haben, selbst wenn – objektiv betrachtet – die Mehrheit der Unternehmen Kunden und Mitarbeiter(innen), Umwelt und Öffentlichkeit korrekt behandeln. Fairness, Respekt, Treu und Glauben sind eben gerade für den Liberalismus unverzichtbare Verhaltensweisen jenseits von Recht und Gesetz.

Zu oft haben in jüngerer Vergangenheit Manager die Vorteile des (Neo-)Liberalismus genutzt, ohne der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft gerecht zu werden. So wurden Gewinne privatisiert, aber Verluste sozialisiert. Am Sonntag wird das hohe Lied für Freihandel und Freizügigkeit gesungen, aber werktags wird für Subventionen, staatliche Förderung und Schutzmassnahmen lobbyiert. Und selbstverständlich werden öffentliche Leistungen gefordert und in Anspruch genommen, aber Steuerumgehungsstrategien verfolgt.

Um dem Sozialismus das ideologische Wasser abzugraben und in der Bevölkerung Unterstützung zurückzugewinnen, ist es an der Zeit, den Neoliberalismus zu erneuern. Folgendes ist zu tun:

1. Erstens ist ein liberaler Kompass auf «pro market» und nicht «pro business» auszurichten. Weder sind abstrakt die «Wirtschaft» noch konkret einzelne Interessen zu unterstützen. Regulierungen und Wettbewerbsgesetze sollen Eigeninteressen so zügeln, dass das Verhalten einzelner auch dem Gemeinwohl zugutekommt. Machtballung beim Staat, bei Monopolen oder Interessengruppen ist zu verhindern. Nur so stehen allen Menschen möglichst grosse Handlungs- und weite Gestaltungsspielräume offen. Das gilt im Zeitalter der Digitalisierung in besonderer Weise auch für Nachrichten, Informationen und Daten.

Nicht Marktmacht und auch nicht Gewinne von Monopolen und Kartellen sind durch Staat und Politik zu schützen, sondern die individuellen Freiheitsrechte. Andererseits ist die individuelle Freiheit so weit einzuschränken, dass freie Marktkräfte ihre unschlagbare Koordinationsfunktion reibungslos ausüben können – zum Nutzen aller und nicht nur zu Gunsten weniger.

2. Zweitens muss auch aus einer liberalen Perspektive die Chancengleichheit aller im Wettbewerb auf offenen Märkten angestrebt werden. So sehr richtig ist, dass Ungleichheit zu einer liberalen Gesellschaft gehört, weil Menschen ungleiche Wünsche und Bedürfnisse haben, so sehr muss für die Chancengleichheit gesorgt werden. Bevölkerungen können ein durchaus beträchtliches Mass an Ungleichheit ertragen, ohne gleich das liberale Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in Frage zu stellen.

Kritisch wird es, wenn der Fahrstuhl nach oben defekt ist und wer unten lebt, immer unten bleiben muss. Noch schwerer zu ertragen ist es für Randgruppen, Aussenstehende und Minderheiten, wenn der wirtschaftliche Status zementiert ist und vererbt wird und ein Aufstieg nicht von eigenen Fähigkeiten, sondern vom Vermögen von Eltern und Grosseltern abhängig ist. Chancengleichheit am Start und eine Durchlässigkeit nach oben als Folge eigener Leistung sind unverzichtbar für eine Akzeptanz von Ungleichheit.

Da zeigen sich in Westeuropa Defizite, die mit hoher Priorität zu beheben sind. Geburt und Herkunft dürfen den wirtschaftlichen Erfolg nicht so dominant bestimmen, wie das heute der Fall ist. Vielmehr muss gerade eine liberale Gesellschaft mit aller Kraft dafür sorgen, dass in jeder Lebenslage und immer wieder von neuem Wege für Menschen offen stehen, nach oben aufzusteigen und nicht unten verharren zu müssen – im schlimmsten Fall sogar über Generationen.

3. Drittens sind Fairness, Anstand und Engagement für das Gemeinwohl unverzichtbare Fundamente des (Neo-)Liberalismus. Politik und Rechtsstaat können nur die Rahmenbedingungen anordnen und kontrollieren. Entscheidend aber ist, dass die «Wirtschaft», insbesondere Firmeneigentümer, Familienbetriebe, Manager und Führungskräfte, die Werte des ehrbaren Kaufmanns als Vorbilder für Mitarbeiter(innen), Geschäftspartner und Öffentlichkeit vorleben. Gesellschaftlich verantwortliches Handeln und nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg sind keine Gegensätze. Sie bedingen sich gegenseitig.

Unternehmensführungen müssen immer wieder und tagtäglich dafür Sorge tragen, dass der Liberalismus von der Spitze aus zum Wohle aller gelebt wird. In den Unternehmen soll zwar der betriebliche Erfolg, aber genauso auch die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft betriebswirtschaftliche Entscheidungen bestimmen. Die neoliberale Freiheit wird eben jenseits von Recht und Gesetz durch Werte und Anstand begrenzt, aber auch durch Vertrauen und Verlässlichkeit ausgeweitet.


Thomas Straubhaar
aus Unterseen, Kanton Bern, ist ein Schweizer Ökonom und Migrationsforscher. Er war bis Ende August 2014 Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). Seit 1999 ist er Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere für Internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.

 

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