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Der Mensch und sein Monster

Wir kennen unsere Gene, aber deshalb haben wir unser Selbst noch lange nicht erkannt. Dies zeigt sich in der Genetik immer klarer. Zugleich macht sich der Mensch in der angewandten Forschung zu seinem eigenen Rohstoff. Was bedeutet das für das menschliche Selbstverständnis?

Der Mensch und sein Monster
Hans-Jörg Rheinberger, photographiert von Michael Wiederstein.

Herr Rheinberger, beginnen wir mit einem Rätsel: Es gibt einen ziemlich bekannten amerikanischen Wissenschafter, der wie Sie 1946 geboren wurde. Können Sie sich vorstellen, wen ich meine?

Na, das ist mir ein bisschen zu unspezifisch!

Der Mann heisst: Craig…

Venter! Ah, das Geburtsjahr ist mir noch gar nie aufgefallen.

Venter hat vor rund 12 Jahren als erster Mensch sein Genom entschlüsselt und aufs Netz gestellt. Was ist aus der damaligen Sensation geworden? Ist in der Forschung davon noch die Rede?

Was Venter damals veröffentlicht hat – übrigens zur gleichen Zeit wie die Forscher, die unter der Schirmherrschaft der National Institutes of Health mit Francis Collins am Humangenomprojekt gearbeitet haben –, war eine Arbeitsversion des Genoms. Sie enthielt noch viele Lücken. Im Medienbewusstsein bedeutete das dennoch: Das Genom ist entschlüsselt! Wie so oft wurde eine wissenschaftliche Ankündigung von der Öffentlichkeit als fertige Sache aufgenommen, obschon in Wahrheit noch jahrelang weitergetüftelt werden musste. Inzwischen, nach einer weiteren Dekade, ist man so weit – auch preislich –, dass man die Genomsequenzierung als diagnostisches Werkzeug nutzen kann.

Was bringt es als solches konkret? Man hatte sich von der Entschlüsselung des Genoms Quantensprünge in der Prognostik erhofft, glaubte, lauernde Gefahren wie etwa Alzheimer künftig im Erbgut erkennen zu können. Inwiefern haben sich diese Phantasien bewahrheitet?

Das Genomprojekt hat Identitätsvorstellungen gepusht, die ziemlich überrissen waren: Kennt man das Humangenom, kennt man den Menschen. Zeitweise erschien das Genom ja geradezu als Heiliger Gral, als Speicher aller zukünftigen Lebenswege. Um das Projekt rankte sich viel Luftiges. Doch sind viele Phantasieblasen zerplatzt. Pragmatisch gesehen ist man heute in der Lage, auf einzelnen Chromosomen genetische Defekte zu identifizieren, auch solche, die nicht schon bei der Geburt, sondern irgendwann einmal im Leben mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit wirksam werden. Jetzt kann man sich natürlich fragen: Soll man sich das eigene Leben dadurch erschweren, dass man sich auf diese Wahrscheinlichkeiten fixiert, und am Schluss passiert vielleicht gar nichts? Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine diesem Wissen entsprechende Lebensführung auch
einiges bewirken kann.

Und dieses monokausale Denken: ein Gen, ein Protein, eine Krankheit – hat es sich verflüchtigt?

Es gibt natürlich den Bereich der monogenetischen Krankheiten. Ein berühmtes Beispiel ist die Sichelzellenanämie, die aber eigentlich nur in bestimmten Umweltkontexten als Krankheit anzusehen ist, weil sie in anderen Umwelten, also beispielsweise im tropischen Klima, auch Vorteile hat. Ein anderes Beispiel, das in diesem Zusammenhang gerne genannt wird, ist die Phenylketonurie, eine Stoffwechselkrankheit. Der Organismus kann aufgrund eines genetisch bedingten Enzymdefekts eine Aminosäure nicht mehr abbauen. Der Defekt lässt sich leicht identifizieren, und dann muss der oder die Betroffene eine bestimmte Diät befolgen, die darauf abzielt, die Aufnahme der Aminosäure Phenylalanin zu vermeiden. Hält er sich daran, kann er ein normales Leben führen. Kurz und gut, solche Fälle gibt es…

… sie sind jedoch die Ausnahme, nicht die Regel.

Ich würde es anders sagen: Es gibt einige monogenetische Krankheitsbilder, doch sind nur vergleichsweise sehr wenige Menschen davon betroffen, während unsere sogenannten Volkskrankheiten, Bluthochdruck, Herzbeschwerden, Rheuma, Allergien und all diese Dinge, eben mehr als eine Ursache haben. Da spielen Gene auch eine Rolle, da sie in fast allen Stoffwechselprozessen in der einen oder anderen Form involviert sind, aber eben nur eine bedingte.

Wie wichtig ist heute in der Wissenschaft der Begriff des Gens als kleinster Informationseinheit des Lebens?

Die Arbeit am Genom hat nicht nur diese pragmatische Bedeutungsebene erschlossen, sondern über eine quasi ironische Wendung die ganze Genforschung in neue Richtungen gelenkt. Am Anfang des Projekts ging man davon aus, dass die menschliche Zelle rund 100 000 Gene enthalte, gegen Ende des ganzen Sequenzieraufwandes stellte sich dann aber heraus, dass es kaum mehr als ein Viertel davon sind. Die Dynamik des Projekts machte also die etwas naiven oder einfach ungesicherten Vorstellungen der Forschung zunichte, und heraus kam etwas in­teressantes Neues: Indem man erkannte, dass DNA-Sequenzen und biologische Funktionen nicht eins zu eins aufeinander abbildbar sind, sind neue Bereiche in den Fokus der Forschung gerückt.

Sie meinen damit die Epigenetik?

Genau. Die sogenannte Genexpression ist eben nicht einfach ein linearer Vorgang – da hat man ein Stück genetische Information, dann wird das abgeschrieben und umgesetzt –, sondern es gibt dazwischen extrem viele und interessante Verzweigungsprozesse, die ihrerseits wieder auf alles Mögliche reagieren: auf die genetische Ausstattung insgesamt, auf Stresssituationen, Umweltbedingungen, Ernährung, alles Mögliche. Epigenetik steht für die vielfältigen und unglaublich komplexen Prozesse, die sich zwischen den Genen, der Umwelt und dem Funktionieren des Organismus abspielen. Die Ergebnisse der Genomforschung haben, ohne dass dies beabsichtigt gewesen wäre, den Blick für genau diese Verzweigungsprozesse geschärft.

Hatte der französische Biologe Jean-Baptiste Lamarck also doch nicht ganz unrecht, als er von der Vererbbarkeit erworbener
Eigenschaften ausging?

Neuere Forschungen zeigen, dass, sagen wir mal, bestimmte Funktionszustände der Zelle markiert werden können und dass diese Markierung an die darauffolgende Zellgeneration weitergegeben werden kann, ohne dass das in der Abfolge der genetischen Bausteine festgelegt wäre. Im Verständnis dieses Phänomens – einer Art Gedächtnis der Zelle – stehen wir freilich erst am Anfang. Schon ziemlich gut erforscht sind die Methylierungsvorgänge der DNA. Der Organismus markiert hier über Enzyme bestimmte Muster der Grundbausteine der Erbsubstanz einer Zelle und legt damit fest, ob bestimmte Gene aktiv sind oder nicht, wobei auch diese Informationen an die Tochterzellen weitergegeben und also auch «vererbt» werden – wenn man so will. Noch vor ein paar Jahrzehnten hätte man in der seriösen molekularbiologischen Forschung die Behauptung solcher Vorgänge für Phantasterei gehalten.

Um ein konkretes Beispiel zu nehmen: Könnte es sein, dass sich meine Augenfarbe aufgrund irgendwelcher Veränderungen der Umwelt anpasst? Ich ziehe in eine Gegend, es wird wärmer, ich bekomme eine andere Augenfarbe und kann die neue Eigenschaft über epigenetische Vorgänge an meine Kinder weitergeben…

Ob das mit der Augenfarbe ginge, müsste man im einzelnen untersuchen. Augenfarbe hat etwas mit Pigmenten zu tun, und wie weit beispielsweise die Wärme einer Umgebung dazu beitragen kann, dass ein Biokatalysator, der nötig ist, um dieses Pigment aufzubauen, dann nicht funktioniert, nun, das wäre zu prüfen. Aber man kann da im Grunde genommen kein Merkmal zum vornherein ausschliessen.

Was bedeutet diese Einsicht wissenschaftsgeschichtlich? In einem System, in dem das Gen lange Zeit als Zentrum fungierte, ist dessen Entthronung wohl ein veritabler Paradigmenwechsel.

Die neuen Erkenntnisse relativieren eine tief eingesunkene Vorstellung, die die Genetik des gesamten 20. Jahrhunderts geprägt hat. Die Annahme, dass es eine fundamentale Tiefenstruktur – einen Genotyp – gibt, der das «Eigentliche» trägt, und dass dieser von etwas «Ephemerem» – dem Phänotyp – gewissermassen eingehüllt wird, stand am Anfang der Herausbildung der klassischen Genetik. Historisch gesehen hatte sie ihre Berechtigung, sie hat mitgeholfen, alte Vorstellungen von der Vererbung erworbener Eigenschaften zu überwinden und ein neues Mainstream-Programm durchzusetzen. Heute aber ist die Epigenomforschung dabei, diese fundamentale Unterscheidung zu entkräften: Wenn man verstehen will, was in einem Organismus abläuft, muss man die Systemzusammenhänge betrachten, die verschiedenen Ebenen und Netzwerke, von denen die genetische eine, nicht aber die einzige oder wichtigste ist.

Das heisst: Das Gen hat seine zentrale ontologische Bedeutung verloren. Es «existiert» aber dennoch nachweislich…

Ja natürlich, es verschwindet nicht und verpufft nicht einfach. Was sich verändert, sind die Zugriffe, die man forschungstechnisch auf Prozesse innerhalb des Organismus und innerhalb der Zelle hat. Der ontologische Aspekt, die Idee, dass das Leben auf den Genen gründet, war ohnehin immer eher eine mediale Phantasie als eine wissenschaftliche Realität. In der Wissenschaft hat man das Gen faktisch als vorwiegend epistemische Kategorie behandelt, als epistemisches Ding, aus dessen Perspektive man eine Zelle analysieren kann. Andererseits werden heute Gene als technische Dinge verwendet, als Replikationsmaschinen, etwa zur Erzeugung von menschlichem Insulin. Man nimmt also eine DNA-Sequenz, schleust sie in ein Bakterium ein und veranlasst das Bakterium, das entsprechende Produkt zu synthetisieren. So kann man in Bioreaktoren Kilogrammmengen von Insulin produzieren – und damit Diabetes in Schach halten.

Verstehe ich Sie richtig: Das Gen bekommt zunehmend eine technische Bedeutung?

Ja, ich glaube, man kann heute von einer technischen Existenzform der Gene sprechen. Für die damit befasste Zelle hatte ich einmal einen Ausdruck geprägt, der mir immer noch gefällt: locus technicus – Ort der technischen Produktion. Insgesamt ist das ein Ergebnis der Molekularisierung der Biologie: Man ist so tief in die Dimensionen der einzelnen Komponenten vorgestossen, dass man einige davon als Werkzeuge verwenden kann, um Veränderungen innerhalb von Zellen oder Geweben zu bewirken.

Wenn man mit Genen Dinge herstellen kann, dann wird der Mensch dadurch zu seinem eigenen Rohstoff, zu seinem eigenen «locus technicus», um in Ihrer Diktion zu bleiben. Kantisch gesprochen sind wir damit Mittel und nicht mehr Zweck. Wie verändert das unser Selbstverständnis?

Ich glaube, die Sache lässt sich nicht in diesen Gegensatz auflösen, denn wir bleiben ja Mittel für unseren eigenen Zweck, sind also gewissermassen Zweck und Mittel zugleich. So war es ja eben schon bei Kant, der den Organismus als «Naturzweck» und damit als Ursache und Wirkung seiner selbst gesehen hat. Natürlich haben sich aber über den Verlauf der Jahrhunderte die Zugriffe auf unseren Körper verändert. Die moderne Wissenschaft stellt uns heute Möglichkeiten bereit, über die unsere Vorgängergenerationen nicht verfügten. Denken Sie etwa an all die Substanzen, die im frühen 20. Jahrhundert unter dem Sammelbegriff «Wirkstoffe» diskutiert und dargestellt wurden: Hormone, Vitamine, Enzyme, Antikörper. Allesamt sind das – direkt oder vermittelt – Genprodukte, die in geringer Konzentration im Körper vorkommen oder ihm zugeführt werden müssen. Indem man einen Weg gefunden hat, sie herzustellen, hat man begonnen, gestaltend auf unser Leben einzuwirken.

Aus dieser Optik erscheinen Veränderungen, die nun direkt auf der Ebene der Gene ansetzen, als simple Weiterführung von längst Praktiziertem. Ist der Unterschied zwischen herkömmlichen Zugriffen auf den Körper und neuen Eingriffen in die Gene lediglich ein gradueller?

Der Unterschied ist einerseits graduell. Andererseits ist er aber potentiell auch qualitativ. Denn wenn Eingriffe auf der Ebene der genetischen Instruktionen in der Keimzelle vorgenommen werden oder würden, dann hat oder hätte das natürlich Auswirkungen auf die nächste Generation. Wenn Sie ein Vitamin schlucken oder sich mit Epo aufputschen, hat das für die Folgegeneration in der Regel keine Konsequenzen, wenn man genetisch auf der Ebene der Keimzellen manipuliert hingegen…

… verändert man mit sich das Leben für alle Zeiten!

Ja, es sei denn, das Individuum der nächsten Generation würde die Veränderung wieder rückgängig machen.

Sie sprechen im Konjunktiv. Werden diese Manipulationsmöglichkeiten in absehbarer Zeit Realität oder handelt es sich bei diesen Szenarien ebenfalls um populäre Mythen?

Bisher ist man nur in marginalster Weise – oder sagen wir mal: eigentlich gar nicht – in der Lage, derartige Manipulationen in der menschlichen Keimzelle vorzunehmen. Das wird aber kommen.

Wenn man diese Wege durchdenkt, stellen sich fundamentale Fragen: Wer nur soll über die Manipulationen entscheiden? Schliesslich betreffen sie die Lebenssubstanz von Menschen, die es noch gar nicht gibt.

Tja, genau darin zeigt sich der qualitative Unterschied zwischen den verschiedenen Praktiken. Andererseits sollte man sich bewusst machen, dass wir das Leben der kommenden Generationen ohnehin permanent durch unser eigenes Verhalten bestimmen: durch unsere Bildungsstätten, durch die Schulden, die wir machen, durch radioaktive Abfälle – wir hinterlassen unseren Nachkommen einen ganzen Haufen irreversibler oder jedenfalls über Generationen nachklingender Dinge.

Das lässt den Griff auf die Gene am Schluss doch wieder als nur graduelle Erweiterung von bereits Alltäglichem erscheinen. Sind Sie der Meinung, dass man der Entwicklung in der genetischen Sphäre Grenzen setzen soll?

Ein fundamentaler Unterschied besteht wohl darin, dass bei den Genen immer der Begriff des «Lebens» als solches mitschwingt. «Leben» ist aber ein vielfältig aufladbarer und aufgeladener Begriff. Der hat unumgänglich eine ganz eigene Qualität. Natürlich gibt es in diesem Bereich dann Dinge, die technologisch möglich, nicht aber menschlich wünschenswert sind. Ich bin kein Anhänger des technologischen Determinismus: Nicht alles, was machbar ist, wird sowieso gemacht. Immer wieder müssen wir uns als menschliche Gemeinschaft für oder gegen Machbarkeiten entscheiden – denken Sie nur an die Kernkraft, die viele europäische Gesellschaften gerade abschalten. Aussteigen oder gar nicht einsteigen ist in meinen Augen immer auch eine Möglichkeit. Auf die Gentechnik bezogen verläuft für mich eine Grenze entlang der Klonfrage, das heisst: Wenn es technisch möglich ist, aus menschlichen Zellen Klone herzustellen, dann möchte ich nur in einer Gesellschaft leben, in der das gesetzlich verboten ist.

Die Phantasien beziehen sich ja nicht nur aufs Eigene, sondern auch aufs Fremde, die Produktion künstlicher Menschen ist ebenso im Gerede wie die Wiedererweckung der Mammuts. Wie steht es hier um Mach- und Wünschbarkeit?

Da muss man die Phantasiewelt ganz klar trennen von dem, was in einem profanen molekularbiologischen Labor möglich ist. Natürlich gibt es dort tolle Dinge. Ich finde es unglaublich faszinierend, dass Molekularbiologen heutzutage in der Lage sind, das Genom einer ausgestorbenen Tierart – meinetwegen eines Mammuts – zu entschlüsseln, indem sie aus Überresten genügend DNA extrahieren und darauf dann eine Analyse bauen. Zu glauben, dass man deswegen nun aus dem Reagenzglas ein Mammut entstehen lassen könnte, ist aber nichts als absolut naive Spekulation. Obwohl – man sollte in der Wissenschaft natürlich eigentlich nie «nie» sagen. (lacht)

Sie haben in Ihren Büchern gezeigt, wie wichtig das Unerwartete und Unvorhersehbare für Entdeckungen ist. Ist der Zufall die Triebfeder wissenschaftlichen Fortschritts?

Ich würde es so sagen wollen: Der «Zufall» in Anführungsstrichen, das heisst eine Art von Zufall, zu der man etwas dazutun kann, spielt in der wissenschaftlichen Forschung eine grössere Rolle, als man gemeinhin annimmt. In der Normalvorstellung hat Wissenschaft etwas mit Prognose zu tun – was für gesichertes Wissen auch bis zu einem gewissen Grad stimmt. An den Orten aber, wo das Wissen im Entstehen begriffen ist, haben wir eine andere Situation. Prognosen reichen dort meist nicht weit, und es gibt kaum Möglichkeiten, antizipativ vorzugehen. In Labors bringt man Dinge bewusst so miteinander in Interaktion, dass sie unerwartete, das heisst nicht vorwegnehmbare Effekte erzeugen. Laboratorien sind Probierwelten und Experimente Veranstaltungen zur Herbeiführung von Unerwartetem. «Serendipity» nennt man das auch. Sie kann in zwei Formen auftreten. Man kann ein einigermassen klar gestelltes Problem haben, aber die Lösung noch nicht kennen, auf die man per Zufall stossen mag. Man kann aber auch auf neue Probleme gestossen werden, an die man vorher gar nicht gedacht hat. So oszilliert die Wissenschaft eigentlich dauernd zwischen Problemen, Zufällen und – meist vorläufigen – Lösungen hin und her.

Das gilt ja für den Alltag ebenso wie für die Wissenschaft. Immer erzählen wir uns das Leben oder einzelne Geschichten daraus so, als hätte alles auf ein Ziel zusteuern müssen. Tatsächlich aber ist alles offen, alles zufällig, unsere Redeweise nichts als eine verzerrte narrative Teleologie.

Eine «Retro-Teleologie», genaugenommen. Denn die Geschichte wird ja immer vom «sich ergeben habenden» Standpunkt aus erzählt, als Geschichte «auf etwas hin». Diese Geschichte, die narrativ auf ein Ziel hinausläuft, ist aber in der Regel eine nachträgliche Illusion, denn meistens spielt es sich in der Realität ja so ab, dass man sich weniger auf etwas zu als vielmehr von etwas weg bewegt.

Die Idee des unaufhaltsamen «Auf-etwas-Hinauslaufens» findet sich auch in der aktuellen Diskussion um die Möglichkeit des freien Handelns: Die Sichtweise, wonach unser Verhalten biologisch determiniert sei, gewinnt an Popularität. Sie haben zuvor zwar die Wirkung der Gene relativiert, dennoch bleibt die Frage: Wie stark bestimmen sie uns? Oder andersherum: Wie frei sind wir?

Die Frage nach der biologischen Determiniertheit ist eine alte und hat bereits das 18. Jahrhundert beschäftigt, das mit La Mettries Maschinenmensch auch schon einen durchaus materialistischen Standpunkt entwickelte. Im 19. Jahrhundert glaubten dann einige von Marx als «Vulgärmaterialisten» bezeichnete Forscher, der Mensch sei durch die Ernährung bestimmt. Und im 20. Jahrhundert hat sich dieser Fragenkomplex unter der Ägide der genetischen Forschung dann auf den Einfluss der Gene zugespitzt. Das ist also nur eine Spielart einer Debatte, die über die Jahrhunderte immer wieder auftauchte und sich, dem Gang der Wissenschaft folgend, unterschiedlich gewandete.

Die ungebrochene Virulenz dieser Frage ist dabei nicht erstaunlich, schliesslich merken wir dauernd, wie stark unser Körper
unsere Befindlichkeit beeinflusst. Wie entscheidend ist das aber für unser Denken und Handeln?

Auf der einen Seite sind wir natürlich biologische Wesen und spüren das auch immer wieder. Auf der anderen Seite sind wir aber auch reflexive Wesen, also Wesen, die auf eben diese biologischen Bedingungen reflektieren können. Und diese Reflexionsschleifen und -vorgänge sind nun nicht so einfach auf physiologische Prozesse abbildbar, wie man das neuerdings wieder gerne denkt. Wenn ich einen bestimmten Gedanken entwickle und mich die Neurobiologen währenddessen unter eines ihrer Visualisierungsgeräte legen, dann sind sie zwar in der Lage, die zum Gedanken gehörigen Hirnaktivitäten zu identifizieren – doch ist damit noch absolut nichts über Inhalt, Art, Bedeutung oder weitere Zusammenhänge meines Gedankens gesagt. Der reine physiologische Prozess greift viel zu kurz, und genau diese Kurzschlüsse sind das Fatale an der ganzen Sache.

Vielleicht ist unser Hirn aber auf Kurzschlüsse angelegt, das Sim­plifizieren gehört zum Leben.

Simplifizieren ist aber nicht gleich Simplifizieren. Man kann das grobschlächtig tun, wie in dem eben geschilderten Prozess, man kann es aber auch elegant machen. Das elegante Simplifizieren ist dann wieder eine hochintellektuelle Angelegenheit, ohne die die ganze wissenschaftliche Forschung nicht funktionieren würde. Wobei aus diesen simplifizierenden Zugängen in der Regel natürlich nicht eine simple Lösung, sondern wiederum eine Komplexifizierung resultiert. Genau darin liegt für mich die Faszination der Forschung.

Zusammengefasst schliesse ich aus Ihren Erklärungen, dass es keine einzelne Komponente gibt, die uns bestimmt. Unser Verhalten ist nicht durch irgendetwas vorgegeben, sondern vielmehr von unzähligen Einflüssen abhängig: Ernährung, Sport, Psyche…

…und nicht zu vergessen von den symbolisch-materiellen Welten, die wir um uns aufbauen. Religiöse, kulturelle, juristische, künstlerische und eben auch wissenschaftliche «Überbauten» spielen in unserem Verhalten allesamt eine entscheidende Rolle.

Lässt sich diese Einsicht auch auf die Intelligenz übertragen? In letzter Zeit ist wieder vermehrt von der Vererbbarkeit der Intelligenz die Rede. Mit dem Verweis auf die vielfältigen Prägungsformen müsste dieser Diskurs zu entkräften und Intelligenz als Resultat verschiedenster äusserer Elemente zu postulieren sein – wie sehen Sie das?

Auch die Intelligenzdebatte wird schon seit bald 150 Jahren geführt. Das Problem dabei ist die exklusive Vergegenständlichung – als ob es «die Intelligenz» gäbe! –, die dann im IQ auch noch in quantifizierter Form auftritt. Letztlich ist das nichts als eine ausgedachte Zahl. In dieser Zahl werden verschiedene Verhaltens-, Reaktions- und Assoziationsweisen zusammengeschnurrt, und zwar zu einem der nichtssagendsten Dinge auf der Welt. Noch nie hat mir jemand gezeigt, dass man mit dem Intelligenzquotienten gesellschaftlich irgendetwas anfangen kann. Seit 100 Jahren hat er nirgendwohin geführt, ausser zu rassischer Diskriminierung. Statt diese Messübungen zu veranstalten, sollte man einfach anerkennen, dass Menschen Intelligenzen extrem unterschiedlicher Art entwickeln können. Um es drastisch zu sagen: Jemand mit einem genialen musikalischen Gehör, der nicht in der Lage ist, zwei mit fünf zu multiplizieren, ist rechnerisch nicht intelligent, erbringt aber auf einem anderen Gebiet eine Leistung, die als hochintelligent zu erachten ist. Mit Abstraktionen muss man sehr vorsichtig umgehen. Und wenn sie periodisch wieder aufkommen, muss man sie geduldig immer wieder aufs neue dekonstruieren. Dazu sind wir ja da. (lacht)


In einer der nächsten Ausgaben erscheint ein Gespräch mit dem Kulturphilosophen Thomas Macho zur Allianz von Mensch, Tier und Maschine.

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