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Der Mensch ist nicht  die Krone der Schöpfung
Markus Gabriel, fotografiert von Jana Dehnen.

Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung

Unsere Spezies hält sich für fürchterlich wichtig. Naturwissenschaftlich sind wir jedoch nicht annähernd so bedeutend, wie wir es uns einreden.

Die moderne Entwicklung der Biologie als Lebenswissenschaft hat dazu geführt, dass der Mensch sich heute im Licht bestimmter Forschungsergebnisse ins Tierreich einreiht. Spätestens seit Darwin gilt es vielen als ausgemacht, dass wir im selben Sinne Tiere wie all die anderen Lebewesen sind, die wir als solche einstufen. Der Mensch ist eine Spezies unter anderen, und er ist nach denselben naturwissenschaftlich, vor allem mole­kularbiologisch erforschbaren Prinzipien entstanden wie alle anderen Formen des Lebens. Das ist richtig.

Gleichwohl unterscheidet sich der Mensch von allen anderen Tieren, und zwar nicht nur zoologisch oder genetisch, also nicht nur dadurch, dass Menschen nur mit anderen Menschen Nachkommen zeugen können. Menschen tun vieles, wozu kein anderes uns bekanntes Lebewesen imstande ist: Wir reisen in Flugzeugen, um Strandurlaub zu machen, bauen Wein an, betreiben Natur- und Geisteswissenschaften, arbeiten in Grossraumbüros, beuten Menschen aus, um unsere Konsumgier zu befriedigen, schreiben Romane, verteidigen den Feminismus und die Rechte von Transpersonen, halten Bundestagswahlen ab, programmieren Computer, lernen Fremdsprachen und lesen diesen Text.

Keine abgeschlossene Frage

Der Mensch ist auf schier unendlich viele Weisen von den anderen Lebewesen verschieden. Diese sind wiederum unter sich ebenso verschieden. Bakterien, Pilze, Giraffen, Delfine, Fledermäuse, Bäume und so weiter lassen sich keineswegs einfach in eine homogene Pflanzen- und Tierwelt einordnen. Bakterien und Fledermäuse tun ebenso verschiedene Dinge, haben ebenso verschiedene Fähigkeiten wie Menschen und Wiesen. Bakterien können an heissen Quellen in der Tiefsee existieren und erzeugen Sauerstoff; Fledermäuse nehmen die Wirklichkeit völlig anders wahr als wir. Unsere Intelligenz und Problem­lösungsfähigkeiten sind auf unsere Umwelt angepasst, woraus wir nicht ableiten dürfen, dass sie irgendeine ­absolute Norm darstellen. Flechten, die ziemlich weit verbreitet und langlebig sind, passen ebenso wenig in das Schema «Pflanze, Tier, Mensch» wie Bakterien – ganz zu schweigen von den Viren, die eine wesentliche Rolle im Reich des Lebendigen spielen, ohne scheinbar so richtig dazuzugehören.

Deswegen sollten wir die Vorstellung in Frage stellen, irgendein Lebewesen sei nur ein Tier, also ein instinkt­gesteuertes Naturgeschehen, das ausschliesslich am eigenen Überleben oder dem Überleben seiner Artgenossen interessiert sei. Dass der Mensch also keineswegs nur ein Tier ist, ist daher ebenso eine Erkenntnis der modernen Evolutionsbiologie wie diejenige, dass sich unser Organismus nach molekulargenetischen Bauplänen entwickelt, die denjenigen einiger anderer Lebewesen ziemlich ähnlich sind.

Die Debatte darüber, wodurch sich der Mensch von ­anderen Tieren unterscheidet, obwohl er sich ins Tierreich einreiht, ist keineswegs abgeschlossen. Vielmehr war es keinem Geringeren als Charles Darwin höchstpersönlich sogar besonders wichtig, den Unterschied des Menschen von anderen Tieren herauszuarbeiten, ohne seine neugewonnene Einsicht über die Entstehung der Arten zu kompromittieren. In seinem Werk über «Die Abstammung des Menschen» behandelt er im vierten Kapitel ausführlich «die geistigen Fähigkeiten des Menschen und der Tiere» und eröffnet seine Überlegungen folgendermassen:

 

Ich unterschreibe vollständig die Meinung derjenigen Schriftsteller, welche behaupten, dass von allen Unterschieden zwischen dem Menschen und den Tieren das moralische Gefühl oder das Gewissen der weitaus bedeutungsvollste sei. Dieses Gefühl […] wird in jenem bedeutungs­vollen, kurzen, aber gebieterischen Wörtchen «du sollst!» zusammengefasst. Es ist das edelste aller Attribute des Menschen; es treibt ihn an, sein Leben ohne Zögern für ein Mitgeschöpf zu wagen oder nach sorgfältiger Überlegung, einfach durch das tiefe Gefühl des Rechts oder der Pflicht, irgendeiner grossen Sache zu opfern.1

 

Direkt im Anschluss an diesen Passus fährt Darwin mit einem Kant-Zitat aus der «Kritik der praktischen Vernunft» fort. Damit steht er, einigermassen überraschend, ausdrücklich in der kantischen Tradition, die den Menschen als moralisches Lebewesen auffasst, das für den kategorischen Imperativ empfänglich ist. Dieser besagt, dass wir stets so handeln sollen, dass unsere Handlung eine absolute Regel, ein Gesetz werden könnte, das für alle gilt. Die verschiedenen Formulierungen, die Kant für diesen Imperativ gefunden hat, laufen auf die Grundüberzeugung hinaus, dass moralisch gutes Handeln universell gültig, also unabhängig von den Einzelinteressen einer Person sein muss. Moral geht damit weit über Altruismus hinaus, weil man an diesem immer noch interessiert sein kann, während die Moral für Kant fordert, dass wir völlig ohne Eigeninteressen das objektiv Richtige tun können.

Darwin nun meint, dass es Vorformen moralischer Normativität, also eines unbedingten Sollens, auch bei ­anderen Lebewesen, den Tieren, gebe, doch hebt er den Menschen eindeutig von diesen ab. Er behauptet etwa, Hunde besässen «etwas dem Gewissen sehr Ähnliches», und im allgemeinen habe «das sogenannte moralische ­Gefühl ursprünglich sich von den sozialen Instinkten abgezweigt». Darwin teilt überdies rassistische Urteile seiner Zeit gegenüber den «Wilden», die sich durch das gesamte Werk ziehen. Die «Wilden» rechnet er nur eingeschränkt zu den Menschen, und sie kommen auf eine bestimmte Weise sogar schlechter weg als die Tiere, doch das steht auf einem anderen Blatt.

Zeitalter des Anthropozäns

Wenn jedenfalls selbst Darwin, der Begründer der Evolutions­theorie, der Auffassung ist, dass der Mensch nicht so richtig ins Tierreich passe, dann zeigt dies mindestens, dass das Verhältnis unseres Menschenbilds zu un­serem Tierbild nicht einfach unter Hinweis auf Darwin und die Evolutionstheorie als geklärt gelten kann. Denn Darwin hat uns keineswegs eindeutig ins Tierreich eingeordnet, wie man sich dies heute vorstellt.

Wie der Komplexitätsforscher Dirk Brockmann betont, kommt erschwerend hinzu, dass Darwins Tier- und Pflanzenbegriff auf Beobachtungen beruht, die «nur einen kleinen Ausschnitt der Natur» betreffen:

 

Seine Argumentationsketten beziehen sich auf Phänomene, die man bei «grossen» Tieren und Pflanzen beobachtet. Die gesamte mikrobiologische Welt blieb Darwin verborgen. Und wenn wir uns daran erinnern, dass die Artenvielfalt unter den Mikroorganismen (Bakterien und Archeen) etwa 100 000fach grösser ist als bei allen Pflanzen und Tieren, fusst die Theorie auf einer Randgruppe der Lebensformen.2

 

Die Erkenntnis, dass der Mensch ein Tier ist, scheint heutzutage somit einerseits völlig selbstverständlich, sie gehört zum Allgemeinwissen. ­Andererseits wird diese scheinbare Selbstverständlichkeit teils implizit, teils explizit durch die lebenswissenschaft­liche Forschung in Frage gestellt, die den Tierbegriff bei ­genauerer Betrachtung auflöst.

Eher implizit oder versteckt wird die Erkenntnis unseres Tierseins schon dadurch wieder eingeschränkt, dass sich der Mensch als besonders wichtiger Faktor der planetaren Zustände oder als Spitze eines Stammbaums vorstellt. So ist im Zeitalter der Klimakrise die auf den Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen (der 2021 verstorben ist) zurückgehende Rede vom «Anthropozän» in aller Munde. Im Zeitalter des Anthropozäns sei der Mensch zum entscheidenden geologischen Faktor geworden, was sich unter anderem in der längst für die meisten Menschen spürbaren Wucht des menschengemachten Klimawandels ausdrücke.

Durch die Tätigkeiten des Menschen sterben seit Jahrtausenden Arten aus, die Biodiversität nimmt also ab, und damit verändern sich Prozesse auf vielen Ebenen der Evolution des Lebendigen. Zwar ist es natürlich völlig richtig, dass wir für die massive Beschädigung unserer eigenen ­Lebensgrundlagen verantwortlich sind, weil wir den menschengemachten Klimawandel tagein, tagaus mit unserer Lebensweise, unserem Verkehr, unserer Industrie und ­leider auch mit unseren furchtbaren Kriegen befeuern. Häufig merken wir dies nicht einmal. Wer etwa eine Dokumentation über den Klimawandel auf einem Streaming-Dienst anschaut, stösst dabei in einer halben Stunde in etwa so viel CO2 aus wie jemand, der sechs bis sieben ­Kilometer mit seinem Benziner fährt (so jedenfalls einige Berechnungen). Klick für Klick, Like für Like, Suchanfrage für Suchanfrage tragen wir zur Erderwärmung bei, ganz zu schweigen von der gigantischen Energiemenge, die wir für die Server brauchen, dank derer die Menschheit heute ­global im Internet vernetzt ist.

Die Evolution kennt keine Spitze

Es ist somit eine bittere Ironie, dass sich die vermeintlich am höchsten entwickelte Spezies auf dem Weg ihrer Selbstausrottung befindet und dies sogar weiss. Doch die Pointe der Evolutionstheorie lautet an dieser Stelle, dass keine Spezies die Spitze eines Stammbaums bildet, weil die Evolution keine Linie ist, sondern ein komplexes Gewebe verschiedener Entwicklungen, die wir keineswegs kontrollieren. Es ist deswegen schon eine menschliche Selbstüberschätzung, zu glauben, wir lebten im Anthropozän. Der Mensch ist für den Planeten nicht wichtig. Der Planet selbst bemerkt es jedenfalls nicht, falls wir im Anthropozän leben, und der sogenannten Natur ist es völlig gleichgültig, welche Arten von Biodiversität es gibt. Genau genommen sind bereits Formulierungen wie «der Natur sind wir gleichgültig» oder «die Natur ist grausam, weil sie sich nicht für uns interessiert» falsch anthropozentrisch, weil der Natur weder etwas gleichgültig noch nicht gleichgültig ist. Der menschen­gemachte Klimawandel ist ein Problem für Menschen und für viele andere Lebewesen, er ist aber weder Naturzerstörung noch gar der Anfang vom Ende des Lebens. Wir können die Natur nicht zerstören, und wir sind weder der Anfang noch das Ende der Geschichte des Lebens.

 

«Wir können die Natur nicht zerstören, und wir sind weder der Anfang noch das Ende der Geschichte des Lebens»

 

Daher hat der Begriff des Anthropozäns bisher auch nicht Eingang in die offiziellen erdwissenschaftlichen Erkenntnisse gefunden. Er ist ein zwar populärer, aber keineswegs geologisch anerkannter Begriff. Der postmoderne französische Wissenssoziologe Bruno Latour sieht darin wiederum ein Versäumnis, in dem sich eine rückständige Auffassung von der Erde ausdrücke.

Das mit dem Ausdruck «Anthropozän» verbundene Bild von der geologischen Schlüsselstellung des Menschen denkt immer noch in den Bahnen einer Ausnahmestellung des Menschen. Indem wir uns die Fähigkeit zuschreiben, eine Gefahr für den Planeten insgesamt sowie für alle Lebewesen darzustellen, überschätzen wir uns masslos und zeichnen ein Bild der Biosphäre, in dem wir immer noch die – wenn auch diabolische – Krone der Schöpfung sind. Die vom Menschen befeuerte Erderwärmung, an der seit vielen Jahrzehnten nicht sinnvoll gezweifelt werden kann, sollte also nicht als Grundlage für ein verkehrtes Narrativ ­missbraucht werden. Der Mensch ist weder die Krone der ­Schöpfung noch ihr Zerstörer. Damit soll natürlich nicht die ­Tatsache bestritten werden, dass wir unsere und die ­Lebensgrundlagen vieler Lebewesen massiv gefährden beziehungsweise vollständig zerstören und für ein Massen­aussterben unzähliger Arten ganz und gar verantwortlich sind.

Ebenso verbreitet ist die Vorstellung, es gebe letztlich eine einzige Evolutionskette der Arten, an deren bisherigem Ende der Mensch steht. Es gibt aber nicht eine einzige Abstammungslinie der Evolution, sondern viele Abzweigungen und Variationen, die allesamt keinem übergeordneten Prinzip zu folgen scheinen. Die Evolutionswege der vielen Lebensformen, die wir aktuell vorfinden, können biologisch betrachtet allenfalls daran bemessen werden, wie erfolgreich, das heisst wie widerstandsfähig, Lebensformen sind. Ordnet man sie nach einem solchen Kriterium, ist der Mensch sicherlich kein besonders erfolgreiches Lebewesen. Viele der heute existierenden Lebewesen, etwa Bakterien, Pilze und Pflanzen, wird es vermutlich auch lange nach dem Aussterben des Menschen noch ­geben. Wenn also überhaupt etwas oder jemand als Krone der Schöpfung oder Spitze der Evolution zu betrachten wäre, handelte es sich dabei eher um mikrobiologische ­Lebensformen als um irgendeines jener Lebewesen, die wir landläufig als Tiere einstufen.

Jedenfalls ist es sicherlich noch nicht ausgemacht, ob die Epoche, in der es Menschen gibt, biologisch betrachtet auch nur ansatzweise so bedeutsam ist, wie sie uns erscheint. Gleichwohl steht der Mensch im Zentrum, nämlich im Zentrum des geistigen Lebens. Unsere Fähigkeiten der geistigen Selbstbestimmung und damit auch der Selbstdefinition sind eine Ausnahmeerscheinung. Deshalb sollten wir auch die Frage nach dem Sinn des Lebens neu stellen und nicht versuchen, sie ausschliesslich oder primär lebenswissenschaftlich zu beantworten.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch «Der Mensch als Tier», das am 19. Oktober 2022 bei Ullstein erscheint. Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis zum Vorabdruck.

  1. Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen. Stuttgart: Kröner-­Verlag, 1982, S. 75.

  2. Dirk Brockmann: Im Wald vor lauter Bäumen. Unsere komplexe Welt besser verstehen. München: dtv-Verlag, 2021, S. 190.

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