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Der Mensch als Entscheidungswesen

Disziplinen durchbrechen statt wissenschaftliche Privilegien hüten: ein Plädoyer für die Allgegenwart der Ökonomie.

Viele Menschen bilden sich viel darauf ein, Inseln zu schaffen, in denen das ökonomische Kalkül keinen Platz hat – womit sie, nebenbei bemerkt, bloss beweisen, dass sie weiterhin kalkulieren. Die unser aller Leben durchdringende Ökonomie hat jedenfalls eine schlechte Presse. Und die Disziplin, die sich mit diesen ökonomischen Prozessen befasst – die Ökonomik –, steht in der Kritik, weil sie reduktionistisch argumentiere und imperialistisch auftrete. Nun, woher rühren diese Abwehrreflexe?

Die Ökonomik gehört zu den Sozialwissenschaften, die sich auf Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens spezialisiert haben. Dieses vielschichtige Forschungsobjekt umfasst, zum einen, rechtliche und soziale Normen, wirtschaftliche An- und Abreize sowie institutionelle Rahmenbedingungen, kurz, jenen von Menschen definierten Rahmen, innerhalb dessen Individuen agieren und reagieren. Zum anderen richtet sie ihr Augenmerk auf die Bedürfnisse oder Motive jeder einzelnen Person als Bestandteils des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Die Ökonomik hält sich also nicht an herkömmliche Grenzziehungen zwischen Disziplinen. Sie unterminiert die Unterteilung in verschiedene Forschungszweige, die den vielfältigen Facetten des gesellschaftlichen Zusammenlebens entsprechen: Rechtswissenschaften, Politologie, Ethnologie, Soziologie, Psychologie. Und so erstaunt es nicht, dass sie den Widerstand aller Vertreter dieser Disziplinen auf sich zieht. Wer das «Forschungsgebietskartell» durchbrechen will, sorgt eben für Unruhe.

Traditionellerweise ist die Ökonomik dazu da, die Gründe für Arbeitslosigkeit und Inflation zu erkunden, Vor- und Nachteile von Freihandel bzw. Protektionismus aufzuzeigen und optimale Steuersätze zu berechnen. Zugleich befasst sie sich mit Religion, Familienstrukturen, kulturellen Unterschieden, Kunstmärkten und Philanthropie. Reines imperialistisches Gehabe? Oder eher Folge eines missverstandenen Bildes, das bisher von ihr gezeichnet wurde?

Klarheit verschafft die Frage nach dem Kernthema der Ökonomik. Im Zentrum stehen Entscheidungssituationen, in denen Menschen zwischen Handlungsalternativen wählen, wobei die finanziellen, zeitlichen und intellektuellen Ressourcen beschränkt sind. Wenn etwa eine Person gemeinnützig tätig sein will, kann sie einerseits zwischen verschiedenen Einsatzmöglichkeiten im Rahmen von Vereinen, Stiftungen und weiteren Nichtregierungsorganisationen (NGO) wählen, verfügt jedoch anderseits über beschränkte zeitliche Ressourcen. Oder ein öffentliches Amt ist einerseits mit der Finanzierung spezifischer Projekte beauftragt, die ihm zuhauf unterbreitet werden, hat aber dazu anderseits ein limitiertes Budget zur Verfügung. Oder ein bekannter Facharzt mit erfolgreichem Leistungsausweis wird einerseits von verschiedenen Seiten um seiner Fähigkeiten willen angefragt, kann jedoch anderseits naturgemäss pro Tag nur eine beschränkte Anzahl Operationen ausführen. Oder, als letztes Beispiel: der Zugang zu einer Hochschulausbildung soll einerseits möglichst allen fähigen Willigen ermöglicht werden, die Mittel der Hochschulen sind anderseits begrenzt.

Die Liste solcher Entscheidungssituationen liesse sich beliebig fortführen. Sie zeigt eines ganz deutlich: eine Forschungsrichtung, die sich auf diese Fälle spezialisiert hat, lässt sich nicht auf einen einzigen Gesellschafts- oder Wirtschaftsbereich beschränken. Mit anderen Worten ist die Ökonomik eine Disziplin, die sich treffender über ihre Methodik als über ihren Anwendungsbereich definieren lässt: sie ist eine Entscheidungswissenschaft.

Der Ansatz der Ökonomik muss zwei grosse Hürden überwinden. Die eine hängt mit dem weiter oben erwähnten «Gebietskartell» zusammen, das Persönlichkeiten und Institutionen dazu motiviert, sich für die Verteidigung der Demarkationslinien zwischen den Disziplinen einzusetzen. Diesem interessengeleiteten Phänomen steht die andere Hürde gegenüber: die intuitive Einteilung der menschlichen «Umwelt» in eine liebliche, uneigennützige Hälfte und eine unliebsame, berechnende Hälfte. Verstärkt wird diese Dichotomie dadurch, dass die Handlungsmotive der ersten Hälfte moralisch als höher eingestuft werden als jene der zweiten.

Man kann sich in seiner Disziplin verschanzen oder sich moralisch aufrüsten – man kann die Überschreitung der Grenzen aber auch als erkenntnisreich und inspirierend erleben. Wer die Ökonomik als Entscheidungswissenschaft versteht, kann dazu beitragen, Fragen verschiedenster Gesellschafts- und Wirtschaftsbereiche klarer einzugrenzen und Lösungswege zu entwickeln. Dieses Potential zu erschliessen, stellt zwar die übliche Aufgabenteilung der Disziplinen in Frage, ermöglicht jedoch allen Betroffenen im Sinne einer Herausforderung, sich auf die eigenen Kernkompetenzen neu zu besinnen – sowohl im wettbewerblichen als auch im kooperativen Sinn.

Ökonomie ist überall, wo der Mensch ist. Vergessen wir die Privilegien, lassen wir die Moral und versuchen wir zu verstehen. Mehr Mut zur ökonomischen Betrachtung!

Jürg de Spindler, geboren 1969, promovierte in Zürich in politischer Ökonomie und ist Inhaber von thinktankpraxis.ch in Baar.

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