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Der Luxus, sich arm zu fühlen

Die Kluft zwischen realem Wohlstand und gefühltem Unwohlsein wird auch in der Schweiz immer tiefer. Warum nur?

Der mittellose Bürger in einem mitteleuropäischen Wohlfahrtsstaat der Gegenwart wie der Schweiz lebt mit grösster Wahrscheinlichkeit besser als der durchschnittliche Adlige im Ancien Régime. Dies ist ein Satz, der, obwohl er auf eine einzigartige zivilisatorische Errungenschaft hinweist, in ebendiesen Wohlfahrtsstaaten unter Zynismusverdacht steht. Ich frage mich – ist es angesichts real existierender Armut ausserhalb der modernen Wohlstandstreibhäuser nicht vielmehr zynisch, den Satz nicht zu äussern? Wie immer man dazu steht, die Diskussion deutet auf die tiefen Widersprüche einer avancierten Verwöhnungskultur hin.

So viel materielles Wohlbefinden, so viel Gesundheit, so langes Leben, so viel Partizipation, so viel Schutz durch Recht, so viel Versicherung und Vorsorge, so viele Lebenschancen wie heute waren noch nie in der Geschichte der Menschheit; zugleich war aber auch noch nie so viel Jammern, so allgegenwärtige Abstiegsängste, ein solches ständiges Sichzurückgesetztfühlen, kurz, so viel Unzufriedenheit. Die Schere zwischen statistischem Wohlstand und gefühltem Unwohlsein öffnet sich immer weiter. Und die grosse Frage ist: Warum fühlen sich in einer beispiellos chancenreichen Gesellschaft die Menschen so arm an Dingen und Möglichkeiten?

 

1. Grund: Perspektivenwechsel

Ein erster Grund liegt auf der Hand: Man gewöhnt sich an die allgegenwärtige Verwöhnungskultur, die der Philosoph Peter Sloterdijk treffend als «Amalgam aus kampfloser Freiheit, stressfreier Sicherheit und leistungsunabhängigem Einkommen»1 beschreibt. Mit der Wirklichkeit hat sich auch unser Blick auf sie radikal verändert. Es ist ein Merkmal wohlhabender Gesellschaften wie der helvetischen, dass sie ständig neue Mangeloptiken entwickeln, um ihren Reichtum in Armut umzudeuten. Diese Wahrnehmungsverzerrung gehört auch längst zur bewährten Methodik staatlicher Studien: Armut, erläutert das Bundesamt für Statistik, lasse sich kaum objektiv bestimmen. Darum gilt bei uns ein relativer Armutsbegriff: Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, ist armutsgefährdet. So lässt sich per Definition beliebig Armut produzieren, und dieselbe Sozialindustrie, die über die Deutungshoheit in sozialen Fragen verfügt, lebt erfolgreich von deren politischer
Bewirtschaftung. Arm ist nicht, wer zu wenig zum Leben hat; arm ist, wer sich arm fühlt. Aber die Mangeloptik hat längst eine viel umfassendere Dynamik angenommen: Der gesellschaftliche Diskurs dreht sich unaufhörlich um Benachteiligungen und Diskriminierungen, obwohl die modernen Grossgesellschaften nie reicher, fairer und – ja! – egalitärer waren als heute. Nicht nur die
Staatseinnahmen, auch die Umverteilungsströme haben erstaunliche Ausmasse erreicht.

Peter Sloterdijk spricht aus, was sich selbst Unternehmer kaum mehr zuzuflüstern wagen: Wir leben in Mitteleuropa im «steuerstaatlich zugreifenden Semisozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage». An dieser Formulierung kann vernünftigerweise kein Zweifel bestehen: 50 Prozent und mehr beträgt die Zwangsabgabenquote in den Wohlfahrtsstaaten dies- und jenseits des Atlantiks, auch in der Schweiz.2 Während Vertreter der Linken über den eindeutigen Befund vornehm schweigen, weil sie die Sozialisierung des Volkseinkommens weiter vorantreiben möchten, erschöpfen sich die Exponenten nominell bürgerlicher Politik in einer schrillen Verteidigung des Status quo. Damit kaschieren sie nur den Umstand, dass auch sie im Denken längst zu Sozialdemokraten geworden sind.

Der neue Semisozialismus funktioniert nicht nach dem marxistischen Prinzip der gewaltsamen «Expropriation der Expropriateure». Das ist auch nicht mehr nötig, wenn die Hälfte des erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts durch staatliche Hände fliesst. Beamte, Bürokraten, gewählte und nichtgewählte Politiker, in der Schweiz zuweilen auch die Mehrheit der stimmenden Mitbürger entscheiden durch gelenkte Konsum- und Investitionstätigkeit, was produziert wird. An die Stelle der Vergemeinschaftung (sprich: Abschaffung) des Eigentums tritt eine Kollektivierung der Entscheidungen durch anonyme Dritte – also eine sanfte Sozialisierung des Eigentums, über das der einzelne nur mehr in beschränktem Masse verfügt. Wilhelm Röpke nannte dies einst den modernen «Fiskalsozialismus».

Bleibt jenseits der allgemeinen Erläuterung die Frage: Wer zahlt wie viel in den grossen anonymen Topf? Ich möchte eine einfache Überlegung anstellen und mit Zahlen unterfüttern, die den Bund betreffen und in vielerlei Hinsicht exemplarisch sind. Von den rund 8 Millionen Menschen, die in der Schweiz leben, gehen rund 60 Prozent einer Einkünfte erbringenden Berufstätigkeit nach – rund 5 Millionen; 20 Prozent, also rund 1 Million der Steuerpflichtigen, bezahlt keine direkte Bundessteuer; so bleiben 4 Millionen aktive Steuerzahler, von denen die oberen 10 Prozent der Top-Einkommensbezüger für 80 Prozent der Steuereinnahmen des Bundes aufkommen, während sich 90 Prozent der Steuerzahler die restlichen 20 Prozent teilen; das mittlerweile notorisch angeschwärzte oberste Prozent leistet gar stolze 40 Prozent der Erträge an die Bundeskasse, und dies bei einem Anteil des steuerbaren Einkommens von bloss 12 Prozent. Dank ambitionierter progressiver Wirkung in der Besteuerung zeigen sich hier Umverteilungsströme von beachtlichem Umfang.

Dieser Befund akzentuiert sich weiter, wenn wir in Betracht ziehen, dass die Einkommens- und Unternehmenssteuern fast die Hälfte (47 Prozent) der Steuereinnahmen des Staates ausmachen (OECD-Durchschnitt: 34 Prozent). 22 Prozent der Erträge des Staates entfallen auf die Besteuerung von Gütern und Dienstleistungen, 24 Prozent auf die Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, 7 Prozent auf die Besteuerung von Vermögen. Analog dazu lässt sich festhalten: Jene, die mehr verdienen, konsumieren mehr; wer mehr verdient, bezahlt auch mehr Sozialabgaben und hat – hoffentlich – mehr Vermögen. Kurz, auch die anderen Steuern werden überproportional stark von der immer gleichenGruppe der Bezüger höherer Einkommen aufgebracht.

Wo bleibt die Freude über so viel – allerdings staatlich erzwungene – «Solidarität»? Sie wird zweifellos getrübt durch die Bezüger «leistungsunabhängiger Einkommen» in den Chefetagen managementgeführter Grossunternehmen. Über sie dürften sich alle ärgern, die für sich den Willen zum beruflichen Leisten in Anspruch nehmen –  doch darf der Ärger nicht den Blick dafür trüben, dass jene, die nicht nur überdurchschnittlich viel leisten, sondern auch überdurchschnittlich viel verdienen, den Staat am Laufen halten. Es wäre höchste Zeit, ihnen ein Kränzchen zu winden, zumal die Staatsausgaben in den letzten Jahren und Jahrzehnten keineswegs gekappt wurden, sondern ständig angestiegen sind, ebenso wie die Einnahmen. Der Anteil der «sozialen Wohlfahrt» am helvetischen Staatsbudget ist jener Posten, der mit mittlerweile über einem Drittel (!) am meisten ins Gewicht fällt (nicht etwa die Armee oder Subventionen an die Bauern, wie einige Nostalgiker glauben mögen), und dies notabene bei steigenden Staatseinnahmen.

2. Grund: Direktvergleich

Wir leben nicht nur in historisch beispiellosen Wohlfahrtsstaaten, sondern auch in bisher nie dagewesenen Grossgesellschaften. In modernen Demokratien tummeln sich Millionen von Individuen – und seit sie die Privilegierungen des Ancien Régime abgeschafft haben, dulden sie keine selbsternannte Autorität mehr über sich. Die beschriebene Diskrepanz zwischen realem und gefühltem Wohlstand ist typisch für Gesellschaften der Gegenwart mit einem hohen Grad an Individualisierung. Das voraussetzungslose Leben gilt als neues Ideal, das aber leider nur rhetorisch alle teilen. Denn sind die physischen Schlachten geschlagen, werden nun die emotionalen Kriege ausgefochten: Jeder vergleicht sich plötzlich mit jedem, auch und gerade nach oben, wobei es längst nicht alle aushalten, mit dem Resultat des Vergleichs zu leben. «Die moderne Welt», so hat Sloterdijk mir gegenüber einmal in einem Interview zu Protokoll gegeben, «ist die Welt des entfesselten Direktvergleichs.»4 

Wer im Vergleich schlecht wegkommt, ist geneigt, die Schuld am Zurückbleiben hinter den eigenen Ambitionen den anderen in die Schuhe zu schieben – sie waren es, die mich an meiner Selbstverwirklichung gehindert haben. Auf Ambition folgt Reklamation. Der Hyperindividualist fragt sich: Wenn der andere es zu mehr Einkommen, Kompetenz oder Status bringt als ich, hat er dann diesen Erfolg letztlich nicht einem unverdienten Vorteil zu verdanken? Und sollte er einfach Glück gehabt haben – ist die Fortuna nicht unfair, da sie Leute unbesehen ihrer echten Verdienste belohnt? Der Egalitarismus ist die Obsession demokratischer Grossgesellschaften. Sie hält sich an die Gedankenkette: Individuum = Unterscheidung = Ungleichheit = Ungerechtigkeit = Herstellung von Gerechtigkeit durch den Staat = Gleichheit = Benachteiligung der anderen. Was unseren egalitären Gesellschaften fehlt, ist ein positiver Begriff von Ungleichheit. Hier schlägt der Hyperindividualismus in gleichmacherischen Egalitarismus um, der Stolz in Neid. Die anonyme Grossgesellschaft soll gefälligst die Privilegierungen beseitigen, denn Auszeichnungen der anderen sind Raub an meinen eigenen Lebenschancen. Und so kommt es, dass in den im Schnitt reichsten und egalitärsten Grossgesellschaften aller Zeiten viele Menschen sich so fühlen, als wären sie unterdrückte Bauern im Ancien Régime. Obwohl sie es nicht sind. Und auch nicht sein müssten. 

 



1 Peter Sloterdijk (2004). Sphären III: Schäume. Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 805.

2 Vgl: Marco Salvi. Mythos: Steuerbelastung. In: Schweizer Monat 1014,
März 2014: 58–60.
3 Vgl. Economiesuisse. Einkommensverteilung und Steuerreformen
in der Schweiz. In: Dossierpolitik 7, April 2012. Und: Avenir Suisse (Hrsg.).
Verteilung. In: Avenir Spezial, Juli 2013.
4 René Scheu trifft Peter Sloterdijk: Die verborgene Grosszügigkeit.
In: Schweizer Monat Sonderthema 7, November 2012. Vgl.
dazu weiterführend: René Scheu. Als wären wir alle Unterdrückte.
In: Die Weltwoche Nr. 29/2014: 56 ff.


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