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Der leere Planet

Um das Jahr 2050 herum wird die Weltbevölkerung ihr historisches Maximum erreicht haben. Von da an, und erstmals in der Geschichte der Menschheit, werden wir nicht mehr, sondern weniger. Das sorgt für neue Probleme – löst aber voraussichtlich auch einige der grössten, die wir heute haben.

 

Das massgebliche Ereignis des 21. Jahrhunderts – und gleichzeitig eines der bedeutendsten in der Menschheitsgeschichte – wird in rund dreissig Jahren stattfinden: das Ende des für Jahrhunderte andauernden Weltbevölkerungswachstums. Wir haben es dann nicht länger mit der vielzitierten Herausforderung einer «Bevölkerungsexplosion» zu tun, sondern vielmehr mit derjenigen eines Bevölkerungsschwunds – einer unerbittlichen Dezimierung der Menschheit, Generation für Generation. Nichts Derartiges hat es jemals gegeben.

Falls Sie diese Nachricht überrascht, ist das wenig verwunderlich: Die UNO prognostiziert weiterhin, die Weltbevölkerung werde im Verlauf dieses Jahrhunderts von 7 auf 11 Milliarden Menschen anwachsen und sich ab 2100 auf diesem Niveau einpendeln. Doch immer mehr Demografen weltweit halten die Einschätzungen der UNO für deutlich zu hoch. Es sei wahrscheinlicher, sagen sie, dass die Bevölkerung unseres Planeten ihren Höhepunkt von rund 9 Milliarden irgendwann zwischen 2040 und 2060 erreiche. Gegen Ende des Jahrhunderts dürften wir wieder auf dem Stand von heute sein, aber im steten Abstieg begriffen.

Der Wohlstand wächst, die Geburtenraten sinken

Schon heute sinken die Bevölkerungszahlen in mehr als zwei Dutzend Ländern – darunter einige der wohlhabendsten Nationen wie Japan, Südkorea, Spanien, Italien, aber auch ein Grossteil Osteuropas. Doch das ist nicht die grosse Neuigkeit. Sie ist, dass bald auch in den grössten Schwellenländern die Bevölkerungszahlen infolge zurückgehender Fertilitätsraten schrumpfen werden. In China ist es schon in wenigen Jahren so weit, gegen Mitte des Jahrhunderts erfasst der Trend auch Brasilien und Indonesien. Sogar in Indien, das bald das bevölkerungsreichste Land der Erde sein wird, kommt das Wachstum wohl innerhalb der nächsten Generation zum Stillstand und wird dann negativ. Hoch bleiben die Fertilitätsraten vorerst nur in Subsahara-Afrika und in Teilen des Nahen Ostens, aber auch hier steht Veränderung an, insofern junge Frauen Zugang zu Bildung und Geburtenkontrolle erhalten. Afrikas aktuell unkontrollierter Babyboom wird jedenfalls viel früher enden als von den UNO-Demografen vorhergesagt.

Es wird keine 40 Jahre dauern, bis wir die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs zu spüren bekommen. Wie sehen sie aus? Wir erleben sie schon heute in Ländern von Japan bis Bulgarien, die Schwierigkeiten haben, ihr Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, weil die Kohorte junger Arbeitskräfte und Konsumenten schrumpft, wodurch es schwieriger wird, sowohl soziale Dienste anzubieten als auch Kühlschränke zu verkaufen. Wir sehen es in Südamerika mit seiner zunehmenden Urbanisierung und sogar in Afrika, wo Frauen mehr und mehr ihre Geschicke in die eigene Hand nehmen können, da ihr Wohlergehen nicht länger von möglichst vielen männlichen Nachkommen abhängt. Wir sehen den Wandel sogar in jedem einzelnen europäischen Haushalt: Die Nachkommen lassen sich mehr Zeit mit dem Gründen eigener Hausstände und haben nicht die geringste Absicht, vor 30 Kinder zu kriegen. Und tragischerweise sehen wir den Bevölkerungsschwund auch am Mittelmeer, wo Flüchtlinge aus elenden Orten die Grenzen eines Europas bestürmen, das sich zu leeren beginnt.

China, Afrika, die USA und der Nahe Osten: Krieg oder Frieden?

Bald werden wir erleben, wie der Bevölkerungsrückgang das globale Machtgefüge beeinflusst, er wird das Wesen von Krieg und Frieden in den nächsten Jahrzehnten verändern: Einige Länder werden mit den Konsequenzen kämpfen, die Schrumpfung und Alterung ihrer Bevölkerungen mit sich bringen; andere bleiben fähig, sich selbst zu erhalten. Die bestimmende geopolitische Herausforderung der nächsten Dekaden könnte ein wütendes, ängstliches China sein, das mit den Folgen seiner katastrophalen Einkindpolitik konfrontiert wird, darunter eine grosse Zahl unglücklicher, unverheirateter junger Männer. Davon geht potentiell eine grosse Gefahr aus. Es ist aber auch vorstellbar, dass China seine demografischen Herausforderungen bewältigt und einen friedlichen Übergang zu einer reifen Weltmacht schafft. Wenn zudem andere potentielle Krisenherde – Nordkorea, Iran und wer immer noch dazukommt – es schaffen, keine Kriege zu provozieren, könnte die Welt in eine neue Ära des Friedens eintreten, eines geradezu «geriatrischen» Friedens. Dieser Begriff wurde von dem Politologen Mark Haas geprägt. Haas argumentierte, die rasche und deutliche Alterung der Bevölkerungen Chinas und Russlands hindere diese Länder daran, die USA als militärisch und wirtschaftlich führende Nation zu überholen. Die Schwierigkeiten, die wachsenden Ansprüche ihrer ergrauenden Gesellschaften zu erfüllen, würden sie aufzehren. Und die USA? Dank anhaltender Einwanderung dürften sie langsamer altern als andere Grossmächte und könnten so ihre Führung weiter ausbauen – jedenfalls solange sie nicht durch Schliessung ihrer Grenzen demografischen Selbstmord begingen. Und auch in einem Afrika und einem Nahen Osten mit fallenden Fertilitätsraten würden Warlords und Ideologen immer weniger Rekruten finden. Abnehmendes Wachstum heisst also: weniger Wettbewerb um knappe Ressourcen. Das Drängen eines überbevölkerten Afrikas gegen ein sich leerendes Europa könnte schwächer werden.

«Die Welt wird nicht gleichmässig altern. Afrika wird zum Ende dieses Jahrhunderts immer noch «jung» sein.»

Eine bedeutende Variable im Streben nach Frieden wird, wie immer, der Nahe Osten sein – der am intensivsten umkämpfte Ort der Welt. Auch hier schauen wir voller Hoffnung auf den Segen abnehmender Fertilitätsraten. Die sind am höchsten in den unglücklichsten Orten der Welt: Afghanistan (5,2), Irak (4,0), Jemen (3,8). Diese clanbasierten Kulturen sind tief religiös, grösstenteils ländlich und gänzlich instabil. Die Lebensbedingungen für Frauen sind so feindlich wie sonst fast nirgends. Doch die Fertilitätsrate des Irans beträgt nur 1,8, dank jahrzehntelanger Bemühungen der iranischen Regierung, das Bevölkerungswachstum zu begrenzen. Ihr Erfolg hat die Mächtigen in Teheran aufgeschreckt: Man versucht nun, Eltern anzuregen, mehr Kinder zu kriegen. Tunesien, das einzige Land, das aus dem «Arabischen Frühling» mit einer demokratischeren Regierung hervorgegangen ist, weist eine Fertilitätsrate von 2,0 auf. Sogar in Saudi-Arabien, wo Frauenrechte durch die Sharia enorm eingeschränkt sind, beträgt die Fertilitätsrate lediglich 2,1 – gerade genug, die Bevölkerungszahl konstant zu erhalten. Der kanadische Forscher Bessma Momani hat eine neue Generation junger arabischer Männer und Frauen identifiziert: gut ausgebildet, zunehmend weltlich, dank Smartphones global informiert, unternehmerisch und ohne viel Geduld mit den alten Männern, die ihre Länder ruiniert haben. Der Tag dieser Generation werde kommen, glaubt Momani.

Ungleichmässiges Altern

Die Welt wird nicht gleichmässig altern. Afrika wird zum Ende dieses Jahrhunderts immer noch «jung» sein. Der Kontinent wird von Megalopolen, riesigen Städten, beherrscht sein – zweifellos chaotisch und stinkend und schlecht geplant, doch ebenso lebenskräftig, pulsierend und vor neuen Ideen strotzend. Es könnte durchaus sein, dass die wirklich aufregende Musik, die tatsächlich bahnbrechenden Innovationen, das revolutionäre Denken der letzten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts eher aus Lagos oder Mumbai kommen als aus Paris oder Tokio.

Manche Analysten prophezeien, kleinere Familien könnten die Gesellschaft reicher machen, weil sie es den Eltern erlaubten, mehr Zeit in die Arbeit zu investieren, was ihre Fähigkeiten auf dem Job und das Einkommen – das für das Kind eingesetzt werden kann – erhöht. Wir haben da so unsere Zweifel. Aber ebenso wenig wollen wir den Teufel in Form eines umgekehrt-malthusianischen Szenarios, in dem der Bevölkerungsschwund zu wachsender Armut und zunehmendem sozialem Stress führt, an die Wand malen.

So mancher, der die Konsequenzen einer schwindenden Bevölkerung fürchtet, preist staatliche Massnahmen zur Erhöhung der Geburtenrate. Doch wenig spricht dafür, dass solche Massnahmen fruchten. Die Hypothese einer sogenannten «Low-Fertility Trap» besagt, dass, sobald ein oder zwei Kinder pro Elternpaar die Norm werden, sich diese Norm verfestigt. Paare sehen das Kinderkriegen nicht mehr als Pflicht, die sie ihren Familien oder ihrem Gott schulden. Vielmehr bedeutet ihnen Elternschaft Selbstverwirklichung. Und dieses Bedürfnis ist erfahrungsgemäss rasch gestillt.

Migration als Ausgleichsmacht

Wie umgehen mit dem Schwinden der jungen, tatkräftigen Trägerschichten der entwickelten Marktwirtschaften? Eine mögliche Lösung angesichts des Bevölkerungsschwunds wäre es, die Lücken durch Einwanderung zu füllen. Die beiden Autoren dieses Essays sind Kanadier: Seit Jahrzehnten schon nimmt Kanada mehr Immi­granten pro Kopf auf als viele andere entwickelte Länder. Und das so gut wie ohne ethnische Spannungen, Ghettos und wütende Debatten, wie es sie anderswo gibt. Der Grund dafür ist, dass Kanadier Einwanderung als wirtschaftsfördernde Massnahme verstehen – dank des leistungsabhängigen Punktesystems sind in Kanada Einwanderer im Schnitt höher gebildet als Einheimische – und dass sie das Ideal des Multikulturalismus bejahen: das allgemeine Recht, die eigene Kultur innerhalb des kanadischen Kulturmosaiks auszuleben. So ist eine friedliche, prosperierende, polyglotte Gesellschaft entstanden – gesegnet wie kaum eine andere.

«Welche wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen auch immer der Bevölkerungsschwund mit sich bringt – was den Kampf gegen die Erderwärmung betrifft, ist er ein Segen.»

Natürlich: Nicht jedes Land ist in der Lage, Massen von Neuankömmlingen mit gleicher Souveränität aufzunehmen. Viele Koreaner, Schweden oder Chilenen haben ein ausgeprägtes Bild davon, was es heisst, Koreaner, Schwede oder Chilene zu sein. Frankreich verlangt von Einwanderern, sie sollten «französisch» werden, wobei viele Alteingesessene bestreiten, dass so etwas überhaupt möglich sei. Die Folge sind Banlieues, in denen Einwanderer unter sich bleiben. Die Bevölkerung Grossbritanniens wird gemäss Prognosen der UNO von heute 66 Millionen auf 82 Millionen gegen Ende des Jahrhunderts anwachsen – allerdings nur, wenn die Briten auch weiterhin bereit sind, ein robustes Mass an Einwanderung hinzunehmen. Um der Entvölkerung zu begegnen, müssen Nationen sowohl Immigration als auch Multikultu­ralismus akzeptieren und gestalten lernen.

Gute Aussichten 

Es ist gut vorstellbar, dass unsere zahlenmässig überschaubarere Zukunft erfreuliche Aspekte haben wird: Sie wird sauberer sein, sicherer, ruhiger. Die Meere beginnen aufgrund sinkender Nachfrage und Ausbeutung zu gesunden, die Atmosphäre wird zumindest nicht mehr wärmer, weil die verbleibenden Menschen in grösseren Städten wohnen werden und der Bedarf an Autos und Energie deutlich sinken dürfte. Welche wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen auch immer der Bevölkerungsschwund mit sich bringt – was den Kampf gegen die Erderwärmung betrifft, ist er ein Segen. Die weltweite Urbanisierung sorgt ausserdem dafür, dass sich gewisse Agrarflächen wieder in Wildnis verwandeln, die wiederum als CO2-Speicher agiert sowie Artenvielfalt befördert.

Die Menschheit wurde in der Vergangenheit durch Hungersnöte oder Epidemien dezimiert. Dieses Mal dezimieren wir uns selbst: Wir entscheiden uns dafür, weniger zu werden. Wird diese Entscheidung von Dauer sein? Die Antwort lautet vermutlich: ja. Wohl ist es Regierungen hie und da gelungen, durch Massnahmen wie etwa grosszügige Betreuungsförderung die Anzahl Kinder pro Elternpaar zu erhöhen. In keinem Fall jedoch waren solche Massnahmen ausreichend, die Fertilitätsraten auf das Ersatzniveau von 2,1 Kindern pro Frau anzuheben. Zudem sind derlei Programme sehr teuer und oft genug fallen sie in wirtschaftlich schwachen Zeiten dem Rotstift zum Opfer. Es liesse sich sogar behaupten, dass Regierungen unethisch handeln, wo sie Paare überreden, Kinder in die Welt zu setzen, die sie ansonsten nicht bekommen hätten.

Begrüssen oder betrauern wir diese Entwicklung? Wird Europa bald voll Bewunderung und Neid nach Afrika mit seinen vielen Kindern schauen? Werden wir in einer Zeit schrecklicher Kriege leben oder unter einer Pax Indica? Einer der ständigen Verminderung oder einer der Erneuerung? Wir wissen es noch nicht genau. Was wir wissen: Der anstehende, grosse Bevölkerungsschwund ist nicht der einzige Faktor, der unsere Zukunft bestimmt. Aber er wird sie bedeutend mitgestalten. Wir haben diesen Umstand zu lange ignoriert – es ist Zeit, sich endlich auf die kleinere, überschaubarere Welt mit ihren neuen Gesetzen, Problemen und Chancen vorzubereiten.


Aus dem Englischen übersetzt von Jan Meyer-Veden.

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Tyler Cowen, zvg.
Wachstum heisst Wohlstand

Die langfristigen positiven Auswirkungen des Wirtschaftswachstums werden dramatisch unterschätzt. Wir sollten politische Massnahmen nicht nach ihrer Sofortwirkung beurteilen, sondern nach ihrem Einfluss auf den Innovationspfad.

Joel Mokyr, fotografiert von Basso Cannarsa/Opale/Leemage/laif.
Vom Baum der Erkenntnisse

Ja, wir haben die tiefhängenden Früchte des technischen Fortschritts schon gepflückt, aber die Wissenschaft ermöglicht es uns, immer höhere Leitern zu bauen. Bei der Beurteilung des Innovationstempos sollten wir uns nicht auf BIP-Zahlen verlassen. Sie führen in die Irre: Uns steht keine Stagnation bevor.

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