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Der Kreislauf von Achtung und Ächtung

Am 2. Oktober 2001 blieb die Flotte der Swissair für immer am Boden. Fünf Jahre später wurden ihre Manager vom Bezirksgericht Bülach freigesprochen, unter ihnen Eric Honegger, seinerzeit Präsident des Verwaltungsrats und interimistischer Unternehmensleiter der SAirGroup. In «Erinnerungs-Prozess» schreibt er über seine Erfahrungen vom Grounding bis zur Urteilsverkündung. Eine Besprechung in 14 Punkten.

Der Rezensent kommt zu folgendem Urteil:

(1) Dieses traurige Buch erzählt die Geschichte des Bülacher Swissair-Strafprozesses aus der Sicht eines Angeklagten. Aber es ist viel mehr: ein Lehrstück über Aufstieg, Sturz und Wieder-Aufstehen; eine Fallstudie für die Reputationsforschung.

(2) In Kafkas «Prozess» heisst es: «Das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.» Dieser Satz geht dem Buch als Motto voran. Ganz richtig ist er nicht. Der Prozess – nicht nur der juristische – ist schon das Urteil. Oder vielmehr die Strafe, die des förmlichen Entscheids gar nicht mehr bedarf. Am Ende heisst es denn auch: «Die Strafe erlebe ich seit sechs Jahren, ohne verurteilt zu sein» (S. 179). So erweist sich der Begriff der Vorverurteilung als ungenau. Es gibt keine Vorverurteilung im Sinne verfrühter Urteile, keine Vorwegnahme staatlicher Urteile. Die «Vorverurteilenden» sind Verurteilende aus angemasster Kompetenz. Die sogenannte Unschuldsvermutung bleibt eine schöne Blume im Garten strafrechtlicher Gelehrsamkeit. Dies ist eine Pervertierung aufklärerischer Prinzipien. Ob es nach Jahren noch zu einem Urteil von Staates wegen kommt, interessiert regelmässig niemand mehr, Freisprüche bleiben fast wirkungslos. Was kümmern uns unsere kleinen Hinrichtungen von gestern…

(3) Das Buch sucht nicht Stilisierung und literarischen Glanz. Einfach und redlich beschreibt Eric Honegger seinen Werdegang. Dass sich durch seine Schilderung eine feine Spur von Naivität zieht, hängt sicher damit zusammen, dass ihm, dem Bundesratssohn, vieles in den Schoss gefallen ist. Wie konnte es dazu nur kommen? Auf den Schock dann der Versuch, aus dem eigenen Leben und Verhalten klug zu werden. «Schreiben heisst Gerichtstag halten über sein Ich», sagte Ibsen. So wählt sich Honegger das Tribunal selbst. Er stellt sich auch die Fragen. Seine Autobiographie ist Selbstgericht im Zuge der Selbstfindung und-

wiederfindung. Der Versuch, sein Handeln zurekonstruieren, misslingt – muss misslingen. Die Protokolle erweisen sich als unvollständig und führen dadurch in die Irre, manchmal gar ins Irre. Sie geben das Ungesagte, Selbstverständliche, vielleicht das Entscheidende nicht wieder. Im Augenblick des Handelns weiss man, weshalb man so und nicht anders handelt, aber dieses Wissen geht schnell verloren. Später recherchiert man verzweifelt im eigenen Kopf, in den fehlerhaften Archiven menschlicher Erinnerung, aber ganz findet man nicht mehr zurück, findet man sich nicht wieder. Als Zeuge seiner selbst taugt man nur beschränkt. Nicht immer also lügt, wer sich anders erinnert als die Akten. Die natürliche Inkonsistenz und den Interpretationsspielraum um die aus dem Leben gegriffenen Papiere kennt übrigens jeder Prozess. Man kann mit denselben Akten so gut die Klage begründen wie die Verteidigung gegen sie.

(4) Einer, der den Staat repräsentierte, fühlt sich von demselben Staat entwürdigt. Er erlebt die andere Seite des Rechts. Wenig filmgerecht wird er einvernommen und durch eine Hausdurchsuchung staatlich überfallen. Wer einmal vom Staat so behandelt worden ist, vergisst das nicht mehr. Er wird sein Verhältnis zu jenem für immer ändern. Auf einmal zeigt sich der Staat als Gegner. Wer einem nicht mehr traut, dem kann man auch seinerseits nicht mehr trauen. Das «Urvertrauen» in den Staat, das ältere Staatsrechtler noch immer beschwören, wandelt sich in ein Ur-Misstrauen. Der Staat hat viele Gesichter, und noch in der besten Form seiner Verwirklichung auch dumme und böse. Man kann ihm über Jahre gedient haben, und dennoch betrügt, erniedrigt, enteignet er einen aufs legalste. Es gibt keine Demokratie ohne morbide Flecken behördlicher Schamlosigkeit. Von diesem Staat will Eric Honegger sich nicht aushalten lassen. Mit seinem Verzicht auf eine Rente hat er sich eine Last abgenommen. Das erstaunt und leuchtet traurig ein.

(5) In der Darstellung Honeggers muss es der Staatsanwaltschaft nicht immer bewusst gewesen sein, welche Art Staat zu vertreten sie beauftragt war. Würde und republikanische Demut gingen ihr, scheint es, phasenweise ab. Staatsanwälte, die nie ein Unternehmen geführt haben, geschweige denn eines wie den Swissair-Konzern, sollen beurteilen können, wie die damalige Unternehmensführung hätte handeln sollen. Wer befragt denn die Staatsanwälte? Honegger lernt, dass dies in einem Strafrechtsprozess nicht vorgesehen ist. Er präsentiert ein Laientheater auf Staatskosten – die Staatsanwaltschaft «als geschützte Werkstatt» (S. 149).

(6) Ein document humain nicht nur in bezug auf den Verfasser. Der Fallhöhe entspricht die Häme. Niedrigkeiten grossen und kleinen Stils: weiterkolportierte Lügengeschichten, anonyme Briefe, telephonische Belästigungen, ein Gebräu aus Gift und Galle aus den niedersten Regionen der Volksseele.

(7) Im Fall wird Grösse zur Null. Sie verliert ihren wichtigsten Wert: die Reputation. Honegger fällt aus den Wolken aller prominenten Verwaltungsräte. Ob er strafrechtlich relevant gehandelt hat, spielt keine Rolle. Sein Delikt ist der dramatische Verlust des ehemaligen Rufs. Er ist definitiv. Ohne Reputation keine Bedeutung mehr, schlimmer noch: man wird zur Last, zur Altlast, zur negativen Energie. Die soziale Mechanik, das Gesellschaftsspiel mit der Frage: «Wem widme ich meine teure Zeit und Aufmerksamkeit?», führt dazu, dass gemieden wird, wer seine Reputation verloren hat. Ob mit Grund und Recht, spielt keine Rolle. Wer sich mit Personen sehen lässt, die ihr Ansehen eingebüsst haben, riskiert Verlust an eigener Reputation. Es kommt zu Absetzbewegungen. Viele melden sich nicht mehr. Honegger erkennt, dass Beziehungen nicht dasselbe sind wie Freundschaften. Manche sehen sich gezwungen zur Distanzierung, zum Beispiel die Politiker der eigenen Partei. Solidarität wäre mutig – und für viele ein politischer Nachteil. Dass die Gegner den Fall ausschlachten, verwundert daher nicht. Man wirft Steine, auch aus dem Bundeshaus. «Wenn es darum geht, gegen den Strom zu schwimmen, darf man nicht auf die Unterstützung von Politikern hoffen» (S. 87), schreibt der ehemalige Politiker. Politik erzieht zum habituellen Opportunismus. Im Vorteil, wer ihn schon im Blut hat.

(8) Zynismus ist das Gesetz vieler Medien. Viele Journalisten sind noch schamloser als die Politiker opportunistisch. Auf dem Altar einer süffig-verkaufbaren Geschichte schlachten sie ohne Hemmung. Gestürzte Grössen sind eine Hauptspeise. Die Journalisten prüfen nicht, «ob die von ihnen vermittelte Information wahr ist. Noch weniger kümmert sie, was sie bei den Personen anrichten, über die sie falsch berichten» (S. 65). Freispruch in erster Instanz, gut. Wie steht es aber mit jenen Journalisten, die den Angeschuldigten über Jahre hinweg Unrecht getan haben? Es gehört zum Zynismus des real existierenden Boulevards, dass manche Medien nach der Rehabilitierung auch auf diesen Zug aufspringen; dass Honeggers Buch in Zeitungen, die sich für jede Schlagzeile hergegeben haben, gelobt wird. Die linke Hand weiss heute nicht mehr, was die rechte gestern angeschwärzt hat. Denn jeder Tag beginnt mit einer sauberen neuen Moral.

(9) Die Swissair-Literatur blüht. Die Zahl der Bücher zu ihrem Niedergang steigt. Auch der Tages-Anzeiger berichtete täglich aus der trostlosen Bülacher Mehrzweckhalle. Sein Reporter wurde selbst zum Ereignis gemacht und aus seinen Berichten ein Buch. Der Tages-Anzeiger blieb dran. Er informierte über dieses, mit dem Lob eines Blick-Kolumnisten verzierte, Buch. Dann durfte der Reporter des Tages-Anzeigers das Buch an einer Veranstaltung des Tages-Anzeigers öffentlich präsentieren. Der Tages-Anzeiger war dabei und berichtete von dem Auftritt. Wer diesen Prozessberichterstattungsprozess widerlich findet, will von den Mechanismen der Medienwirtschaft nichts wissen.

(10) Eine persönliche Veränderung der radikalen Art. Das Ausscheiden aus Ämtern, der Verlust von Einkommen, der Verlust der öffentlichen Achtung, Beschuldigungen, systematische Persönlichkeitsverletzungen durch die Medien, die rüde Behandlung durch die Strafverfolgungsbehörden – all das blieb nicht wirkungslos. Honegger fiel in frei-unfreiem Fall in ein höllentiefes Loch aus Angst. Die Folgen waren eine kapitale Verunsicherung, eine ins Physische übergreifende Qual, Abscheu vor Photographen. Man sass wie im falschen Film, aber dieser Film erwies sich albtraumhaft regelmässig als der richtige. Also nichts wie weg? Es kam zu Überlegungen, die Schweiz zu verlassen. Doch Honeggers Auswanderungsdrang liess sich nicht verwirklichen. Die Schweiz blieb die weniger schlechte Alternative.

(11) Manche bleiben über sehr lange Zeit gesellschaftlich non grati. Aber auch Revivals sind zu beobachten. Notwendig ist viel Widerstandskraft. Nach Monaten der Zurückgezogenheit der Gang zu den Menschen. Sich nicht selbst ab- und eingrenzen. Denn es gibt keine Rückkehr, nur die Flucht nach vorn. Auch dazu dient dieses Buch; es ist, medizinisch gesprochen, nicht nur Diagnose, sondern fraglos auch Therapie.

(12) Es besteht Hoffnung, dass sich allmählich auch in der Schweiz die negative Bewertung des Scheiterns ändert. Der «Gescheiterte» kann wertvolleres gelernt haben als jener, der’s nie versucht hat. Er verfügt über teuer bezahlte Erfahrungen, über eine teuer erkaufte Schärfung seines Risikobewusstseins. Wer durch eine Krise gegangen ist, bewährt sich in der nächsten Krise eher.

(13) Wer eine Aufgabe übernimmt, der er nicht gewachsen ist, den trifft ein Übernahmeverschulden. Auch und vielleicht noch grössere Schuld aber laden auf sich, die ihn zur Übernahme ermuntert, gedrängt haben. In jenen fernen Zeiten vor 2001 wurden die Verwaltungsräte nach dem System der Kooptation bestimmt, die Aktionäre hatten am Ende abzunicken. Der Swissair-Fall markiert hier eine Zeitenwende. Die Rekrutierung von Verwaltungsräten hat sich professionalisiert. Deshalb gibt es in diesem bürgerlichen Trauerspiel nicht nur Verlierer. Viele, die das Glück hatten, im richtigen Zeitpunkt nicht am falschen Ort zu stehen, haben mit Schaudern die Lehren gezogen.

(14) Alle Kosten dieses Urteils trägt der Rezensent.

Eric Honegger: «Erinnerungs-Prozess». Zürich: Ammann, 2007.

Thomas Sprecher, geboren 1957, ist Rechtsanwalt in Zürich.

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