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«Der Kompromiss, den wir geschlossen haben, war von vornherein korrupt»
Glenn Loury, zvg.

«Der Kompromiss, den wir
geschlossen haben, war von
vornherein korrupt»

Glenn Loury sagt, dass Antidiskriminierungsmassnahmen wie Affirmative Action keine Rassengleichheit herbeiführen könnten. Der Ökonom kritisiert, dass in der Rassismusdiskussion gewisse Aspekte tabuisiert würden.

Read the English version here.

Glenn Loury hat seine Ruhe gefunden. In Providence im Gliedstaat Rhode Island, wo er 2005 eine Professur an der Brown University angetreten hatte, empfängt mich der Ökonom in seinem grosszügigen Haus, das einer Kirche ähnelt. Kein Vergleich zur South Side in Chicago, wo Loury aufgewachsen ist. Zur Ruhe gesetzt hat sich der 76-Jährige aber nicht; nach wie vor mischt er sich engagiert in die öffentliche Diskussion ein, etwa wenn es um Rassismus und sozialpolitische Fragen geht. Kürzlich hat er seine Memoiren unter dem Titel «Late Admissions» veröffentlicht, wo er seinen Aufstieg, aber auch Fehler und Rückschläge schildert und dabei niemanden schont – am wenigsten sich selber.

Glenn Loury, vor 60 Jahren sagte Martin Luther King, er wünsche sich für seine Kinder ein Land, in dem sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt würden. Wie viel näher ist das heutige Amerika diesem Ideal seit den 1960er-Jahren gekommen?

Von diesem Ideal sind wir noch weit entfernt. Ich würde da einen Unterschied machen: Nicht zu wollen, dass die Hautfarbe seiner Tochter sie daran hindert, Chancen zu haben, ist eine Sache. Das ist etwas anderes als die Vorstellung, dass ihre Hautfarbe keine Rolle spiele, dass sie irrelevant sei. Bei dem ersten Aspekt geht es darum, wie sie behandelt werden sollte, bei dem anderen darum, wer sie ist. Zu sagen, dass wir der Hautfarbe keine Beachtung schenken sollten, ist eine radikale Behauptung. Sie lässt etwas verschwinden. Sie lässt uns etwas vergessen.

 

Begeben wir uns hier nicht auf das Terrain der Identitätspolitik?

Ja, das tun wir. Ich persönlich habe damit meine Schwierigkeiten. Auf der einen Seite möchte ich sagen: Wachse über deinen Ursprung hinaus. Du beginnst als etwas, aber das definiert dich nicht. Ich möchte meinen schwarzen Mitbürgern sagen: Wir sind Amerikaner. Das ist unser Land – das ganze Land. Ich möchte sagen: Tolstoi gehört mir, Einstein gehört mir. Als Mensch kann ich ihre Genialität schätzen. Auf der anderen Seite sind mein Leben, die Dinge, die mich begeistern, die Erfahrungen, die ich gemacht habe, alle verwurzelt, sie sind nicht abstrakt. Sie haben eine bestimmte Basis: Geschichte, Kultur, Familie und so weiter. Das hat etwas von ethnischem Schwarzsein. Und das will ich nicht verlieren.

 

In Ihrer frühen Arbeit als Ökonom analysierten Sie die Rolle des Sozialkapitals für die menschliche Entwicklung und kamen zu dem Schluss, dass politische Massnahmen wie Antidiskriminierungsgesetze allein keine Rassengleichheit herbeiführen könnten. Fühlten Sie sich bestätigt, als der Supreme Court im vergangenen Jahr gegen Fördermassnahmen entschied?

Ja. Mein Denken über Affirmative Action hat eine Reihe verschiedener Phasen durchlaufen. Meiner Meinung nach hat das Gericht die richtige Entscheidung für das Land getroffen. Die Entwicklung der Vereinigten Staaten hängt davon ab, dass wir unsere In­stitutionen in Ordnung bringen: Verdienst, Exzellenz und die Beurteilung objektiver Leistungen stehen im Mittelpunkt der zivilisatorischen Integrität. Ich glaube, der Kompromiss, den wir geschlossen haben, war von vornherein korrupt. Das historische Problem ist, dass die Schwarzen nach dem Ende der Jim-Crow-Gesetze im Grossen und Ganzen nicht so weit entwickelt waren. Sie wurden zurückgehalten, sie wurden ausgegrenzt, sie wurden diskriminiert, sie wurden untergeordnet. Es gab nicht genügend qualifizierte Studenten. Aber auf dieses Problem zu reagieren, indem man andere Massstäbe anlegt und diese in den Rahmen der Institution einbaut, ist ein historischer Fehler von gewaltigem Ausmass. Ehrlich gesagt, hat der Supreme Court mit dieser Entscheidung das Land in gewisser Weise gerettet.

«Die Entwicklung der Vereinigten Staaten hängt davon ab, dass wir
unsere Institutionen in Ordnung bringen: Verdienst, Exzellenz
und die Beurteilung objektiver Leistungen stehen im Mittelpunkt der
zivilisatorischen Integrität.»

 

Aber man könnte argumentieren, dass Sie selbst von Affirmative Action profitiert hätten.

Das habe ich tatsächlich. Wo ist der Widerspruch? Ich kann dieses Argument nicht nachvollziehen. Ich schulde keiner Politik Loyalität, nur weil ich von ihr profitiert habe. Im Übrigen waren die Argumente damals andere als heute. Die Klage vor dem Supreme Court wurde nicht von Rassisten aus dem Süden eingereicht. Es waren asiatische Einwanderer der zweiten Generation. Und die Schwarzen müssen sich fragen: Wollen wir uns darauf verlassen, dass es für jede Ethnie eine Sonderregelung gibt? Ist das unsere Strategie: die anderen anflehen, uns eine Chance zu geben? Das hat nichts mit Würde zu tun, wenn man gleichberechtigt sein will. Wie kann man gleichberechtigt sein, wenn man darauf angewiesen ist, dass die Menschen die eigene Opfererzählung als moralisch verbindlich ansehen? Menschen müssen die Fähigkeiten erlernen, die es ihnen ermöglichen, in der modernen Welt erfolgreich zu sein.

 

Was muss sich Ihrer Meinung nach also ändern?

Wir könnten über Bildung sprechen, darüber, wie öffentliche Schulen finanziert werden, wie sie verwaltet werden, woher die Mittel kommen. Wir könnten über den sozialen Hintergrund, die Familie, die Gemeinschaft und die Normen sprechen. Ich habe kein Allheilmittel.

 

Im Jahr 2020 kam es zu Protesten wegen des Todes von George Floyd. Die europäischen Medien berichteten sehr positiv über diese Ereignisse. Die Forderungen nach einer Entlastung der Polizei haben jedoch zu einem Anstieg der Tötungsdelikte geführt, deren Opfer überproportional häufig Schwarze sind. Darüber wird jedoch kaum berichtet. Warum?

Weil wir über das reden, was die Leute, die entscheiden, worüber geredet wird, für legitim halten. Das ist auch parteipolitisch beeinflusst: Wenn die Republikaner und Donald Trump und Fox News über etwas auf eine bestimmte Art und Weise reden, dann will man nicht so reden. Man würde als Rassist beschimpft werden, wenn man es täte.

 

Die intellektuelle Klasse und die kulturelle Elite in den Medien und an den Hochschulen propagieren also ein bestimmtes Narrativ?

Ja. Ich denke, es gibt ein Narrativ, es gibt eine Klasse von gleichgesinnten Eliten. Ich sage schon lange, dass man, wenn man klug ist, versuchen sollte, die Diskussion über die Polizei zu entrassifizieren. Wenn die Polizisten diszipliniert oder strenger überwacht werden müssen, kann man das effektiver erreichen, wenn man sich auf Polizisten und Kinder konzentriert, nicht auf weisse Polizisten und schwarze Kinder. Wenn man anfängt, über die Ethnie des Polizisten und die Ethnie des Kindes zu sprechen, wird man bald über die Ethnie des Kriminellen und die Ethnie des Opfers sprechen. Nun sind Schwarze unter den Kriminellen stark überrepräsentiert. Ein anständiger Mensch darf darüber nicht sprechen, weil das als rassistisch gilt. Aber jeder kann es sehen. Etwas Ähnliches ist bei den Unterschieden in Intelligenztests zu beobachten. Es gibt objektive Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen, die sehr gross sind. Aber als Charles Murray darüber schrieb, nannten ihn alle einen Rassisten, und deshalb spricht niemand darüber. Es ist ein Tabu.

 

Stört es Sie, dass manche Leute Sie als schwarzes Maskottchen der Konservativen sehen könnten?

Konfuzius hat einmal gesagt: Ein Mensch sollte sich nicht darum sorgen, dass andere Menschen seine Leistung anerkennen; er sollte sich damit zufriedengeben, dass er sein Bestes getan hat. Das heisst, nicht mit dem ständigen Gedanken zu leben, ob andere sehen, was man erreicht hat, sondern in dem Wissen leben, dass man integer war, dass man diszipliniert war, dass man sich angestrengt hat – das sollte Belohnung genug sein. Natürlich gibt es Trolle, ich sehe zum Beispiel, was manche Leute in den sozialen Medien schreiben, aber ich lasse mich davon nicht sonderlich beunruhigen. Ich weiss, wer ich bin. Aber es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich in dieser Hinsicht viel unsicherer war und mich davon beeinflussen liess.

 

Sie haben politisch auf der linken Seite angefangen, sind dann nach rechts gegangen und dann wieder nach links. Jetzt nennen Sie sich selbst einen Konservativen. Wen werden Sie im November wählen?

Das werde ich Ihnen nicht sagen. Ich würde nie zugeben, Trump zu wählen. Aber es gibt andere Möglichkeiten. Ich habe mich noch nicht entschieden.

 

Ich muss sagen: Ich beneide Sie nicht um Ihre Wahl.

Ich denke, dass die Tatsache, dass Trump in vielen Kreisen beliebt ist, ein interessanter Aspekt der amerikanischen Politik ist, den man verstehen muss. Etwas steckt hinter der Unzufriedenheit mit den Regierungsstrukturen, die es einer Person wie Trump ermöglicht, an die Macht zu kommen. Das kommt nicht aus dem Nichts.

 

Das gilt nicht nur für die USA. Dasselbe Phänomen haben wir auch bei den jüngsten EU-Wahlen gesehen. Und ich denke, es ist zu einfach, es auf Populismus oder Rechtsextremisten zu schieben. Wenn die Menschen für Kandidaten wie Trump stimmen, dann sollte sich das Establishment fragen, warum, und vielleicht die eigenen Fehler analysieren.

Das ist es, was ich sage. Und zum Establishment gehören nicht nur Politiker, sondern auch Intellektuelle, Journalisten und Entertainer. In seinem Buch «Vom Ende des Gemeinwohls» schreibt Michael Sandel über die «Laptop-Klasse» in San Francisco oder New York, der es dank der Globalisierung und der modernen Wirtschaft gut geht. Auf der anderen Seite stehen die Menschen, deren Stadt vor die Hunde geht, weil die Fabriken geschlossen wurden, ihre Jobs weg sind und sie nicht mit den Chinesen oder Mexikanern konkurrieren können. Laut Sandel sagt die Laptop-Klasse, wenn sie glaubt, ihr Geld verdient zu haben, im Grunde den anderen, dass sie ihr leeres Bankkonto, ihre Frustration und ihre Opioidabhängigkeit verdient hätten. Das ist eine Einladung zu politischer Uneinigkeit und Unzufriedenheit, und ein Typ wie Trump könnte unter diesen Umständen gut abschneiden.

 

In Ihren Memoiren sind Sie sehr ehrlich, manchmal brutal ehrlich, was Ihre dunklen Seiten angeht. Sie haben Ihre Frau wiederholt betrogen, Sie sorgten für einen öffentlichen Skandal, als Sie Ihre Geliebte aus der Wohnung warfen, die Sie für sie gemietet hatten, Sie wurden kokainsüchtig … An manchen Stellen des Buches habe ich fast Wut empfunden und gedacht: Mensch, du hast so viel erreicht, und dann baust du solchen Mist … Warum?

Haben Sie jemals eine Antwort auf diese Frage erhalten?

 

Nicht wirklich, aber ich habe mir überlegt: Sie sind in der South Side von Chicago aufgewachsen und haben eine beeindruckende akademische Karriere gemacht. Sie wurden Professor an einer Ivy-League-Universität. Gleichzeitig waren Sie immer noch in der Kultur und in der Gemeinschaft verwurzelt, in der Sie aufgewachsen sind. Glauben Sie, dass das einen gewissen Einfluss hatte?

Ja, ich glaube, es war eine Identitätskrise. Ich wollte mich immer als authentischen Schwarzen sehen. Als ich als Austauschstudent an der Northwestern University in einer Fabrik arbeitete und mit meiner Frau und zwei Kindern von zu Hause zu den Vorlesungen kam, dachte ich, dass die anderen schwarzen Studenten kultivierter und zugleich weniger kultiviert waren als ich. Sie wussten mehr über die Welt, welche Gabel man beim Abendessen benutzt, welcher Wein zu Fisch oder Fleisch passt. Aber sie wussten weniger über die Strasse. Ich kannte die Strasse und war stolz darauf. Ich sah das als einen Anker meines Schwarzseins. Und was ich damit verband, waren Laster: Sex, Alkohol, Drogen, Glücksspiel. Selbst als ich den Weg der intellektuellen Entwicklung bis an die Spitze ging, wollte ich damit in Verbindung bleiben. Ich wollte sagen: Ich habe mich nicht verkauft, ich habe meine Seele nicht verloren.

 

Wie sehen Sie diese Überlegungen heute?

Heute erkenne ich, wie pervers es ist, Schwarzsein mit Laster zu identifizieren. Das ist das Denken von Rassisten! Ich überlasse es einem Psychologen oder Psychiater, darüber zu spekulieren, welche Art von Unsicherheiten und Selbsthass dahintersteckt.

«Heute erkenne ich,
wie pervers es ist, Schwarzsein mit Laster zu identifizieren.»

 

Wenn Sie Ihrem jüngeren Ich einen Rat geben könnten, wie würde der lauten?

Das Wichtigste, was ich sagen möchte, ist: Bleibe fokussiert. Verstehe, was wichtig ist, und konzentriere dich dann darauf. Es gab eine Zeit, in der ich meine verstorbene Frau, Linda, nicht gut behandelt habe. Dann wurde ich ein guter Ehemann, gab meine Drogensucht auf, hörte auf, herumzuvögeln, wurde Christ, wir bekamen zwei Kinder und kauften ein Haus. Und dann gab ich meine Verpflichtung gegenüber meiner Frau auf und fing wieder an herumzuvögeln. Und warum? Darauf habe ich bis heute keine Antwort. Ich verüble es einem Leser meiner Memoiren nicht, wenn er sagt: Ich mag diesen Kerl nicht. Ich kann mich an ein Gespräch mit meiner Frau erinnern, in dem sie mir mitteilte, dass sie wisse, dass ich ihr nicht treu sei. Sie kämpfte mit Brustkrebs, sie lag im Sterben. Das war ein Moment, in dem ich hätte umkehren können, ich hätte anerkennen können, dass sie recht hatte und es mir leid tat. Aber ich tat es nicht. Ich habe mich dem Moment nicht gestellt und mein Verhalten nicht geändert. Weil ich es nicht wollte.

 

Glauben Sie, Sie hätten es getan, wenn Sie damals Ihre Untreue gestanden hätten?

Ich würde mir das gerne selbst zutrauen. Aber ich bin mir nicht sicher. Der innere Feind ist ein Miststück.

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