Der Klassenbeste denkt nach
Der Schweiz drohen Prügel von der EU – wegen Bestnoten. Was tun? Weiter büffeln. Und sich profilieren: als globale Plattform oder als clever verzahnter Sonderfall.
Westeuropa zeichnet sich seit über 60 Jahren, der ganz grosse Rest des Alten Kontinents seit nunmehr immerhin 20 Jahren durch eine – geschichtlich gesehen – selten lange und relativ unproblematische Periode friedlichen Einvernehmens aus. Den Hintergrund dazu bildete gewiss der Schulterschluss zwischen Frankreich und Deutschland, und selbst Skeptiker der Europäischen Union werden zugeben, dass diese Organisation ein wesentliches Teil zu dieser für alle Länder Europas äusserst günstigen Situation beigetragen hat. In der europäischen Normalität war und ist der Gradualismus, das heisst eine besonders gemächliche Art der Fortbewegung, sozusagen institutionell eingebaut. Das lange Zeit vorherrschende Einstimmigkeitsprinzip verlangte viel aufwendige Taktiererei im Hintergrund, dann und wann eine starke Hand der unter den Gleichen nicht ganz gleichen Führungsnationen Europas.
Der Preis für die absichtlich mit so viel Unbestimmtheit versehene governance war und ist eine Vormachtstellung von Technokraten in Brüssel, mit deutlich erkennbarem elitärem Machbarkeitsdenken einerseits, andrerseits und als Folge davon Bürgerferne, niedrige Akzeptanz im Volk und ein Demokratiedefizit, das zunehmend auch auf die Mitgliedsländer ausstrahlt. Denn längst ist klar geworden, dass es sich lohnt, das, was man auf demokratischem Weg im Heimatland nicht zu bekommen vermag, durch intensives Lobbyieren in Brüssel zu erstreiten. Brüssel ist sozusagen der hub für Begehrlichkeiten aller Art geworden. Technokraten sind besonders empfänglich dafür, weil sie die Nähe von Ursache und Wirkung der generellen Regel ohne spezifische Zwecksetzung vorziehen.
Echte Sorgen bereitet aber nicht, was mit viel technokratischem Aufwand geschieht, sondern das, was vermieden, verschwiegen, schöngeredet oder vertuscht wird. Das Problem Europas besteht in der Setzung von Anreizen zu unsolidarischer, kurzfristig orientierter Nutzenoptimierung durch die Mitgliedsländer und im Mangel an Anreizen zur Wahrnehmung von Eigenverantwortung; das vielgepriesene Subsidiaritätsprinzip ist Illusion geblieben.
Die Finanzierungsprobleme Griechenlands für seine Schulden überraschen niemanden mit einigermassen intaktem ökonomischem Sachverstand. Der Euro war von Anbeginn ein technokratisches Konstrukt, wobei idealtypisch verstandene und konstruierte Solidarität nicht von Bestand sein kann. Die classe politique Europas hatte den Euro als zusätzliche Klammer für die innere Kohärenz und als kostenvermindernden Treiber für den Binnenmarkt erdacht. Äusseren Druck gab es nicht. Der Warschauer Pakt war längst schon Geschichte. Innere Bindung? Die Flächenexpansion der Europäischen Union wurde immer mehr zur Flucht nach vorne, um den vielen Fragezeichen der inneren governance auszuweichen. Im Wissen um die Defizite innerer Kohärenz errichtete man mit «Maastricht» ein Regelkorsett, das aber mehr Schein als Sein bedeutete, weil Regeln ohne Sanktionsmechanismus letztlich sinnlos sind. So liess man bekanntermassen zu, dass neue Mitglieder – wie zum Beispiel Griechenland – nicht nur beim Eintritt in die Währungsunion gegen die Regeln verstiessen, sondern darüber hinaus diesen Verstoss über die ganze Zeit fortsetzen konnten.
Der Eintritt in die Solidargemeinschaft Euro wurde zudem durch unrealistische Konversionsbedingungen versüsst. Danach genossen die marginalen Mitgliedsländer Finanzierungsbedingungen an den Kapitalmärkten, wie sie zuvor nur den solidesten Ländern wie Deutschland oder Holland offenstanden. Der Irrwitz dieser impliziten Solidaritätsleistung lag (und liegt noch immer) im Anreiz für schwachbrüstige Länder, noch mehr Schulden anzuhäufen. Ein kohärentes und hinreichendes Regelwerk würde als ultimative Sanktion auch den Ausschluss aus der Solidargemeinschaft umfassen. Und die Prozesse für einen solchen Ausschluss müssten – für den oder die Auszuschliessenden wie auch für den verbleibenden Rest – kristallklar formuliert sein.
Weshalb? Weil alles andere Unsicherheiten erzeugt, die für den Kapitalmarkt inakzeptabel sind. Die heutige Perzeption im Markt schwankt zwischen «Rettung für alle inbegriffen» mit entsprechender Belastung der Gesamtheit und «Rettung völlig ausgeschlossen» mit daraus resultierenden Risikoprämien für marginale Mitgliedsländer. Das ist unhaltbar. Es ist nicht ohne Grund, dass der Euro auch zehn Jahre nach seiner Einführung weit davon entfernt ist, eine ernstzunehmende Weltreservewährung zu werden.
Die EU könnte unter dem Druck der Ereignisse, in Abweichung von ihrem normalen Modus, vom Gradualismus zum hektischen Aktivismus übergehen. Die ersten Anzeichen sind bereits sichtbar. So spricht man in Deutschland von einem Europäischen Währungsfonds (EWF), in Frankreich von der Notwendigkeit einer europäischen Wirtschaftsregierung. Anstatt sich auf die Vielfalt Europas und die dezentrale Wahrnehmung von Verantwortung zu besinnen und falsche Solidarität durch föderale Subsidiarität zu ersetzen, sieht alles nach einem Übergang von der gespielten Idylle zur echten Zwangsgemeinschaft aus. Man will den Euro und die EU in der vorliegenden Form um jeden Preis retten und den Schaden des breitangelegten und fortgesetzten Missbrauchs begrenzen. Die EU verkommt zu einer Transferunion mit Geber- und Nehmernationen.
Die offensichtliche Not vieler Bürger Europas, zugleich in einem nicht sonderlich erfreulichen Normalzustand und unter dem Damoklesschwert eines Strukturbruchs in Richtung einer EU-Zwangsgemeinschaft oder eines Zerfalls leben zu müssen, könnte – sehr oberflächlich gesehen – Anlass zur Freude in der Schweiz sein. Denn wir behaupten uns unter den Ländern Europas als Klassenbeste. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass die Situation des Klassenbesten spätestens dann prekär wird, wenn neben Intelligenz und Fleiss auch Muskelkraft und die offene oder versteckte Drohung mit Gewalt zum Thema werden kann. Die Schweiz befand sich seit je tendenziell in dieser wenig komfortablen Lage; durch die Zerfallserscheinungen im europäischen Umfeld und den erstaunlichen helvetischen Wirtschaftserfolg hat sich die Angelegenheit nun allerdings zugespitzt.
Angesichts der geschilderten Situation Europas muss sich die Schweiz als quasi Klassenbester unter den Ländern Europas strategische Optionen zurechtlegen. Denn das Alpenland ist in hohem Masse abhängig von der Umgebung. Ein wesentlicher Teil der Infrastruktur wird gemeinsam betrieben und genutzt, es herrschen grosse Interdependenzen, was den Handel mit Gütern und die Erbringung von Dienstleistungen betrifft, schliesslich ist man auch im kleinen Grenzverkehr so eng verzahnt, dass oft kaum auszumachen ist, auf welcher Seite der Grenze man sich gerade befindet. Diese (gegenseitige) Abhängigkeit ist auf den kooperativen Spielmodus angewiesen; Machtausübung würde das fragile Gebilde rasch zum Einsturz bringen.
Nun, welche Möglichkeiten stehen dem schmächtigen, etwas bleichgesichtigen Klassenersten zur Verfügung, wenn er nicht Gefahr laufen will, eines Tages in einer dunklen Ecke des Schulwegs zusammengeschlagen zu werden? Ich sehe etwa die folgenden Optionen:
Erste Option: die «Grosse-Bruder-Strategie»
Die Drohung mit einer höheren Instanz ist nützlich – die Schweiz hat namentlich während des Kalten Kriegs im Sinne eines «don’t move» extensiv davon gezehrt. Sie setzt allerdings voraus, dass es einen solchen Bruder auch gibt und dass er, wenigstens theoretisch, auch kommen könnte. In der gegenwärtigen Situation steht diese Strategievariante für die Schweiz nicht zur Verfügung, zumal anlässlich des G20-Gipfels von vorletztem Jahr eine gewisse Gemeinsamkeit der Interessenwahrnehmung dies- und jenseits des Atlantiks festgelegt wurde.
Zweite Option: die «Join-Them-Strategie»
Der Vollbeitritt zur EU (im vermutlich ungünstigsten Zeitpunkt) würde eine völlige Änderung des bisherigen Lebensstils bedeuten, zum Beispiel die direkte Demokratie kosten, die ausgesprochen starken Volksrechte, den landesinternen Steuerwettbewerb, die eigene Währung und so weiter. Der Wohlstandsverlust wäre angesichts des grossen Gefälles programmiert, insbesondere wenn Europa infolge Zwangsgemeinschaft zu einer Art Aussenwirtschaftsfestung verkommt.
Dritte Option: «die Schule wechseln»
Dies findet bei unglücklichen Klassenersten oft und mit Erfolg statt, ist für ein Land inmitten eines Kontinents insgesamt aber ausgeschlossen. Gewiss, die Aussenhandelsstruktur der Schweiz hat sich in den letzten Jahren stark den asiatischen Ländern zugewandt. Die Schweiz ist insofern eine der globalsten Nationen der Welt. Doch ungeachtet der Virtualisierung der wirtschaftlichen Vorgänge über das Internet müssen wir uns auch für die fernere Zukunft wohl oder übel damit abfinden, dass wir in Europa sind und bleiben.
Vierte Option: «intelligente Verzahnung»
Entspricht dem Versuch des Klassenersten, seine komplementären Vorteile ins Spiel zu bringen. Stellt aber auch eine sehr aufwendige Methode dar, denn man muss dauernd darauf bedacht sein, einerseits allen genug zu «schenken», ohne ihnen anderseits einen Grund zu geben, sich mit anderen zu verbinden und mehr zu erpressen. Die Methode setzt mithin voraus, dass alle unnötigen Abhängigkeiten des Klassenersten laufend eliminiert werden, beziehungsweise dass der Unangreifbarkeit des eigenen Verhaltens höchste Priorität zukommt. Der Klassenprimus sollte nicht um seine Kollegen froh sein müssen, er darf nicht deren Sklave werden. Am besten gestellt ist er, wenn er notfalls doch noch von Strategie drei – «Schule wechseln» – Gebrauch machen könnte.
Die Schweiz als City State?
Wenn es ein echtes Problem mit dem Bilateralismus gibt (es könnte ja auch sein, dass es von Aktivisten aller Art lediglich herbeigeredet wäre…), dann das folgende: der Bilateralismus entspringt der strategischen Option Nummer eins, der Abstützung auf die teils sichtbare, teils unsichtbare schützende Hand jenseits des Atlantiks. Getragen wird er, seitens wesentlicher Teile der Bundesverwaltung und namentlich der Diplomatie, von der Sinngebung durch Strategie Nummer zwei, dem Beitritt zur EU, ist also lediglich Mittel zum Zweck und insofern keine echte strategische Option. Das Misstrauen, das die hiesige EU-Debatte kennzeichnet, gründet in dieser Ambivalenz des bilateralen Wegs. Unter den gegebenen Umständen drohender Strukturbrüche in Europa erweist sich der bilaterale Weg zwar nach wie vor als gangbar, aber nicht als hinreichend, um als valable Strategie längerfristig Bestand haben zu können.
Die vor ein paar Jahren ins Spiel gebrachte Option «Schweiz als City-State» stützt sich, je nach Ausformung, eher auf die strategische Option Nummer drei, die dezidierte Globalisierung, oder auf die vierte Variante, die intelligentere Einbettung in den europäischen Kontinent. Was letzteres heissen könnte, zeigen die jüngst abgeschlossenen Vereinbarungen zwischen der Schweiz und Deutschland respektive Grossbritannien über eine Abgeltungssteuer. Man verhandelt nicht nur mit Brüssel, sondern auch und vor allem mit den Hauptstädten gewichtiger Mitgliedsländer. Solches bedingt einen hohen Kenntnisstand über den Spielraum, der innerhalb Europas zur Verfügung steht, und entspricht insofern einer Art «hohen Schule» von Aussenpolitik und Diplomatie.
Ob eher globalisierte Plattform oder clever verzahnter europäischer Sonderfall: als City-State hätte die Schweiz die Chance, in einer Balance zwischen Selbstbehauptung und Kooperation zu einer Zukunftsvision zu gelangen, für die sich die Mehrheit unserer Landsleute erwärmen und die nächste Generation sich begeistern könnte.