Der Katastrophismus hat Hochkonjunktur …
… Aber schlaue französische Füchse aus dem Mittelalter können helfen, sich die republikanische Trias der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu vergegenwärtigen.
In der Europäischen Union verschlechtert sich alles, und allem voran in Frankreich. Die Statistiken häufen sich, die Umfragen bestätigen es, die Ökonomen erstellen dunkle Bilanzen, die Ökologen beschwören apokalyptische Gefahren, die Politiker hängen einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit nach, beklagen die Gegenwart und fürchten die Zukunft, dem demographisch schwachen alten Kontinent drohen im Osten wie im Süden Invasionen, wir überleben in einer belagerten Festung … Ich glaube nichts von alledem.
Der französische Bürger, heisst es, sei der deprimierteste auf Erden, seine Pessimismusrate übertreffe jene der Hungerleidenden der Dritten Welt – was ein eher ungünstiges Licht auf seinen gesunden Menschenverstand wirft: Versorgt, ernährt und mit einer zweimal so hohen Lebenserwartung dotiert, ist er doppelt so unglücklich. Diese liebenswerte Hypokrisie ist Zeichen dafür, dass die europäische Schwäche weniger materieller als moralischer Natur ist: Die herrschende Niedergangsstimmung ist Ausdruck mentaler Erschöpfung. Einmal mehr grämt sich Europa über jenes «Wertvakuum», das Hugo von Hofmannsthal im Österreich der Jahrhundertwende verurteilte. Ich weise diesen verbreiteten Katastrophismus entschieden zurück.
Denn wir sind keineswegs schutz- und wertlos, etwa gegenüber religiösen oder politischen Fanatismen – die doch letztlich nichts als eine chaotische Flucht vor dem Ansturm einer sich weltweit verbreitenden Modernität sind: Nichts rechtfertigt unsere Abstiegsangst, wenn in so vielen Winkeln der Welt der Wunsch nach laizistischer Emanzipierung durchbricht und Tabus und Despotismen anficht. In den täglichen News sind die Ideen zu entdecken, die in die Giebel unserer öffentlichen Gebäude eingraviert sind, jene erhabenen Antidepressiva, die Frankreich zur Ausnahmeerscheinung machten, bis manch andere sie für sich entdeckten. Rede- und Informationsfreiheit, Gleichheit zwischen Bürgern und Geschlechtern, Brüderlichkeit, die zwischen religiösen Überzeugungen und profaner Solidarität unterscheidet – diese Ansprüche, die allenthalben aufkeimen, sind aufs Engste mit Werten verbunden. Was aber sind eigentlich «Werte», und seit wann und mit welchen Folgen kreisen die ethischen Überlegungen um diese Grösse?
Werte als Krisen, Konflikte und Herausforderungen
Seit dem 19. Jahrhundert bezeichnet der Ausdruck «Wert» im Fahrwasser eines naiven Post-Kantianismus ein «Sein-Sollen», das sich deutlich vom Sein unterscheidet: Die Wissenschaft setzt Tatsachenurteile fest, die Moral verfährt mit Werturteilen. Auf der einen Seite die Realität, auf der andern das Reich der Zwecke. Der Konflikt zwischen diesen beiden wird im 20. Jahrhundert erneut aktuell. Max Weber etwa stellt der von Werten besessenen Gesinnungsethik die Verantwortungsethik gegenüber, welche die «realistische» Politik des Tatenmenschen rechtfertigt. Auf dem Fusse folgen Lukacs und Sartre, die sich mit den Verbrechen des Kommunismus arrangieren, während, umgekehrt, Pazifisten jeder Art Gewaltanwendungen ablehnen – ungeachtet der zuweilen fürchterlichen Folgen solcher Abstention. Auf der einen Seite die «Tugendritter» im Stile eines Don Quijote, auf der andern die Brutalität, die den Lauf der Welt prägt; der Wert des Realismus widerspricht dem Realismus der Werte.
Man beruft sich in diesem Konflikt entweder auf den Menschen, wie er ist, oder auf den Menschen, wie er sein sollte. Die Debatte dreht sich im Kreis und wird steril: Behandelt man die Frage der Werte in der Antinomie des Seins und des Sein-Sollens, gerät man in einen Teufelskreis. An diesem Punkt drängt es sich auf, mit Wittgenstein «dem Geschwätz über Ethik» ein Ende zu machen – und Werte stattdessen als Ausgeburten von Krisen, Konflikten und Kulturen zu betrachten.
Die Werte, heisst es, riefen allgemeine Zustimmung hervor. Doch beisst sich die Einhelligkeitsannahme mit der Erfahrung: Hat das 20. Jahrhundert nicht unsere unbestreitbarsten Werte umgestürzt? Im Namen des Friedens hat man für den Krieg mobilisiert wie nie zuvor; im Namen der Gerechtigkeit hat man die grössten Ungerechtigkeiten gerechtfertigt; im Namen der Brüderlichkeit litten Millionen von Menschen in Arbeits- und Todeslagern; im Namen des Verstandes liess man das Unmenschliche wachsen und sich vermehren. Unsere Erfahrung mit den «Werten» ist also vorab eine Erfahrung der Umkehrung. Solche Umstürze sind aber nicht spezifischen Situationen – Totalitarismus, Faschismus, Kolonialismus – geschuldet, sondern bilden eine Möglichkeit, die der westlichen Geschichte seit ihren Ursprüngen innewohnt und uns lehrt, dass Werte nur unter der Bedingung etwas wert sind, dass sie der Gefahr eines absoluten Wertverlusts entgegentreten. Andernfalls sind sie nichts als billige Beruhigungsmittel.
Krisen und Konflikte prägen Werte. Weit davon entfernt, ein unheilvolles Indiz für Dekadenz oder Untergang zu sein, ist der Konflikt eine Regel des Lebens und des Überlebens. Unsere Demokratien erfinden und regenerieren sich, indem sie ihre Divisionen (Rechts-Links, Republikaner-Demokraten) kultivieren. So hart sie auch sein mögen: Die Querelen zwischen Clans und Parteien sind der Verknöcherung oder dem Verschwinden von Konflikten – typisch für Despotismen – immer überlegen. Der abendländische Geist sei ein «Kampfplatz», schrieb Kant; Werte, Ideale und Tugenden existieren nur durch, für und in diesen Kämpfen. Universelle Pflichten, Werte und Ideale schweben nicht wie Tauben über dem Schlachtfeld, sondern sind Schlichtungsinstanzen, die existentielle Alternativen regulieren (nach Aristoteles fand etwa der Mut die ausgewogene Mitte zwischen den Extremen der Feigheit und der Kühnheit) und in bestimmter Weise auf bestimmte Herausforderungen antworten.
Die Wertsysteme existieren also nicht «für sich», gesetzt ein für allemal durch ein mirakulöses natürliches oder himmlisches Recht. Hüten wir uns vor der trügerischen Annahme, Werte seien entweder universell oder keine Werte. Es ist nutzlos, die Universalität dieses oder jenes Werts zu untersuchen, ohne den Blick auf die spezifischen Herausforderungen und Gefahren zu richten, die den fraglichen Wert hervorbringen und prägen. Nehmen wir Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, drei Ideale, die sich sofort universell wollen. Wie viele müssige Dispute haben diese drei nicht provoziert! Sind die Franzosen so frei, wie die Giebel ihrer Rathäuser glauben machen? Ist jeder Bürger jedem anderen gleichgestellt? Und inwiefern ist er ein Bruder des Nachbarn auf seiner Etage? Unmöglich zu sagen. Unmöglich, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu bemessen, ihnen einen Sinn zu geben, ohne die Akkulturation dieser mehr als tausendjährigen nationalen wie universalen Werte in Rechnung zu stellen. Nur vor dem konkreten Hintergrund französischer Kulturen und Krisen sind die drei Werte sinnvoll auf ihre Gehalte hin zu befragen.
Freiheit, oder der Ur-Wert
Die Verehrung, die die Franzosen der Freiheit angedeihen lassen, ruft zwei Arten spöttischen Missverständnisses hervor. Von deutscher Seite wurde ihnen lange vorgeworfen, Freiheit und Zügellosigkeit zu verwechseln. Das Paris der Aufklärung schien auf gefährliche Weise mit Unmoral, Erotik und Pornographie zu flirten. Und später drehten die Romane von Zola und anderen Autoren die Mägen ihrer Schreibkollegen jenseits des Rheins um – sie mochten emeritierten Professoren (etwa Wilhelm Dilthey) oder tabulosen Abenteurern (etwa Ernst Jünger) gehören. Und auf angelsächsischer Seite verurteilt man heute mehr denn je die Intoleranz, die durch das Pochen auf absolute individuelle Freiheit hervorgerufen werde: Die Burka auch nur partiell zu verbieten, bedeutet in dieser Logik, die Freiheit im Namen der Freiheit zu morden. Solche Abwehrreflexe sind, wenn auch karikaturhaft, nicht ohne Grund. Die Freiheit verbreitet ein beunruhigendes «Alles-ist-Erlaubt» (und sei es das Verbieten), das seit jeher die Freude und Verlegenheit des Französischseins begleitet.
Seit Anbeginn seiner Geschichte war Frankreich, die selbsternannte «älteste Tochter der katholischen Kirche», auch die älteste Tochter des Unglaubens. Als erste etwa haben die Franzosen, lange vor der Revolution, Lust und Zeugung getrennt, indem sie mit dem Bidet, dieser nationalen Spezialität, eine empirische Geburtenkontrolle erfunden haben. Das heisst: Die Freiheit à la française dehnt sich auf alle Sphären der menschlichen Aktivität aus, sie ist sexuell, philosophisch, theologisch, sehr früh politisch und auch und vor allem auch literarisch, seit man im Mittelalter in der Vulgärsprache zu schreiben beginnt.
Homer hat den Griechen ihre Götter geschenkt. Die Literatur weiht Frankreich der Freiheit. Und zwar nicht durch Lektionen, Dogmen und Credos, sondern durch das Erzählen von Geschichten, die der Zuhörer und bald auch der Leser nach seinem Gutdünken aufnimmt, schätzt, zurückweist, befragt oder kritisiert: Die Entdeckung der Freiheit vollzieht sich ganz in Freiheit. Freiheitserfahrung und französischer Roman werden zu einer Einheit. An deren Schmelzpunkt findet sich der Roman de Renart, der Fuchsroman.
Mit der Heroisierung des einfachen aber raffinierten Tiers, dem Schrecken der Hühnerhöfe, beginnt die Ära des Argwohns. Die «Fuchserei» bewirbt die List, den Zweifel, die Ernüchterung. Verfolgt vom Gericht des Löwenkönigs und dem Zorn des Bauern, wendet der Fuchs die schlimmsten Situationen zu seinen Gunsten, indem er die Kraft, die er nicht besitzt, durch seinen frechen und respektlosen Geist ersetzt. Weder Drohungen noch Ermahnungen schenkt dieser geländetaugliche Terrorist Beachtung. Er schändet Kirchen, verhöhnt Barone, schmäht den feudalen Hof, beleidigt die Autoritäten und setzt sich über sexuelle Tabus hinweg. Er nimmt damit den Dom Juan des 17. Jahrhunderts ebenso vorweg wie den Sansculotten von 1789, aber auch den skeptischen Bourgeois, der sich mit dem niederen Verrat abfindet. Das skrupellose Tier kündet von den Wegen und Abwegen einer Geschichte, in der feststeht, dass der Mensch dem Menschen ein Fuchs ist.
Ist die Freiheit, so radikal wie der Fuchsroman sie propagiert, ein Wert? Sie führt zum Schlimmsten wie zum Besten, sie birgt, nach Friedrich Schelling, den «tiefsten Abgrund und den höchsten Himmel». Eher Grundlage für Werte als selber Wert, erscheint die füchsische Freiheit als «sine qua non», als etwas, ohne das es keine Werte gibt. Sie ist ein «Arche-Wert» (ähnlich wie ein «Archetyp»), die notwendige aber nicht hinreichende Bedingung moralischen Lebens. Notwendig, da es ohne freie Wahl keine Verantwortung gibt. Nicht hinreichend, weil eine Gesellschaft von freien Wesen nach einer Klärung ihres Zusammenlebens verlangt.
Gleichheit, oder das Leben in der Gesellschaft
Der Aufstieg der Gleichheit auf den Silbermedaillenplatz des Podiums bringt ein Dilemma zum Ausdruck: Wenn die Bürger, wie bei den Füchsen gesehen, frei sind, das heisst: frei auch zu betrügen und sich selber zu täuschen – wie werden sie sich dann verstehen? Welche Form von sozialem Verhalten – von sozialer Bindung – könnte zwischen den Freiheiten zustande kommen? Und wie kann man Gleichheit zwischen Ungleichem (Reichtum, Talente, Zufälle der Herkunft und des täglichen Lebens) einsetzen? Es ist unumgänglich, die vielfach widersprüchlichen Verständnisse der egalitären Werte voneinander zu unterscheiden. Eine solche Sezierung muss bei der Frage beginnen, worauf sich Gleichheit bezieht.
Der Egalitarist denkt gerne, dass es ausreiche, Vermögen, Güter und Zukunftschancen zu homogenisieren. Die sozialistische Version: Die Staatsmacht muss die grossen Vermögen schröpfen, um die kleinsten zu erhöhen. Die liberale Version: Die «unsichtbare Hand» des Marktes kümmert sich, unterstützt vom Wettbewerb, automatisch um die besagte Egalisierung. Lauter Vulgaritäten – wobei deren Simplifizierungen direkt weder Karl Marx noch Adam Smith angelastet werden können. Die Erbsünde des Egalitarismus der sozialistischen wie liberalen Ideologien liegt in deren gemeinsamen Ökonomismus, das heisst im illusorischen Versprechen, die «wahre» Gleichheit der Bürger durch Gleichheit zwischen den Dingen zu definieren. Wie ist das Unvergleichbare zu vergleichen? Wie eine «gerechte» Gleichheit zwischen in sich ungleichen Gütern zu schaffen? Der sogenannte «Wert Arbeit», die mutmassliche gemeinsame Substanz aller Reichtümer, bleibt eine theoretische Fiktion, entzieht sich jeder wirksamen Massnahme. Es ist unmöglich, die Arbeit eines Professors, jene eines Komödianten und die eines Metallarbeiters oder Perlenfischers in eine Gleichung zu setzen. Folglich pocht die Kritik pausenlos darauf, die stolze Devise unserer Rathäuser als blosse Heuchelei zu enttarnen, als Schein, in dessen oberflächlicher Verherrlichung einer «formellen» Gleichheit die Abwesenheit «reeller» Gleichheit verblasst.
Die Einwände sind nicht neu. Bereits in der Antike vorgebracht, führten sie Aristoteles zu einer sorgfältigen Unterscheidung zwischen arithmetischer Gleichheit – in Bezug auf die Objekte – und geometrischer Gleichheit – in Bezug auf die Subjekte. Die zweite erweist sich als die fundamentalere, weil sie nicht mehr zum Haben sondern zum Sein eines jeden «proportional» ist. Damit kommt die «distributive Gerechtigkeit» ins Spiel. Sie hierarchisiert die Einkommen den Verdiensten entsprechend und verlangt, dass ein jeder Bürger den Wert (die Würde) des anderen anerkenne. Mit der Proportionalität führt Aristoteles damit das Drama ein: Jeder muss sich am anderen messen und sich diesem gegenüber einschätzen. Von einer statischen Gleichheitsutopie gelangt man so zu einer Egalisierungsstrategie, in der jeder lernen muss, seine Mitbürger zu respektieren und sich deren Respekt zu verschaffen.
Die ganze Tragweite dieser Entwicklung kommt in freiheitlich verfassten Gemeinschaften zum Ausdruck. In einer traditionellen, stabilen Gesellschaft wird ein jeder nach dem Verdienst und dem Nutzen bewertet, die ihm Sitten und Gebräuche verleihen. Die aristotelische Proportionalitätsregel ist also mehr oder weniger anwendbar; man hierarchisiert die Verdienste in Relation zu ihrem kollektiven Nutzen: Ein Stratege ist zwei Dichter und vier Seemänner wert. Doch in der Neuzeit verbreiten sich die Erschütterungen der Freiheit auf allen Ebenen, die Wertmassstäbe bröckeln und gleichzeitig findet sich der Wert jedes Einzelnen in Frage gestellt. Die Gleichheit ist nunmehr weder gegeben noch proportional an fixe kollektive Bräuche gebunden – sondern muss konstruiert werden. In Gesellschaften, die auf einer radikalen Freiheit gründen, wird die Gleichheit damit zur flüchtigen und provisorischen Resultanten einer gemeinsamen Fähigkeit zur Egalisierung.
Die Gleichheit, die durch diese Prozesse in Frankreich herauskam, funktioniert nicht nach einem Modus der Überzeugung, sondern der Abschreckung. Wir sind nicht gleich, weil wir dasselbe denken und denselben Glauben – sei es an eine einzige Kirche oder eine bestimmte Staatsräson – teilen. «Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet», hält die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1791 fest. Ziel ist demnach nicht, ein einvernehmliches Denken und Handeln durchzusetzen (Überzeugung), sondern eine bescheidene Einigung zu erreichen, die verhindert, dass wir uns schaden (Abschreckung). Die Menschenrechte führen zu keinem Eden; sie ermöglichen es dem Bürger, sich und seine Würde zu verteidigen. Denn der Kampf für die Gleichstellung ist ein Kampf für die Würde, und der Kampf für die Würde ist ein Kampf für die Anerkennung. Die Gleichheit ist weder ein Fetisch zur Feier des Sieges der Bürger- über die Feudalgesellschaft, noch eine Gaukelei zur Übertünchung der «Schrecken des Kapitals», sondern ein permanenter gesellschaftlicher Effort: Nicht immer siegreich, nicht immer besiegt, beflügelt der Gleichheitswille die Arbeit der Gesellschaft an sich selber und den Anspruch des Bürgers auf Würde.
Brüderlichkeit, oder die «Solidarität der Erschütterten»
Obwohl drittplatziert, drängt sich das Ideal der Brüderlichkeit den anderen beiden zuweilen voran: Freiheit, aber zuerst für die französischen Brüder, Gleichheit, aber einzig für die französischen Brüder. Derart als Vorbedingung dekretiert, verkommt die Brüderlichkeit zum Abschlussmechanismus einer exklusiven und geschlossenen Gesellschaft. Wenn man hingegen der Freiheit ihre führende Radikalität zugesteht und die Gleichheit als Arbeit an einer stetig im Bau befindlichen bürgerlichen Anerkennung versteht, bezeichnet die Brüderlichkeit jene Solidarität, die den durch Freiheit und Gleichheit Entwurzelten eignet.
Gestern und vorgestern teilten die Franzosen den Gleichmut einer Bauernfamilie. Heute sind sie Brüder in der Entwurzelung. Als die Vorstellung eines «ewigen», von der Providenz im Schutz einer ruralen Zivilisation behüteten Frankreich im 20. Jahrhundert abgedankt hatte, fanden sich die Menschen, aus der Schutzzone der Vorsehung herausgeschleudert, unter einem Damoklesschwert wieder und sahen sich tödlichen Gefahren gegenüber. Diese Wendung ist so end- wie allgemeingültig: Alle sind heute Entwurzelte, die «Urfranzosen» ebenso wie die «métèques». Identitäten sind multipel geworden – der heutige Franzose lebt und stirbt in seiner «Provinz», fühlt sich seiner «Generation» verbunden, ist Teil einer «rechten» oder «linken» Familie, … –, und die übergeordnete Brüderlichkeit, die die unterschiedlichen Zugehörigkeiten einst zusammenhielt, ist verschwunden.
Könnten die Mobilisierungen gegen das Elend, den Verrat, die Korruption oder den Krieg als Ersatz für eine positive, auf einem gemeinsamen Fundament vollzogene Verbrüderung taugen? Mitnichten. Es handelt sich hierbei nicht um einen Notbehelf für eine orientierungslos schlingernde Bevölkerung, sondern um eine Grundlage unseres Zusammenseins: Die Endlichkeit, die wir mit Blick auf Krankheiten, Elend oder Grausamkeit teilen, definiert unsere gemeinsame Beschaffenheit. Die Notwendigkeit, sich gegen ein «Gegen» zu verbünden, bevor man sich für ein «Für» zusammenschliesst, ist so alt wie die Menschheit. So zerrissen das christliche Europa zwischen Rom und Konstantinopel oder zwischen Reform und Gegenreform auch war, im Einklang hat es den Herrn um Schutz vor Hunger, Krieg und Pest gebeten: Seit je beruft sich die Brüderlichkeit auf eine Verbrüderung gegen Übel und Unglück.
Nennen wir diese Koalition von Bürgern, deren Geister sich über dem Guten scheiden und sich zusammenraufen, um dem Schlechten zu trotzen, «negative Brüderlichkeit». Beim tschechischen Philosophen Jan Patochka heisst sie «Solidarität der Erschütterten». Diese erweist sich seit 1945 als vereinende Triebfeder des europäischen Kontinents. Beunruhigt durch das immer mögliche Wiederauftauchen einer unheilvollen Vergangenheit (Weltkriege und Genozide) und besorgt über eine bedrohliche Zukunft (Stalin, der eiserne Vorhang und der Gulag), haben die Gründerväter ihre gemeinsamen Zurückweisungen (des nationalistischen, rassistischen oder kommunistischen Extremismus) über ihre religiösen oder doktrinären Gelüste (sie waren katholisch, ungläubig, liberal, sozial-demokratisch …) gestellt. Und die Dissidenten, die sich in Osteuropa gegen die Tyrannei auflehnten, schlugen einen parallelen Weg ein, indem sie ihre jahrhundertealten Spaltungen überwanden, um eine demokratische Alternative (Solidarnosc, Charta 77, Charta 08 …) zur totalitären Macht zu entwickeln.
Wenn sich Europa also ängstigt, findet es in seiner Not einen Ausweg, den die früheren Ideologien nicht in Betracht zogen. In den Augen der Ideologen ist schlecht, was nicht gut ist, und unmenschlich, was nicht menschlich ist. Einzig eine vorab gültige Vorstellung eines Gemeinwohls oder einer Menschheit «comme il faut» erlaubt es ihnen, via Substraktion, das Unzulässige zu definieren. Die negative Solidarität kehrt die Sache um: Das Unglück ist der vorrangige Massstab, und die Erfahrung des Unhaltbaren befiehlt, sich vereint hinter etwas «nicht Schlechtes» stellen. So können wir uns daran machen, die Pforten der Hölle zu verriegeln, ohne danach zu streben, die Türen zum Paradies zu öffnen: Das ist die (negative) Brüderlichkeit der Entwurzelten.
Die republikanische Trias, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, besticht durch ihre Kohärenz. Weit davon entfernt, zufällig schöne Gefühle oder knackige Slogans zusammenzumischen, transportiert die Einheit der drei Ideale ein unteilbares Weltbild. Ein Weltbild, in dem eine gewisse (absolute) Idee von Freiheit nach einer nüchternen Gleichheitspraxis und dem Aufbau einer profanen Brüderlichkeit der Entwurzelten ruft. Dieser Zusammenhalt muss als laizistisch – im französischen Wortsinn – verstanden werden, weil er die drei Hauptwerte von jedem religiösen oder theologischen Fundament loseist.
Weder die Freiheit noch die Gleichheit oder die Brüderlichkeit beruft sich auf ein höchstes Gut, sondern alle drei basieren auf dessen Abwesenheit. Frankreich hat die Ordnung der ethischen Grundlagen umgedreht, es geht nicht vom Höchsten aus, sondern beginnt mit seinen Gedanken unter der Erde. Seit den Religionskriegen setzt das französische Anti-Schicksal darauf, dass die vorrangige Vereinigungsform zwischen den Bürgern jene gegen das Übel ist. Jedem sein Gott, allen die geteilte oder teilbare Erfahrung des Bösen. Die furchtbaren Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben Europa von der Notwendigkeit überzeugt, vor der Hinwendung zum Übermenschlichen zuerst das Unmenschliche zu bekämpfen. Das verleiht den französischen Werten eine ansteckende Dynamik und ein universalistische Aura.