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Der Jugend  gerecht werden
Black Lives Matter Protest in London, 6. Juni 2020. Bild: Adobe Stock / Sandor Szmutko.

Der Jugend gerecht werden

Die Gerechtigkeitsfrage ist von den Sozialdemokraten zum heiligen Gral ­erklärt worden. Die Liberalen müssen ihn zurückerobern und endlich wieder mitdiskutieren.

 

In den vergangenen beiden Jahren gingen Teile der Jugend mit einer deutlichen Forderung auf die Strasse: Sie wollen «Justice», und zwar jetzt. Egal ob bei Klima, Gender oder «Black Lives Matter»: Die Gerechtigkeitsfrage wurde zum grossen Thema einer neuen politischen Jugend.

Die politische Linke freut das: Sie sieht die Gunst der Stunde auf ihrer Seite und beackert die Anliegen der Jugend fleissig. Die sozialdemokratische Mehrheitsgesellschaft scheint in dem Wort Gerechtigkeit ihren säkularisierten heiligen Gral gefunden zu ­haben: Alle gesellschaftlichen Belange werden zu Gerechtigkeitsfragen erklärt. Doch wie lautet die liberale Antwort darauf?

Liberale bleiben in der politischen Diskussion um die Gerechtigkeit häufig Aussenseiter und argumentieren aus einer defensiven Abwehrhaltung. Die linken Vorschläge werden kopfschüttelnd als überzogen und weltfern abgetan – und damit hat es sich dann auch mit der Diskussionsfreudigkeit zu diesem Thema. Der Liberale gleicht so einem Hans Guckindieluft, der vor lauter ­Wolkenschwärmerei das Leid zu seinen Füssen vergisst. Friedrich August von Hayek erklärte die «soziale Gerechtigkeit» gar zum Wieselwort, das unser Denken vergifte und deshalb aus unserem Begriffsrepertoire zu streichen sei. Die Diskussionsverweigerung vieler Liberaler könnte jedoch teuer enden. Finden sie keine Antwort auf die Gerechtigkeitsfragen, droht ihnen eine schmerzhafte Abstrafung durch die demokratische Mitbestimmung der kommenden Generation.

Zwei Auffassungen der Gerechtigkeit

Wie können Liberale das Anliegen «Gerechtigkeit» nun aber ernsthafter behandeln? Die erste Schwierigkeit im Diskurs zur ­Gerechtigkeit ist ihr unklarer Begriffsinhalt und Gebrauch. In der Philosophie werden unsere moralischen Begriffe traditionell als auf moralischen Gefühlen basierend erklärt – das zeigt sich schon beim schottischen Aufklärer Adam Smith, der sein Hauptwerk die «Theorie der ethischen Gefühle» nannte. Das ist ein erster Hinweis darauf, warum uns die Bestimmung der Gerechtigkeit derart schwerfällt: Sie basiert mehr auf unseren moralischen Intuitionen als auf unseren Verstandeskategorien. Gerechtigkeit ist ein Gefühl, das wir nicht erlernen müssen. Wir lernen vielmehr, Situationen, die uns intuitiv als ungerecht erscheinen, mit diesem Wort zu belegen. Das Problem dabei ist, dass uns unsere Gefühle keine Antwort darauf geben, wie wir mit den als ungerecht empfundenen Situationen umgehen sollen.

Es ist deshalb unerlässlich, dass wir unsere empfundene ­Moral einer kritischen Prüfung unterziehen. Wir müssen keine Sklaven unserer ererbten Empfindungen sein. Schaut man sich die Ethik genauer an, so muss man zum Schluss kommen, dass in der Geschichte der Philosophie eigentlich nur zwei Vorstellungen von Gerechtigkeit vorherrschen.

Die eine führt zurück zu Platon, der in seiner «Politeia» versuchte, eine gerechte Gesellschaft am Reissbrett zu entwerfen. Ich nenne seine Denkweise «konstruktivistische Harmoniethese». Sie geht davon aus, dass unsere Welt deshalb ungerecht ist, weil unsere Gesellschaften disharmonisch, nicht perfekt aufeinander abgestimmt und zu wandelbar sind. Sie skizziert daher einen neuen gesellschaftlichen Zustand, dessen Herbeiführung Gerechtigkeit bringen würde. Die perfekte Gesellschaft ist für sie in Stein gemeisselt, ein statisches Gleichgewicht, das nicht verändert werden sollte. Platons Idealstaat zerfällt in drei feste Klassen: die Krieger, die Händler und Handwerker sowie die Philosophenkönige. Jeder Mensch wird nach seiner Geburt einer dieser Klassen zugeteilt und darf nicht durch eigenes Tun auf eine Veränderung der Einteilung hinwirken. Jeder trägt seinen Teil zum Funktionieren des Ganzen bei, damit der Friede nicht gestört werde. Sogar die Idee des Genetic Engineering findet sich bereits bei Platon. Da er anerkennt, dass Menschen unterschiedliche Begabungen und Neigungen besitzen, solle der Staat ihr Genmaterial optimal auf die drei Klassen ausrichten und sich seine Bürger heranzüchten. Wir ahnen, zu welch radikalen Konsequenzen ein solcher Ansatz führt.

«Liberale bleiben in der politischen ­Diskussion um

die ­Gerechtigkeit häufig ­Aussenseiter und argumentieren

aus einer defensiven Abwehrhaltung.»

Die andere Tradition beginnt mit Aristoteles und tritt vollständig anders an das Problem der Gerechtigkeit heran. Sie denkt die Gesellschaft von ihrer Dynamik her. Das Wichtigste für sie ist, die Veränderungen der Gesellschaft mit ihren Ansprüchen an Gerechtigkeit deckungsgleich zu machen. Es geht bei ihr also sozusagen um die Aufstellung und stetige Anpassung der Regeln, nach denen sich die Gesellschaft fortentwickelt. Wenn die Regeln gerecht sind, kann das Ergebnis der gesellschaftlichen Bemühungen offenbleiben, denn es kam ja auf gerechte Weise zustande. Die Gesellschaft kommt in diesem Bild nie an ein Ziel. Sie endet nicht im Paradies, sondern es tun sich immer neue Gerechtigkeitsfragen auf, die auch immer neuer Regelungen bedürfen. Denken wir an Immanuel Kant, für den eine gerechte Welt jene wäre, in der das Nützliche und das Moralische zusammenfielen. Oder an die schottischen Aufklärer, allen voran Adam Smith, der deshalb die Marktwirtschaft verteidigte, weil das Streben nach Eigennutz des einzelnen langfristig zum Wohle der gesamten Gesellschaft sei. Die Regeln seien so aufzustellen, dass genau dies der Fall bleibe. Heute nennen wir diese Position häufig: Ordnungspolitik.

Der Philosoph Karl Popper sah im Gegensatzpaar aus Platons Harmoniethese und dem von Aristoteles implizierten endlosen Reformismus den Unterschied zwischen einer geschlossenen und einer offenen Gesellschaft. Die Freiheit ist hier die Kraft, die jede Vorstellung von absoluter Harmonie zunichte macht. Denn die Kritik der meisten Gerechtigkeitsforscher besteht ja gerade darin, dass die freie Gesellschaft bestimmte Menschen zurücklasse, dass in einer Gesellschaft der Selbstverantwortung nicht an alle gedacht werde. Doch machen sich die wenigsten klar, dass auf dem Prinzip der Unselbständigkeit und der Führungsbedürftigkeit durch eine weise Elite noch kein in sich konsistentes und dauerhaft prosperierendes Gemeinwesen entstanden ist. Die Frage müsste also vielmehr lauten: Haben die Antiliberalen überhaupt ein stimmiges Gegenkonzept zu bieten? Und wieso fällt es vielen so schwer, sich mit der Haltung der Ordnungspolitik zu begnügen?

Der Wunsch nach der Wärme der Kleingruppe

An dieser Stelle lohnt es sich, Hayek zu Wort kommen zu lassen. Er unterscheidet zwischen einer Kleingruppen- und einer Grossgruppenmoral. Da die grosse abstrakte Gesellschaft erst im letzten Drittel der bisherigen Menschheitsgeschichte entstanden sei, entspreche sie weit weniger unseren ererbten Intuitionen, die stark auf eine Stammesgesellschaft (Kleingruppe) ausgelegt seien. In der Stammesgesellschaft seien die Moral des Teilens der gemeinsam erlegten Beute, die Gleichheit und die Fürsorge der Mitglieder in allen Lebensbelangen entscheidend. In der heutigen Grossgesellschaft (Grossgruppe) entscheiden aber abstrakte Prinzipien wie Verträge und Eigentumsrechte über den Anteil an der «Beute» des wirtschaftlichen Gesamtprodukts. Menschen leben nur noch in ihren Familien und Bekanntenkreisen in kleinen Horden, in denen sie sich aus Solidarität heraus beistehen. Die meisten anderen Menschen kennt der moderne Bürger weder beim Namen noch weiss er, was ihre Interessen, Talente und Anliegen sind.

Das grosse Missverständnis an diesem Umstand sei nun, dass man versuche, die Stammesmoral auf die Gesamtgesellschaft zu übertragen. Das Prinzip der Solidarität und jenes der austeilenden Gerechtigkeit seien aber nicht imstande, eine abstrakte Grossgesellschaft zu koordinieren. Deshalb wehrte sich Hayek gegen den Begriff der sozialen Gerechtigkeit. Er meinte damit, dass man die Einkommensstruktur nicht gemäss moralischen Überlegungen ordnen könne. Wie viel hat ein Manager, wie viel eine Krankenschwester tatsächlich zu verdienen? Jede von einer Regierung festgelegte Höhe wäre vollkommen willkürlich. Die Grundlage für die Höhe des Einkommens könne nur der Markt- und Preismechanismus mit seiner Zuteilung der Ressourcen über die Konsumentenwünsche sein.

Die liberale Gesellschaft verlegt die Moral in das Privatleben. Im gesellschaftlichen Verkehr hingegen gilt nicht die Moral, sondern das Recht. Genau hier entsteht jener Vorwurf von linker Seite, die Liberalen hätten ein kaltes Herz.

Wann ist ein Sozialstaat liberal?

Hayek war kein Gegner des Sozialstaats aus Prinzip. Er sprach sich für eine staatlich finanzierte Grundsicherung, Grundlagenforschung, ein staatliches Bildungssystem und öffentliche Güter wie Infrastruktur und Sozialversicherungen aus – weshalb Libertäre oder Anarchokapitalisten wie Hans-Hermann Hoppe Hayek als milderen Sozialdemokraten ansehen. Hayeks Überlegung war, dass es nicht schädlich wäre, wenn der Staat die Bürger vor den schlimmsten Risiken des Lebens absichert. Wenn man ein kleines Armengeld, eine Notkrankenversicherung und eine Grundschulbildung für alle finanziere, führe das nicht in den Sozialismus. Er rechtfertigte die Sozialversicherungen aus dem Prinzip der Haftung. Man könne die einzelnen zu bestimmten Vorsorgeformen verpflichten, weil sie ja nur für sich vorsorgten, nicht für andere. Und weil nur so sichergestellt werden könne, dass sie in Zukunft niemandem selbstverschuldet auf der Tasche lägen. Dies schrieb Hayek 1960 vor dem Hintergrund der sich gerade erst entwickelnden Sozialstaaten.

Heute kann man klar feststellen, dass sich Hayeks Prinzip eines nur in absoluten Notlagen helfenden Sozialstaats nicht durchgesetzt hat. Im Gegenteil, es werden immer neue und zum Teil absurde Aufgaben des Staates definiert. Der Krake der sozialen Gerechtigkeit droht in das gesamte Wirtschaftsleben einzudringen und die Prinzipien der Marktwirtschaft Stück für Stück auszuhöhlen. Mit dem Siegeszug des Begriffs der «sozialen Gerechtigkeit» geht eine Unbeliebtheit der Marktwirtschaft einher, welche die Jugend vergessen lässt, was den Wohlstand der Nationen ursprünglich hervorbrachte. Es scheint sich mehr und mehr zu bestätigen, was Frederic Bastiat schrieb, nämlich dass eine zu ausgedehnte staatliche Umverteilung zur Illusion führe, dass jedermann versuche, aus der Brieftasche seines Mitbürgers zu leben.

Das Problem an Hayeks Position scheint mir seine argumentative Basis zu sein. Im Hintergrund der Argumentation Hayeks stand letztlich die illiberale Idee, dass die Menschen, auf sich allein gestellt, zu unreif, unwissend, ungebildet, unfähig oder unaufgeklärt wären, für sich selbst vorzusorgen. Wenn dies als Grundlage staatlichen Handelns aber einmal akzeptiert ist, kann es kein Halten mehr geben. Der mündige und selbstverantwortliche Bürger, der nun einmal die Grundlage des Rechtsstaates und der Demokratie bildet, wäre aufgegeben. Denn immer wenn man annähme, in dieser oder jener Situation seien die Bürger überfordert, wäre die Regierung aufgerufen, einzugreifen. Und weil über die Zeit hinweg Regierungen besonders erfinderisch darin sind, sich neue Felder zu suchen, in denen der Bürger angeblich des Vormundes bedarf, steigt dieser Anteil der entmündigten Tätigkeiten stetig.

Als Liberale stehen wir daher vor der undankbaren Aufgabe, den Rückzug des Staates aus der Sozialindustrie zu fordern. Um die langfristige Wirtschaftlichkeit, Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger zu erhalten, müssten wir die Staatsausgaben mindestens halbieren, die Schulden abbauen, Regulierungen zurückschneiden. Das alles wird nicht auf Wohlwollen stossen. Nicht nur die grossen Unternehmen sind dagegen (wegen Subventionen und Privilegien), sondern auch die Gewerkschaften, die Kirchen, die Mehrheit der Medien und Intellektuellen. Liberale müssen deshalb darüber nachdenken, wie sie die Selbstverantwortung Stück für Stück zurückgewinnen können. Mit Vorstössen, die einen Kahlschlag zur Folge haben, sind keine Mehrheiten zu erringen.

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