«Der Homo financiarius tickt ganz anders»
Mehr Prinzipien und weniger Regulierung, mehr persönliche Haftung und weniger Code of Conduct, mehr Markt und weniger Arbitrage auf Kosten anderer, mehr kleine Banken und keine grossen Casinos: Marc Chesney findet klare Worte. Ein (Streit-)Gespräch.
Herr Chesney, Sie beschäftigen sich mit der Theorie des Finanzwesens. Haben Sie in früheren Jahren mit dem Gedanken gespielt, selbst Bankier zu werden?
Ich muss Sie enttäuschen: leider nein. Nicht dass ich etwas gegen Banken hätte – wir brauchen sie, das ist klar. Doch komme ich von der Mathematik her, ich wollte die Funktionsweise von Finanzmärkten verstehen. Und so landete ich im Finanzwesen – einer höchst interessanten Disziplin.
Zweifellos auch einer komplexen. Und einer trockenen?
Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch. Das Thema meiner Doktorarbeit war die Analyse von derivativen Produkten. Da geht es nicht wirklich um Preissetzung nach Angebot und Nachfrage, da geht es vielmehr um die theoretische Unmöglichkeit von Arbitrage in angeblich effizienten Märkten. Dann kam die Finanzkrise mit Hedge Fonds und sogenannten «Too big to fail»-Banken, die genau durch die praktische Realisierung von Arbitragemöglichkeiten in ineffizienten Finanzmärkten, beispielsweise im Bereich von Hochfrequenzhandel und Derivaten, riesige Gewinne erzielen. Und plötzlich wurde mir klar: Was wir an den Universitäten in der Finanzökonomie unterrichten, ist nicht immer ganz korrekt.
Wie meinen Sie das?
Auf Finanzmärkten agiert nicht der Homo oeconomicus, sondern der Homo financiarius. Der tickt ganz anders.
Wie denn? Auch er dürfte seine eigenen Interessen verfolgen.
Lange war es so, dass der einzelne, indem er seine eigenen Interessen verfolgte, dem Gemeinwohl diente. Zwischen dem Ende der Napoleonischen Kriege und dem Beginn des Ersten Weltkriegs hat dieses Modell – das Modell des klassischen Liberalismus – insgesamt erstaunlich gut funktioniert. Die wissenschaftlichen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Fortschritte waren hervorragend. Aber dann kam in den 1980er Jahren die Wende. Mit der riesigen Welle von Deregulierungen kam der Homo financiarius in die Welt. Seine persönlichen Interessen decken sich nicht mehr mit jenen der Allgemeinheit. Ganz im Gegenteil schaden seine Tätigkeiten sogar oftmals dem Gemeinwohl.
Die Interessen der Allgemeinheit, das Gemeinwohl – mit Verlaub: das sind Ausdrücke, die alle für sich in Anspruch nehmen, die ihre eigenen Interessen durchzusetzen versuchen.
Ja, es gibt viel politische Rhetorik. Aber dessen ungeachtet gibt es so etwas wie ein Gemeinwohl, auch wenn es schwer zu erreichen ist. Das Problem ist: Grossbanken emittieren Finanzprodukte, die deren Renditeinteressen dienen, aber jenen der Allgemeinheit diametral zuwiderlaufen.
Ein konkretes Beispiel, bitte!
Gerne. In der NZZ erscheinen regelmässig Inserate, in denen BRC – Barrier Reverse Convertibles – angeboten werden. Die Gewinne oder Verluste dieses Produkts werden von den Kursen verschiedener Aktien – in der Regel deren drei – generiert. Solange während der einjährigen Laufzeit keiner der Aktienkurse unter ein bestimmtes Niveau fällt, erhält der Halter dieses Produkts sein Ausgangskapital zurückerstattet, zum Beispiel 100 000 Schweizer Franken. Ausserdem wird ihm ein hoher Coupon, oft in Höhe von 8 Prozent, der ursprünglichen Investition ausbezahlt, das heisst 8 000 Schweizer Franken. Fällt jedoch ein Aktienkurs unter das vordefinierte Niveau, erhält der Halter zwar weiterhin die 8000 Franken, aber nur einen Teil des investierten Kapitals zurück, zum Beispiel 80 000 oder 60 000 Schweizer Franken. Ein Kursrückgang zumindest bei einer Aktie ist aber stets wahrscheinlich. Kurzum, das sind komplexe Produkte, die hohe Renditen versprechen, im Schnitt jedoch toxisch sind. Die Kunden verlieren damit im Durchschnitt Geld.
Das klingt ziemlich verständlich. Aber wer ein Produkt kauft, das er nicht versteht, ist selber schuld, wenn er damit Geld verliert.
Nicht alle verfügen über die gleiche Bildung und den gleichen Wissensstand. Und nicht alle kennen die Risiken, die mit diesen Produkten verbunden sind.
Selbstüberschätzung kann alle treffen. Ich bleibe dabei: wen sie trifft, der ist selber schuld.
Einverstanden. Dennoch macht es keinen Sinn, Produkte zu lancieren, die darauf wetten, dass der Kunde verliert, damit der Emittent, also oft eine «systemische» Bank, gewinnt. Eine solche Konstellation ist – wie soll ich sagen? – pervers. In der Wirtschaft entstehen normalerweise Win-win-Situationen. Wenn Sie mit Ihrem neuen Auto zufrieden sind, ist im Prinzip der Autohersteller auch zufrieden. Für «Too big to fail»-Banken, die für diese toxischen Finanzprodukte Werbung machen, ist es ein Gewinn auf Kosten der Kunden, das heisst: des einen Gewinn ist stets des anderen Verlust.
Sie haben doch etwas gegen Banken.
Keineswegs. Aber ich habe etwas gegen toxische Produkte, die zudem kompliziert sind und Vertrauen zerstören. So wird die Finanzbranche zu einem Feld, in dem der Zynismus blüht. Und ich habe etwas gegen «Too big to fail»-Institutionen, die behaupten, sie seien Banken, die aber mehr Casino als Banken sind. Sie spielen mit dem Geld des Steuerzahlers, des Kunden, des Mitarbeiters und des Aktionärs. Am Ende des Tages funktionieren sie wie folgt: Profite privatisieren, Kosten sozialisieren. In einer Marktwirtschaft haftet jeder Akteur für sein Tun. Wer einen Fehler begeht, wer sich verspekuliert, wer nicht gut arbeitet, geht pleite. Und er allein muss dafür geradestehen.
Wenn Sie von Grossbanken sprechen, wen meinen Sie?
Sicher UBS und CS. Deren Manager spielen Casino, und zwar ein höchst asymmetrisches: Liegen sie falsch, bezahlen sie im besten Fall lediglich einen Teil des Preises. Gewinnen sie, kassieren sie alleine ab. Vor mir liegt ein Cover Ihrer Zeitschrift, die den Slogan ziert: «Skin in the Game», seine Haut aufs Spiel setzen. Davon brauchen wir mehr.
Nun werden aber in der Schweiz alle Banken in denselben Topf geworfen…
…ja, klar, das ist ein echtes Problem. Es ist wichtig, hier zu differenzieren. Wir brauchen Banken, die fit sind. Wir wollen keine Casinos. Das ist im Grunde die entscheidende Differenz: Es gibt Banken im Dienste ihrer Aktionäre und des Allgemeinwohls, und es gibt Casinos im Dienste ihres eigenen Vorteils auf Kosten der Allgemeinheit.
Die Guten und die Bösen: Ist das nicht eine allzu holzschnittartige Darstellung?
Nein. Die grossen Banken vergeben immer weniger Kredite an Unternehmen, was neben der Vermögensverwaltung eigentlich ihre Funktion wäre. Sie haben sich vielmehr darauf kapriziert, mit fremdem Geld zu spekulieren, mit Geld der Kunden, der Aktionäre und der Steuerzahler. Verzeihung, aber das macht einfach keinen Sinn.
Die Banken in Ihrem Sinne haben wir auch: die Privatbanken, die Genossenschaftsbanken, die Coop-Bank, die Migros-Bank.
Genau. Und die machen im allgemeinen einen besseren und nützlichen Job. Viele, die Banken kritisieren, meinen die grossen und treffen damit auch die kleinen. Und die Grossen haben viel Schaden angerichtet, denken wir nur an die Währungsmanipulationen. Die Finma ist nicht in der Lage, die UBS hierfür zu büssen: die UBS musste bloss ihre Gewinne aufgrund der Manipulationen am Devisenmarkt zurückbezahlen. Wo sind hier die Regeln, wo ist hier der Rechtsstaat?
Die Finanzbranche gehört zu den am stärksten regulierten Branchen überhaupt. Was wäre denn aus Ihrer Sicht zu tun?
Die Banken sind schlecht reguliert. Basel I umfasste 30 Seiten, Basel II 300, Basel III 600 Seiten. Der Finanzsektor ist bereits so komplex, dass wir nicht noch komplexere Regeln brauchen, sondern einfachere: die guten alten Prinzipien. 20 bis 30 Seiten würden vollends genügen. Dadurch werden auch kleinere Banken gestärkt, sonst schaffen es eines Tages nur noch die grossen, die Regulierung zu stemmen.
Konkret: welche Prinzipien?
Erstens: ein Trennbankensystem, also Trennung von Investmenttätigkeit und traditioneller Bankentätigkeit. Banken dürfen Casino spielen, aber mit dem eigenen Geld – und ohne Gratisversicherung durch die Allgemeinheit. Zweitens: mehr Eigenkapital, zwischen 30 und 40 Prozent der Bilanzsumme, ohne undurchschaubare Modelle der Risikogewichtung. Solche Verhältnisse herrschten ganz natürlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Denn auch hier ist es so, dass sich die kleineren Banken an die Modelle der Finma halten, während die grossen eigene Modelle kreieren, die nicht einmal sie selbst mehr durchschauen.
Drittens?
Wir brauchen in der Finanzbranche einen Zertifizierungsprozess, wie es ihn auch in der Auto- oder der Pharmabranche gibt. Produkte, mit denen der Emittent auf die Verluste des Kunden spekuliert, haben keine Berechtigung in einer normalen Welt. Finanzdienstleistungen sollten im Dienste der Wirtschaft sein, im Dienste von Firmen und Privaten – und nicht umgekehrt. Für eine solche Zertifizierung brauchen Sie eine kleine Gruppe von Leuten mit Expertise, die sich regelmässig treffen und sich die neuen Produkte anschauen. Voluminöse Regulierungshandbücher können Sie sich sparen.
Viertens?
Ich plädiere für eine Finanztransaktionssteuer, nach dem Vorbild des Finanzunternehmers Felix Bolliger. Und ich erkläre Ihnen auch, weshalb: pro Jahr finden in der Schweiz elektronische Frankentransaktionen in der Höhe von 100 000 Milliarden statt – das entspricht rund 160mal dem BIP der Schweiz. Wenn Sie davon bloss 0,2 Prozent abzweigen, kommen Sie auf 200 Milliarden Franken. Das ist mehr als alle aktuellen Steuern in der Schweiz, rund 170 Milliarden Franken pro Jahr. Theoretisch könnten alle anderen Steuern abgeschafft und von einer Finanztransaktionssteuer mit einem kleinen Prozentsatz ersetzt werden. Ist das nicht liberal?
Wenn Sie davon ausgehen, dass Steuern stets willkürlich sind, vielleicht schon. Aber bleiben wir beim Ziel. Was ist der Hintergrund Ihres Vorschlags: eine Eindämmung des Hochfrequenz-handels?
So ist es. Nach diesem Vorschlag würden alle Finanztransaktionen mit einer Steuer belegt – auch der Geldbezug am Automaten oder die Bezahlung im Restaurant. Mit einer solchen Finanztransaktionssteuer würden Unternehmen und Haushalte entlastet. Es bräuchte weniger Steuerbürokratie. Grossbanken, die aufgrund ihrer Verlustvorträge der letzten Jahre kaum oder wenig Steuern zahlen, und der Finanzsektor im allgemeinen würden belastet, allerdings in überschaubarem Masse. Hochfrequenzhandel würde eingedämmt.
Spekulation ist keine Straftat – im Gegenteil: sie dient der Diversifikation von Risiken unter vielen Marktteilnehmern und hält die Finanzmärkte liquide. Das ist volkswirtschaftlich sinnvoll.
Aber wer mit fremdem Geld und riesiger Hebelwirkung spekuliert, bringt die Volkswirtschaft in Gefahr. Hochfrequenzhandel ist volkswirtschaftlich problematisch: das Herdenverhalten, also das Klumpenrisiko, nimmt zu. Es gibt eben gute und schlechte Spekulation, und diese Transaktionssteuer zielt darauf ab, ersteres zuzulassen und letzteres bewusst zu verteuern. Man überlegt sich dann zweimal, ob man handelt oder nicht. Und diese Wirkung ist erwünscht.
Und welches wäre Ihre fünfte Massnahme?
Wir müssen die Lehre anpassen. In Vorlesungen zur Finanzökonomie wird viel von Preisen geredet, aber wenig von Werten. Es sollte umgekehrt sein: zuerst die Selbstverständigung über Werte, dann die Frage nach den Preisen.
Das ist leichter gesagt als getan. Gehen Sie mit gutem Beispiel voran?
In meinen Vorlesungen analysiere ich gerne zusammen mit den Studierenden einige E-Mails von Roguetradern wie beispielsweise Jérôme Kerviel, Ex-Banker der Société Générale, der nun im Gefängnis sitzt. Diese Dokumente sind von Zynismus geprägt. Ich möchte nicht, dass meine Studierenden eines Tages im Gefängnis sitzen…
…haben Sie denn Grund, sich vor solchen Szenarien zu fürchten?
(Lacht) Eigentlich nicht. Herr Kerviel verglich sich in seinen E-Mails mit einer Prostituierten und meint damit: Er musste für die Bank so viel Geld wie möglich bringen, ungeachtet möglicher Risiken oder dubioser Praktiken. Ich frage dann meine Studierenden jeweils: Hat alles einen Preis – oder gibt es eben Werte, die keinen Preis haben?
99,5 Prozent aller Banker sind Leute mit Werten wie Sie und ich – auch Mitarbeiter der UBS. Sie wollen einen guten Job machen, anständig sein, Geld verdienen. Fokussieren Sie nicht allzu sehr auf spektakuläre Einzelfälle?
Die Zyniker sind normalerweise nicht am Schalter, sondern an der Front in den Handelsräumen. Kerviel hat fast 5 Milliarden Euro verspekuliert und verloren. Sein Chef hat davon gewusst und die Geschäfte geduldet – ohne aber je explizit sein Einverständnis zu geben. Der Druck kam also von oben. Und ich frage meine Studenten: Wenn der Chef von Ihnen etwas verlangt, was verboten ist, wie reagieren Sie?
Und die Antwort?
Die muss sich jeder selbst geben – aber er muss sich die Frage stellen. Darum geht es.
Wie können die Banken verlorengegangenes Vertrauen in der Öffentlichkeit zurückgewinnen?
Transparenz, auch und gerade in der Entschädigungspolitik! Brady Dougan hat in acht Jahren rund 150 Millionen Franken kassiert, während die Aktie der Credit Suisse 75 Prozent an Wert eingebüsst hat. Wenn es Bonus gibt, muss es auch Malus geben – und zwar in gleichem Masse. Was man gewinnen kann, kann man auch verlieren. Die Entlöhnungen vor 40 Jahren waren viel vernünftiger und nachvollziehbarer. Damals waren die Banken auch nicht «too big to fail», damals gab es also auch keine Gratisversicherung und keine Subvention durch die Allgemeinheit. Gemäss einer Studie des Internationalen Währungsfonds in Washington haben die systemischen Banken in den Jahren 2011 und 2012 in der Schweiz rund 50 Milliarden Franken und in der Europäischen Union rund 300 Milliarden Franken als Subvention erhalten. Wo ist da der Liberalismus? Das ist eine Farce!
Bankiers waren früher Beamte. Wollen Sie dahin zurück?
Nein. Wir brauchen initiative, unternehmerisch handelnde Persönlichkeiten. Aber das heisst eben: Personen, die auch bereit sind, Risiken zu tragen.
Was halten Sie von der Idee eines hippokratischen Eids für Banker, den diese unterzeichnen? Ein Satz würde genügen: «Ich stelle im Zweifelsfalle und im Rahmen der Gesetze die Interessen der Kunden vor andere, entgegengesetzte Interessen.»
Der Vorschlag ist gutgemeint. Ich zweifle jedoch, dass er in der Wirklichkeit taugt. Wichtiger als Verlautbarungen sind institutionelle Reformen. Es geht nicht um gute Absichten, sondern um reale Anreize. Wir brauchen fitte kleinere Banken, die für statt gegen ihre Kunden arbeiten. Und Banken, die unternehmerisch handeln, also ein Bonus-Malus-System haben, die wissen, dass Entscheid und Haftung zusammengehören, die bankrottgehen können. Wenn diese Bedingungen gegeben sind, wird der einzelne Banker automatisch stärker in die Pflicht genommen. Dann brauchen Sie auch keinen hippokratischen Eid.
Traue keinem Anlageberater, der nicht selbst Geld in die Produkte investiert hat, die er dir, dem Kunden, verkaufen will?
Lassen Sie es mich abstrakter formulieren: Wenn der Kunde verliert, sollte der Berater ebenfalls verlieren – das wäre der Malus. Wenn der Kunde gewinnt, sollte der Berater ebenfalls gewinnen – das wäre der Bonus. Und für seine Dienstleistung sollte er einen anständigen Lohn erhalten, für den er sich nicht schämen muss, der ihm aber auch keinen Anlass zum Protzen gibt. Ich würde darum sagen: weniger Marketing, mehr Leistung, weniger «Code of Conduct», mehr unternehmerisches Handeln. Nur so kann sich die Lage wieder beruhigen.