Der grosse Murks
Bundesrat, Nationalbank und Finma ist es gelungen, das Finanzsystem zu stabilisieren. Dabei haben sie jedoch rote Linien überschritten und neue Risiken geschaffen.
Nachdem in vielen anderen Industrieländern grosse Banken ins Taumeln geraten und verstaatlicht, gestützt, garantiert, übernommen oder auf andere Art «gerettet» worden waren, war es auch in der Schweiz so weit. Am 16. Oktober 2008 verkündeten Bundesrat, Schweizerische Nationalbank (SNB) und Eidgenössische Bankenkommission (die später in der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht Finma aufging) Massnahmen, um die UBS zu stützen und damit «das Schweizer Finanzsystem zu stärken».
In den Monaten zuvor hatten die Zweifel an der Bilanzqualität der Grossbank, die aufgrund von Managementfehlern exzessiv in amerikanischen Hypothekenverbriefungen investiert war, zugenommen, und immer mehr Sparer hatten ihre Einlagen bei der UBS zu anderen Banken transferiert. Die SNB stellte dem neugeschaffenen Stabilisierungsfonds (Stab-Fund) ein gedecktes Darlehen über maximal 54 Milliarden Dollar zur Verfügung, damit dieser der UBS risikobehaftete illiquide Vermögenswerte abkaufen konnte. Der Bund zeichnete für 6 Milliarden Franken Eigenkapital in Form einer Pflichtwandelanleihe. Bereits 2009 konnte er seine Aktien am Markt abstossen, und die SNB schloss ihr Engagement 2013 mit einem schönen Gewinn ab.1
«Zu viele staatliche Garantien im Bankensystem»
Die an dieser Aktion Beteiligten waren sich einig darüber, dass es niemals wieder so weit kommen dürfe, dass der Staat eine Bank stützen müsse, weil sie – wie die UBS – zu gross (das heisst volkswirtschaftlich zu wichtig und damit systemrelevant) sei, um sie fallenlassen zu können. Eine schonungslose Problemanalyse war damals Teil der Aufarbeitung. So stellte Anfang 2010 der damalige Vizepräsident und heutige Präsident des SNB-Direktoriums, Thomas Jordan, in einem Interview fest, dass die Wurzel des Grössenproblems in den staatlichen Garantien liege. «Im Bankensystem in der Schweiz und im Ausland existieren zu viele explizite und implizite Staatsgarantien. Sie müssen deutlich reduziert werden. Der Moral Hazard, der so entstanden ist, ist unvereinbar mit dem System, das für den Rest der Wirtschaft gilt. Unternehmer, Behörden und Regulatoren haben ein grosses Interesse daran, dass unsere Volkswirtschaft nicht auf staatlichen Garantien basiert.»2
Eine breit abgestützte und prominent besetzte «Expertenkommission zur Limitierung von volkswirtschaftlichen Risiken durch Grossunternehmen» legte dem Bundesrat 2010 einen Vorschlag zur Lösung des Problems des «Too Big to Fail» (TBTF) vor. Ein erster Pfeiler der daraufhin erlassenen TBTF-Gesetzgebung zielte darauf ab, die Widerstandskraft der Banken in Krisen zu erhöhen: Systemrelevante Banken sollten künftig mehr Liquidität und höheres Eigenkapital aufweisen müssen. Die Behörden warben auch dafür, dass Grossbanken einen Teil des Eigenkapitals in Form spezieller Pflichtwandelanleihen – Contingent Convertibles (CoCos), die zum Additional-Tier-1-Kapital zählen – halten sollten. Durch CoCos kämen die Banken dann zu Eigenkapital, wenn sie es am dringendsten benötigten, und zudem setze das Instrument bessere Anreize für ein risikobewusstes Verhalten der Anleger.3 Den zweiten Pfeiler des TBTF-Pakets bildeten Vorkehrungen im Bereich Organisation, operativer Abläufe, Liquiditäts- und Notfallplanung. Sie sollten eine Sanierung oder geordnete Abwicklung (Resolution) einer Bank in einer Krise erlauben und zugleich die Weiterführung volkswirtschaftlich wichtiger Funktionen wie des Zahlungsverkehrs gewährleisten, ohne dass staatliche Beihilfe geleistet werden muss.
In den Jahren danach wurde die TBTF-Regulierung mit grossem Aufwand auch der Banken perfektioniert, wobei der Schwerpunkt auf der Resolution und damit dem zweiten Pfeiler lag. Die für die Durchführung der Resolution zuständige Finma attestierte den beiden international vernetzten Schweizer Grossbanken im März 2022, «Fortschritte bei der globalen Resolvability (Abwickelbarkeit)» erzielt zu haben. «Sie bauten Hindernisse zur Umsetzung der Resolution-Strategie deutlich ab.» Die Schweizer Notfallpläne von Credit Suisse (CS) und UBS seien umsetzbar.4
Horrender Preis der Stabilisierung
Ein Jahr später sieht die Welt bekanntlich ganz anders aus. Am 19. März 2023 haben Bundesrat, SNB und Finma der CS per Notrecht eine mit umfangreichen Liquiditätszusagen und Garantien versüsste Zwangsheirat mit der UBS verordnet.5 Der Handlungsbedarf per se war unbestritten: Die CS litt unter einem enormen Abfluss von Kundengeldern, obwohl sie weniger problematische Aktiven auf der Bilanz hatte als die UBS 2008 und zumindest auf dem Papier stets über genügend Eigenkapital verfügte, also solvent war. In der Theorie könnte eine Zentralbank eine solche Bank liquide halten, indem sie ihr gegen entsprechende Sicherheiten (Collateral) Liquidität zur Verfügung stellt, so dass die Bank ihre Bilanz über die Zeit abzubauen vermag. In der Praxis sieht dies offenbar anders aus – die CS wäre ohne sonntägliche Intervention mit grosser Wahrscheinlichkeit am Montag, dem 20. März, vom Interbankenmarkt ausgeschlossen worden, der Todesstoss für jede Geschäftsbank.
Doch der Schaden, den die staatliche Stabilisierungsaktion in anderen Bereichen verursacht, wiegt schwer, selbst wenn das günstigste Szenario eintritt, in dem alle Kredite zurückbezahlt und keine Garantien beansprucht werden:
- Dass ausgerechnet eine Schweizer Bank eine internationale Finanzkrise hätte auslösen können, legt den Schluss nahe, dass die Schweizer TBTF-Regulierung ein Papiertiger ist. Der erste Pfeiler konnte die CS nicht vor dem rasanten Vertrauensverlust schützen, der sich im Bank-Run manifestierte. Und wann, wenn nicht jetzt, wäre der Zeitpunkt gewesen, die Vorgaben zur Resolution des zweiten Pfeilers auch umzusetzen? Was für eine Verschwendung von Ressourcen und Talenten bei den Behörden und Banken! Stattdessen griff der Bundesrat erneut auf Notrecht zurück (vgl. S. 10).
- Die TBTF-Problematik verschärft sich erheblich, hat die Schweiz doch künftig nur noch eine Grossbank statt zwei. Weil der Bundesrat die impliziten Garantien explizit gemacht hat, verstärkt sich die Erwartung, dass der Staat bei der nächsten Krise einer Bank erneut einspringen wird – was ziemlich genau das Gegenteil dessen sein dürfte, was Thomas Jordan 2010 mit seiner luziden Analyse bezweckte. Das Fehlen einer zweiten Grossbank birgt zudem erhebliche Risiken für die Schweizer Volkswirtschaft, den Wettbewerb in bestimmten Geschäftsbereichen (insbesondere Firmenkunden), die Finanzstabilität und die Umsetzung der Geldpolitik.
- Die Finma hat mit ihrem Entscheid, das Additional-Tier-1-Kapital der CS voll zu beanspruchen und die entsprechenden Obligationäre (anders als die Aktionäre) ganz leer ausgehen zu lassen, dem Markt für solche Instrumente, für die sich die Behörden nach der Finanzkrise starkgemacht hatten, einen schweren Schlag versetzt (vgl. S. 20). Ob sich Schweizer Banken je wieder zu vernünftigen Konditionen auf diesem Markt finanzieren werden können, steht in den Sternen.
- Die SNB gewährt auf Geheiss des Bundesrats mit der neugeschaffenen Kreditfazilität ELA+ erstmals Liquidität ohne Sicherheiten, und das im Umfang von maximal 100 Milliarden Franken. Der britische Ökonom Walter Bagehot, der auch in Notenbankkreisen einen guten Namen hat, würde sich im Grabe umdrehen. In seinem Werk «Lombard Street» stellte er 1873 Regeln für das Verhalten der Zentralbank in Krisen auf. Der «Lender of Last Resort» sollte in solchen Lagen unbeschränkt Liquidität gewähren – aber nur zu einem höheren «Strafzins» und nur, wenn die Bank für den Kredit gute Sicherheiten stellen kann, also kein Solvenzproblem hat. Das Nationalbankgesetz schreibt denn auch vor, dass die SNB Kredite nur «gegen ausreichende Sicherheiten» gewähren darf. Mit dem Einsatz von Notrecht hat der Bundesrat auch diese rote Linie übertreten. Ging es der Landesregierung darum, besser auszusehen, weil sich die Staatsgarantie sonst auf 209 und nicht auf «bloss» 109 Milliarden belaufen hätte? Jedenfalls sah sich der Schweizer Lender of Last Resort dazu gedrängt, eine für die ausserordentliche Liquiditätshilfe fundamentale Regel zu brechen, was seine Unabhängigkeit arg lädiert.6
«Wann, wenn nicht jetzt, wäre der Zeitpunkt gewesen, die Vorgaben zur Resolution des zweiten Pfeilers auch umzusetzen? Was für eine
Verschwendung von Ressourcen und Talenten bei den
Behörden und Banken!»
Die TBTF-Regulierung hat bei der ersten wirklichen Bewährungsprobe versagt – eine grosse Desillusionierung. Dass es nur noch eine Schweizer Grossbank gibt, bringt viele Nachteile mit sich und verschärft insbesondere das Grössenproblem. Dem Markt für nachrangiges Bankkapital wurde ein schwerer Schlag versetzt. Der eherne Grundsatz, Kredithilfe nur gegen Sicherheiten zu gewähren, wird nicht mehr eingehalten, zum Nachteil der Reputation der Institution SNB. Fast noch beunruhigender als diese Schadensbilanz ist allerdings die Tatsache, dass sich die Verantwortlichen des hohen Preises für die Stabilisierung des Systems durchaus gewahr sein mussten. Und dass trotz der Lehren aus der Finanzkrise, versierten Personals und monatelanger Vorbereitungen mit Planspielen für den Fall CS kein besserer Weg als dieser «grosse Murks» zu finden war, der das Massnahmenpaket von 2008 für die UBS fast schon als filigranes Kunsthandwerk erscheinen lässt. Auch diesbezüglich sind etliche
Illusionen geplatzt.
«Fast noch beunruhigender als die Schadensbilanz ist allerdings die
Tatsache, dass sich die Verantwortlichen des hohen Preises für die
Stabilisierung des Systems durchaus gewahr sein mussten.»
Eine gute Übersicht zum StabFund findet sich im Geschäftsbericht 2013 (Rechenschaftsbericht, Kapitel 6.8) und in der Medienmitteilung der SNB vom 8. November 2013. ↩
«Finanz und Wirtschaft» vom 10. Februar 2010. ↩
Siehe z.B. Referat von SNB-Direktoriumsmitglied Jean-Pierre Danthine: «After the Crisis: Improving Incentives in the Financial Sector», Universität St. Gallen, 20. Mai 2011. ↩
Medienmitteilung der Finma vom 24. März 2022. ↩
Die Liquiditätszusagen der SNB summieren sich auf 250 Milliarden Franken, wobei der Bund für 100 Milliarden eine Ausfallgarantie übernommen hat. Zusätzlich hat er eine Garantie zur Verlustabsicherung über 9 Milliarden ausgesprochen. ↩
Siehe dazu Avenir Suisse, «Der geldpolitische Tabubruch des Bundesrats», Wochenkommentar, 6. April 2023. Darin wird auch aufgezeigt, dass das für ELA+ zugesagte Konkursprivileg nicht als «Sicherheit» gelten kann und keine praktische Relevanz hat. ↩