Der grosse Betrug
Warum die AHV individualisiert werden muss
Wer behauptet, heutige und künftige Generationen hätten «nur» die offiziellen Schulden abzutragen, zeichnet ein viel zu gutes Bild der Staatsfinanzen. Er blendet aus, dass die nichtfinanzierten Verpflichtungen der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) und anderer Sozialprogramme die offiziellen Schulden mehr als verdoppeln. Gemäss der letzten, vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) herausgegebenen Generationenbilanz erreicht die zusätzliche, implizite Verschuldung des Landes 63,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das sind beinahe zwei Drittel der Wertschöpfung eines ganzen Jahres.
Kurzfristig orientierte Reförmchen wie die gescheiterte 11. AHV-Revision helfen da wenig. Zwar ist es immer möglich, die kommende Pleite mit gebastelten Anpassungen des Rentenalters oder des Teuerungsausgleichs hinauszuzögern. Solche Ansätze gleichen dem Versuch, das Leck eines sinkenden Schiffes mit dem grossen Zeh zu stopfen. Die AHV scheitert nicht wegen der Demographie, sondern weil sie als Ponzi-Spiel (benannt nach dem italienischen Betrüger Charles Ponzi), nach dem Schneeballsystem konzipiert ist. Wäre sie eine echte Versicherung, entsprächen die Bedingungen seit langem der demographischen Realität – also der steigenden Lebenserwartung und der sinkenden Geburts-rate –, wie es bei Lebensversicherungen oder der dritten Vorsorge-Säule der Fall ist.
Wie jeder Ponzi-Schwindel bleibt jedoch die AHV vorläufig unantastbar. Das ist leicht verständlich – die heutigen Beteiligten erhalten mehr, als sie ins System eingezahlt haben, da das Geld der hinzukommenden Generationen dazu verwendet wird, ihnen die Renten länger auszuzahlen. Inzwischen werden neben den Lohnabzügen immer mehr allgemeine Steuern dafür verwendet. Die mangelnde Transparenz und die zunehmende Verflechtung der Geldflüsse erklären deshalb, warum die AHV eine heilige Kuh bleibt. Seit der Verstaatlichung des Mutterschaftsurlaubs vor zwei Jahren ist nun die dem AHV-Fonds zugehörende Erwerbsersatzordnung ebenfalls im Minus. Von der ausser Kontrolle geratenen und stark verschuldeten Invalidenversicherung ganz zu schweigen.
Weitere Steuererhöhungen, wie vom Bundesrat 2004 mittels der Mehrwertsteuer erfolglos versucht, verschärfen bloss die schädlichen Folgen der AHV. Sie machen die Wertschöpfung weniger attraktiv und bestrafen zusätzlich die Leistungsbereitschaft. Die Mehrwertsteuer, die in arbeitsintensiven Branchen einer Lohnsteuer gleicht, ist in volkswirtschaftlicher Hinsicht höchst problematisch. Wie jede Steuer, entzieht sie dem wirtschaftlichen Kreislauf beträchtliche Mittel, um Renten zu bezahlen. Es ist absurd zu meinen, diese Renten würden in den Konsum fliessen und dadurch die Wirtschaft beleben. Bei AHV-Renten geht es faktisch lediglich um Transfers von Ressourcen von einer Bevölkerungsgruppe zu einer anderen. Keine Investitionen oder erhöhte Produktion werden dafür getätigt.
Vor allem ist die AHV neben der Unehrlichkeit ihrer Finanzierung ein moralisch stossendes Programm. Zum einen gibt es keinen legitimen Grund, warum Leute ab dem fragwürdigen Alter von 65 untätig bleiben dürfen, wenn sie dafür nicht selbst vorgesorgt haben. Zum anderen ist die Erhebung von Lohnabzügen und Steuern zur Finanzierung immer länger werdender Rentenbezugsperioden ein inakzeptabler Eingriff in die Wahlfreiheit der Menschen. Jeder soll für sich entscheiden, ob er teurer leben, ein grösseres Haus bauen oder ob er für mehr Kinder die Verantwortung tragen will und dafür vielleicht etwas weniger für das hohe Alter spart und statt dessen länger arbeitet.
Unter dem AHV-Regime seit 1948 werden die Zwangsversicherten wie unmündige Kinder behandelt, die ihre Zukunft und ihr eigenes Leben nicht planen können. Wenn die Menschen so uneigenständig wären, würde wahrscheinlich niemand mehr eine Lehre oder ein Studium abschliessen, ein Haus langfristig finanzieren oder ein Unternehmen gründen. Das Problem ist darüber hinaus, dass die falsche staatsvorsorgliche Prämisse ein anderes Verantwortungsbewusstsein zerstört: dasjenige der Zivilgesellschaft gegenüber jener kleinen Minderheit, die tatsächlich Mühe mit der Zukunftsplanung auf dem Markt hätte. Denn die Erfahrung zeigt, dass Leute sich freiwillig für in Not geratene Mitmenschen direkt oder durch Spenden an Wohltätigkeitsorganisationen engagieren.
Die Individualisierung der AHV würde nicht nur dem abwegigen paternalistischen Verständnis des Vorsorgestaats einen Riegel schieben, sie würde auch der heutigen Arbeitsmarktrealität Rechnung tragen. Das alte demagogische Programm aus Fliessbandproduktionszeiten würde durch Lösungen ersetzt, die einer hochkomplexen, global vernetzten, vielfältigen Wissensgesellschaft entsprächen. Differenzierte Versicherungs- und Finanzprodukte würden geschaffen, wie dies zum Teil bereits der Fall ist. Statt kontraproduktiver Transfers von einer Gruppe zur anderen erlebten wir echte Produktion, Ersparnisse und Investitionen, um den Konsum im hohen Alter selbständig und erfolgreich zu sichern.
Pierre Bessard, geboren 1975, ist Direktor des Institut Constant de Rebecque in Lausanne. Zuvor war er Redaktor bei der Wirtschftszeitung L’Agefi.