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Der glücklichste Tag eures Lebens
Hermann-Burger.-Bild-www.lokalbericht.unibe.ch

Der glücklichste Tag eures Lebens

Im verdunkelten Wohnzimmer surrt der Projektionsapparat. Auf der Leinwand, im kleinen, flimmernden Rechteck, bewegen sich die Figuren. Aus Versehen habe ich den Film rückwärtslaufen lassen. Doris findet das beinahe pervers. Ich verspreche ihr, unser Glück nicht verkehrt zu betrachten. Die Figuren schreiten mit unglaublicher Sicherheit rückwärts, und wenn sie vorwärtsgehen, merkt man, dass sie es mühsam tun, als bewegten sie sich in einer zähen, durchsichtigen Masse. Es ist eine festliche Schar von ausgestopften Erwachsenen. Lange Roben fallen auf, Damen in wehenden Hosenkleidern. Die Herren in dunklen Anzügen, eine Rose im Knopfloch, die älteren Semester noch in grau-schwarz gestreiften Hosen. Wenn es ein Tonfilm wäre, müsste man nun die Witze von Onkel Max hören. Überspannte Herzlichkeit auf den Gesichtern, vielleicht blendet auch nur die Sonne. Es dürfte ein strahlender Oktobertag sein, die Kirschbäume brennen. Die Turmuhr zeigt zehn Minuten nach vier. Einige Gäste stehen steif am Rande des Rasenstückes, auf dem sich eine Sechsergruppe formiert. Der Fotograf kommt ins Bild, der soeben geknipst hat, und dirigiert kniend seine Opfer: Noch ein wenig vortreten, noch ein wenig auseinanderrücken, bitte recht künstlich! Die Leute werden immer unruhiger. Man blickt in alle Richtungen, nur nicht auf die Kamera. Hat der Fotograf die Grabsteine im Hintergrund übersehen? Oder gehören sie zu den Requisiten des Glücks, das sechs kodakbraune Gesichter blendet? Man wird sie später bemerken, wenn das Bild unter den Enkeln die Runde macht. Aber zum Glück ist die Aufnahme rückgängig gemacht worden. Der Hut des Schwiegervaters, der vor dem Bauch eine Weile ausgeharrt hat, weiss plötzlich nicht mehr recht wohin. Erst wandert er hinter den Rücken, dann kommt er wieder zum Vorschein, und einen Augenblick lang sieht es aus, als würde er seitlich wegschiefern. Nun löst sich die Gruppe auf, Eltern und Schwiegereltern treten rückwärts weg. Sie scheuen das Brautpaar, das allein in der Sonne steht, gleissend das lange Kleid aus weisser Seide. Bald wird Onkel Max die Zigarre aus dem Mund nehmen und in der Schachtel versorgen, auf der in Stichworten die Rede über das Glück aufgezeichnet steht, nachdem ihm das Streichholz vom Rasen in die Hand gehüpft ist. Onkel Max ist doch immer der gleiche.

Doris findet sich unmöglich, aber die übrigen Damen auch. Ein Pelz passe doch nicht zu melissenrotem Chiffon und einem Rüschenkragen. Und das Kleid von Tante Lisbeth sei abscheulich. Wie eine schillernde Schlangenhaut voller Kaffeeflecken liege es am Körper. «Doris», sage ich, «du bist die schönste Braut, die ich je gesehen habe, ich wäre stolz auf dich gewesen. Gib mir einen Kuss.» Aber Doris kommt sich auf dem Film zuvor. Wie sie sich über den heissen Projektionsapparat zu mir herüberbeugen will, drückt sie dem Bräutigam einen zärtlichen Filmkuss auf die Wange. «Weisst du noch?», sagt Doris seufzend. «Aber Doris, im zweiten Ehejahr weiss man noch nicht.» – «Du hast gar nichts zu meckern, wenn du jedes Jahr den Hochzeitstag vergisst.» Soeben treten die Gäste in ungeordnetem Zug rückwärts ins Bild hinein, um uns vor der Kirche zu gratulieren zum glücklichsten Tag unseres Lebens. Und ausgerechnet diesen Tag vergesse ich immer wieder. Zur Strafe dafür muss ich den Hochzeitsfilm anschauen. Männer vergessen eben Hochzeitstage. Heiraten sie nicht den Frauen zuliebe? Dafür vergessen die Frauen die Namen der Berge.

Der siebte Oktober. Ein goldenes Datum, wie geschaffen für den glücklichsten Tag. In meinem Kalender ist nichts eingetragen unter dem siebten Oktober. Alle andern Seiten strotzen von Terminen, die siebte ist weiss. Wo war ich am siebten Oktober? Doris behauptet, ich hätte sie geheiratet, und sie hat noch nie eine Wette verloren. Der Film gibt ihr recht. Ich komme darin vor, als Bräutigam verkleidet, etwas linkisch in den Bewegungen, etwas unbeholfen, wie man dem Glück gegenüber sein müsste, etwas zu kurz geschoren. Ich sehe mich besorgt herumstehen und rückwärtsgehen wie auf Eiern. Die Hosen sind mir zu lang. Ich kratze in den Haaren, um die beissenden Schuppen loszuwerden. Wenigstens am Hochzeitstag könntest du die Bewegungen deiner Hände kontrollieren. Was denken wohl die Verwandten, die uns jetzt Glück wünschen? Das heisst, sie ziehen ihren Glückwunsch zurück und verschwinden vorsichtig im Halbdunkel des Kircheneinganges. Ich kann aber jederzeit den roten Hebel am Apparat umschalten, dann wünschen sie uns wieder Glück, ich kann ihn sogar auf Zeitlupe stellen, wenn wir das Glück ganz genau beobachten wollen. So viel Glück auf einmal, erträgt das einer überhaupt?

Ich weiss nicht, wie dieses Loch in mein Gedächtnis gekommen ist. Der siebte Oktober existiert nicht in meiner Erinnerung. Besässen wir nicht den Hochzeitsfilm und das Fotoalbum, ich könnte nicht glauben, dass wir verheiratet sind, Doris und ich. Ich soll ein begeistertes Ja gesprochen haben, hat mir meine Cousine bestätigt, die im Nerzjackett nach hinten ausweicht. Komisch, dass man ein so wichtiges Ja sagen kann, ohne dabei zu sein. Wo war ich am siebten Oktober? Man freut sich ja so sehr auf diesen Tag, den grossen Tag, den Tag, der ganz dem Brautpaar gehört. Man hat Angstträume, die mit Schweissausbrüchen enden. Die Frauen träumen davon, dass sie Nein sagen im letzten Augenblick oder die Stufen zum Altar hinaufstolpern oder den Schleier verlieren. Mir träumte nicht einmal, ich sei dabei gewesen. Noch so gern wäre ich im Traum zu spät zur Trauung gekommen, wenn ich am siebten Oktober hätte dabei sein dürfen, als ich in der öden Kirche unserer Heimatgemeinde ein trockenes, aber dennoch begeistert klingendes Ja zu einem durchaus hellen Schicksal in Gestalt eines protestantisch gekleideten Pfarrers gesagt haben soll.

«Typisch, deine Phantasie», sagt Doris immer, wenn ich sie bitte, mir unsere Hochzeit zu schildern. «Wie du dir einbildest, an Orten gewesen zu sein, wo du mit Sicherheit nie warst, bildest du dir ein, am siebten Oktober nicht dabei gewesen zu sein. Dabei warst du so rücksichtsvoll, wie du mir den Schleier befreitest, als ich ihn mit dem Rücken an die Lehne drückte. Du warst ein perfekter Bräutigam.» Im Film stehe ich tatsächlich wie das Glück in Person vor der Tür und schüttle Hände, die Sonne im Nacken. Doris gibt meiner Phantasie die Schuld – wie könnte es in der weiblichen Logik anders zugehen! – für einen fehlenden Tag im Gedächtnis. Ebenso gut könnte ich diese Hochzeit der Phantasie unserer Verwandten zuschreiben. Wenn ich die Linse unscharf einstelle, sind wir nur noch zwei Flecken, verschwimmend in einem bunten Fleckenmeer. So müsste man Hochzeit feiern, ohne das Glück zu programmieren, denke ich, leuchtende Farben, die lautlos ineinander übergingen. «Du stellst dir immer alles viel zu lebhaft vor», sagt Doris, «so dass du nachher nicht mehr die Kraft hast, es wirklich zu erleben. Vermutlich warst du an unserem Tag schon auf der Hochzeitsreise, irgendwo im sonnigen Süden.» Ich gebe ihr nicht unrecht. Doch an die Hochzeitsreise erinnere ich mich genau: als wir bei Nacht und Nebel in Venedig ankamen und die Kapelle noch spielte auf dem Markusplatz, als wir die ganze Nacht eine Glocke bimmeln und das Kanalwasser glucksen hörten. Auch Venedig habe ich mir intensiv vorgestellt, und dennoch erlebte ich es als Gegenwart. Wir waren glücklich, ohne es zu wissen.

Was machte eigentlich Hans im Glück mit seinem Glück? Er hatte keine Ruhe, bis er es los war, bis er den Stein im Brunnen versenkt hatte. Das Glück kann man nicht reiten und nicht melken, nicht schlachten und nicht schleifen, man kann es bloss vergessen, um es möglichst nicht zu stören. Doris ist anderer Meinung. Onkel Max habe in seiner Tischrede gesagt, das Glück müsse man nur ergreifen lernen, es sei immer da. «Da haben wir’s», sage ich. «Damit du mich nicht ergreifen konntest, war ich am siebten Oktober abwesend.»

Doris wünscht, dass ich die Gratulationscour nochmals in Zeitlupe ablaufen lasse, vorwärts, denn anstelle der Trauung hat sich der Kameramann ein symbolisches Oktobermotiv ausgesucht: fröstelnde Pappelzweige. Ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn der ganze Film in den Bäumen gespielt hätte. Erstaunlich, wie viele Tanten wir zusammen haben! Und alle strahlen wegen uns, tragen kostbare Toiletten. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Die Braut natürlich, sie hat ein Recht darauf. Oder doch Tante Vera? Wie kann man nur so viel Busen offerieren! Unverschämt von Tante Vera, sich immer zu bücken im Film, als sei ihr etwas auf den Boden gefallen.

Es war nicht unser Tag, es war euer Tag, liebe Tanten. Unsere Heirat war Nebensache. Hauptsache, ihr konntet das Schauspiel erleben, wie zwei junge Menschen sich die Hand fürs Leben reichen und glücklich werden. Vielleicht war ich nicht dabei, weil ich Angst hatte, auf Kommando glücklich sein zu müssen. Schon früher konnte ich nie Geschenke vor den Augen der Erwachsenen auspacken. Ich wollte mich nicht zur Lüge zwingen lassen, zu einem strahlenden Lächeln für ein Buch, das ich schon gelesen hatte, oder für ein Paket Schienen mit falscher Spurweite. Sollte man nicht wenigstens am glücklichsten Tag seines Lebens einmal nach eigenem Ermessen glücklich sein dürfen oder sogar unglücklich? Auch die Glückwunschtelegramme schreiben einem das Glück vor: Ein Glück kommt selten allein. Denn das Glück, geliebt zu werden, ist das höchste Glück auf Erden. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer das Glück hat, führt die Braut heim usw.

Der Film ist gerissen. Blendende Helle auf der Leinwand. Das Glück streikt, es ist auf und davon. Doris besteht darauf, dass ich ihn sofort zusammenleime, den glücklichsten Tag unseres Lebens. Ich schlage Schattenbilder vor: Der Wolf frisst das Rotkäppchen oder der Elefant verliert seinen Rüssel. Streiten wir doch nicht am Hochzeitstag! Ich krame die Utensilien hervor, spanne die beiden Zelluloidstreifen ins Apparätchen ein, schleife die Rissstellen rauh, schneide die Enden grad, tupfe Leim auf mit dem Pinselchen und lasse den Drücker zuschnappen. Welche Bewegung ist verlorengegangen, welcher Händedruck?

«Weisst du noch», sagt Doris, «wie der Pfarrer zu spät kam, weil wir in der Hitze des Gefechtes vergessen hatten, ihn abzuholen? Weisst du noch, dass Klara wegen ihrer Darmgrippe nicht orgeln konnte? Weisst du noch, wie mir der Schuh im Rasen stecken blieb, als wir auf die Kirche zuschritten? Weisst du noch, wie die Kinder nach den Feuersteinen haschten?» Nein, Doris, ich weiss es noch nicht. Wir werden den Tag nachholen müssen in meiner viel strapazierten Phantasie, ohne die Verwandten zu alarmieren, ohne einen Tischplan aufstellen zu müssen mit einem Onkel Max, den man nicht neben Tante Vera setzen darf, weil er ihr sonst ins Dekolleté schielt, ohne Feuersteine, Glückwunschtelegramme und Produktionen, ohne Fotografen, die auf Bildern festhalten, was sich nicht festhalten lässt. Das Glück, das sich nicht an den Kalender hält, wird da sein ohne Aufgebot, und es braucht nicht in die Kamera zu lächeln. Es wird ein Tag sein, der ganz uns gehört, ein Tag wie alle andern, so weiss und hell wie das flimmernde Rechteck auf der Leinwand.

Der Film ist wieder eingefädelt, wir können im Dunkeln weiterheiraten. Soeben ist die Trauung rückgängig gemacht worden, der Pfarrer hat die ersten Worte verschluckt, die Töne haben in die Orgelpfeifen und ins Gebläse zurückgefunden. Die Kirchentür öffnet sich, und das Bild wird dunkel von den vielen Rücken. Zuletzt das Brautführerpaar, die Mutter mit dem Bräutigam und der Vater mit der Braut. Die Verpackung in bändergeschmückte und auf Hochglanz polierte Limousinen folgt. Alle fahren viel zu rasch rückwärts, ein Wunder, dass es keine Unfälle gibt.


Erschienen: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band (Jahr): 50 (1970-1971), Heft 5

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