«Der Gemeinderat war für mich die beste Ausbildung fürs Leben»
Der Musiker und Unternehmer Marc Trauffer sorgt sich um das Milizsystem und hält Kulturjournalisten für irrelevant. Für Historiker Oliver Zimmer erhöht die Globalisierung die Sehnsucht nach der eigenen Herkunft.
Das vollständige Gespräch ist auch als Podcast verfügbar.
Marc, du bist für dieses Gespräch aus dem Berner Oberland nach Zürich gekommen. Ist das ein grosser Wechsel für dich?
Marc Trauffer: Die Unterschiede in der Schweiz sind relativ klein. Es ist, wie wenn all die Städter am Wochenende zu uns in die Sonne zum Wandern kommen. Den grossen Unterschied, mit dem ich auch manchmal ein bisschen in meinen Songs spiele, erkennt man dann beim genaueren Hinsehen eben doch nicht.
Wie unterschiedlich ticken Stadt und Land in der Schweiz?
Trauffer: Wir sind nicht so unterschiedlich, wie wir meinen, auch wenn das in den Medien immer so dargestellt wird. Es gibt aber selbstverständlich Unterschiede: Wenn ich in der Stadt wohnen würde, hätte ich auch kein Auto mehr, denn man kommt problemlos überallhin. Doch bei uns oben brauchst du, wenn du eine Familie hast und beide berufstätig sind, nicht ein, sondern zwei Autos, weil nach 20 Uhr kein Bus mehr fährt.
Oliver, wie siehst du das Stadt-Land-Gefälle?
Oliver Zimmer: Es kommt immer darauf an, von welchem Land wir sprechen. Ich wage jetzt mal die These: Das Land zu generalisieren ist heute schwieriger als die Städte. St. Gallen ist kleiner als Zürich, aber es gibt Tendenzen, die sehr ähnlich sind. Das Land ist auf eine faszinierende Art divers. Was ja noch lustig ist, wenn man bedenkt, dass der Multikulturalismus einer der Grundwerte der urbanen Kultur ist. Ich sehe diesen eher auf dem Land.
Oliver, dein Vater war Elektriker, deine Mutter Hausfrau. Du hast dich aus der Schweizer Arbeiterklasse bis ganz nach oben nach Oxford in der Akademie gekämpft. Was war denn der Antrieb dafür?
Zimmer: Wenn ich mal einen Entschluss gefasst habe, bin ich sehr stur und setze den durch. Ich musste ja auch ein bisschen zum Macher werden, um nicht nur davon zu reden, wegzugehen, sondern auch wirklich zu gehen. In Oxford fühlte ich mich von Anfang an wie der Fisch im Wasser. Ich hatte nie das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Marc, hast du schon mal darüber nachgedacht, ein paar Jahre im Ausland zu leben?
Trauffer: Bis jetzt war das nie ein Thema für mich. Ich habe eine Maurerlehre gemacht und relativ rasch eine Firma und eine Familie gegründet. Im Urlaub war ich zwar immer wieder mal im Ausland, aber nie länger. Doch je älter ich werde, desto mehr habe ich das Gefühl: Ich möchte irgendwann die Reissleine ziehen und die Welt sehen.
Was bedeutet Heimat für euch?
Trauffer: Wäre ich in Genf geboren, dann wäre Genf meine Heimat. Ich glaube, Heimat ist nicht dermassen in Stein gemeisselt, wie man das oft glaubt. Es kommt auch darauf an, welchen Fokus man setzt. Meine Heimat ist ganz klar Hofstetten. Aber in Zürich sage ich, dass ich im Berner Oberland zu Hause bin, weil hier keiner Hofstetten kennt. Und wenn ich im Ausland bin, komme ich aus der Schweiz.
Zimmer: Für mich war Heimat immer dort, wo Menschen sind, die mir etwas bedeuten. Man schafft eine Heimat, indem man sich ein Haus, eine Wohnung, eine eigene Umgebung einrichtet. So gesehen ist England auch eine Heimat für mich. Die Schweiz ist in dem Sinne meine Heimat, dass ich vertraut bin mit den Sprachen, der Mundart und so weiter. Einen einzelnen geografischen Ort in der Schweiz als Heimat betrachtet habe ich aber beispielsweise nie.
Marc, die Volksmusik wurde lange ein bisschen belächelt und hat jetzt in der jüngeren Vergangenheit in modernisierter Form eine Renaissance erlebt, die du sicher auch geprägt hast. Warum?
Trauffer: In einer globalisierten Welt sehen die Innenstädte alle gleich aus. Alles ist rasch erreichbar: Die 20-Jährigen steigen heute in ein Flugzeug und fliegen für 40, 50 Euro schnell in die nächste Stadt, die dann doch wieder gleich aussieht wie zu Hause. Ich will ehrlich sein: Wenn ich in eine spanische Stadt fliege, dann will ich weder Zara, Starbucks noch McDonald’s sehen. Ich möchte geile Tapas essen und Kastagnetten hören – ich möchte etwas erleben, das mit Spanien zu tun hat. Dass Volksmusik wieder zum Trend geworden ist, hat auch mit einer jüngeren Generation zu tun, die sich fragt: Wo komme ich eigentlich her, wo sind meine Wurzeln?
Zimmer: Eine interessante Beobachtung. Wenn ich sage, dass Heimat für mich kein bestimmter Ort sei, meine ich damit nicht, dass Herkunft nicht wichtig sei. Die Globalisierung führt nicht dazu, dass sich die Leute weniger für Heimat interessieren, sondern eher mehr. Obwohl eine Homogenisierung stattfindet, bleibt die Sehnsucht nach Herkunft.
Du hast mal in der NZZ über den «Weltoffenheitswahn» unseres Establishments geschrieben, der etwas Provinzielles habe.
Zimmer: Das hat mit meiner Biografie zu tun. Ich bin weggegangen und arbeitete jahrelang an der Universität in Oxford. Darum langweilen mich diese Weltoffenheitsdiskurse zu Tode, die kommen immer aus der Provinzialität heraus. Man sieht das zum Beispiel in der Europafrage: Wer für eine engere Anbindung an die EU ist, gilt automatisch als weltoffen. So was leuchtet wirklich nur sehr konformistisch Denkenden ein.
Es gibt mehrere Gruppen von Leuten, die sehr begeistert sind von der Schweiz: Erstens die mit einem völlig unverkrampften Verhältnis zur Schweiz. Zweitens die Secondos, die oft die überzeugteren Schweizer sind als manche Urschweizer. Drittens Leute wie du, die 20 Jahre im Ausland gearbeitet haben und dann zurückkehren.
Zimmer: In der Schweiz hat man, besonders in der Elite, ein ausgeprägtes Bewusstsein, in einem kleinen Land zu leben, und bekommt dadurch einen Provinzkomplex. In einem Land, in dem eine Weltsprache gesprochen wird, gibt es das wahrscheinlich weniger, obwohl es sich vielleicht genauso provinziell verhält. Vor allem Leute mit sogenannter tertiärer Bildung haben damit ein Problem, das sie kompensieren müssen.
Was ist provinziell für dich, Marc?
Trauffer: Ich habe Mühe damit, dass die Schubladisierung extremer wird. Wenn mir ein Zürcher vorwirft, dass das Berner Oberland provinziell sei, kann ich das nicht ganz ernst nehmen. Wer lange genug im gleichen Stadtzürcher Quartier wohnt, kennt hier auch jeden Baum. Das ist nichts anderes als ein Dorf. Sich innerhalb der kleinen Schweiz vorzuwerfen, der andere sei provinziell, ist einfach nur peinlich.
«Sich innerhalb der kleinen Schweiz vorzuwerfen, der andere sei
provinziell, ist einfach nur peinlich.»
Die Grenzen verschwinden, sobald man miteinander redet. Dennoch werden die Blasen eher noch wichtiger.
Trauffer: Man bekommt heute eigentlich nur noch mit, was in der eigenen Bubble passiert. Das finde ich bedenklich. Nehmen wir die Kulturjournalisten, die bei den grossen Medienhäusern am Ruder sitzen und immer noch das Gefühl haben, für ein Leitmedium zu schreiben. Dabei ist das ein Witz. Bei jedem Album, das ich in den letzten zehn Jahren herausgegeben habe, hiess es, das sei lächerlich, Musik für dumme Leute, Heimatreiterei und so weiter. Auf meinen Erfolg hatte das nie Einfluss. Ausserhalb ihrer eigenen Bubble sind diese Kulturjournalisten irrelevant geworden.
Zimmer: Diese journalistischen Diskurse sind oft sehr konformistisch. Es geht nur noch darum, ob man den «richtigen» oder den «falschen» Geschmack hat, die «richtige» oder «falsche» Ansicht. Das spielt sich alles auf einer rationalen Ebene ab. Mit der Musik dagegen sprichst du ja auch die emotionale Ebene an.
Trauffer: Wir haben wirklich grossartige gesellschaftskritische Musiker in diesem Land. Das ist aber nicht das, was ich kann. Ich kann, ich will die Leute unterhalten. Ich bin der mit den farbigen Luftballons. Ich gebe den Leuten einfach eine Pause von ihrem verdammten Leben. Wenn die Leute das toll finden, sehe ich nichts Schlechtes daran.
Du bist nicht nur Musiker, sondern auch Unternehmer. Du hast 2011 die Familienfirma übernommen, die Holzkühe herstellt. War dieser Weg für dich vorgezeichnet?
Trauffer: Nein, der war alles andere als vorgezeichnet. Für mich stand fest, dass ich das nie machen würde. Dann hat sich alles ein bisschen anders entwickelt. Ich tourte als Musiker durch die Schweiz und sah überall diese Kühe – doch sie standen einfach da, kein Mensch wusste, woher sie kommen, die Marke war inexistent. Da wusste ich, dass das mein Platz und mein Weg sein könnte.
Du führst inzwischen auch ein Bretterhotel. Was ist das?
Trauffer: Irgendwann wurde mir klar, dass ich nach aussen kommunizieren muss, wie wir diese Kühe machen, dass das auch heute noch Handarbeit ist. Wir merkten dann schnell, dass das ohne Restaurant nicht funktioniert. Und dass ein Restaurant ohne Hotelzimmer nicht funktioniert. So ist das Ding ein bisschen ausser Kontrolle gewachsen, aber wir haben es dann 2022 tatsächlich eröffnet.
Du hast mit 15 Mitarbeitern angefangen, jetzt hast du über 200. Wird es in diesem Stil weitergehen?
Trauffer: Ich hoffe nicht (lacht). Sonst wird das ein bisschen sehr stressig. Der grosse Wachstumsschub kam mit dem Hotel und der Erlebniswelt. Im Moment versuchen wir, ein bisschen Kontrolle über das Chaos zu gewinnen.
Zimmer: Ein Faszinosum der Schweiz ist die unternehmerische Tätigkeit in der Provinz. Die Industrialisierung lief nicht wie in England ab, wo sie auf die Städte und Agglomerationen konzentriert war, sondern auf dem Land, angetrieben durch die Wasserkraft. Die Landschaft war immer sehr stark unternehmerisch tätig. Die Schweiz ist mehr als Google an der Europaallee (lacht).
«Die Schweiz ist mehr als Google an der Europaallee.»
Marc, du bist nicht nur Unternehmer und Musiker. Du hast dich zeitweise auch im Gemeinderat eingebracht.
Trauffer: Ich war mit allem ein bisschen zu früh in meinem Leben. Ich heiratete früh, wurde ganz jung Vater, war früh in der Politik. Ich war elf Jahre Vizepräsident in der Gemeinde. Mir hat das sämtliche Managerschulen, die ich hätte besuchen können, erspart.
Was hast du denn gelernt?
Trauffer: Man wird ins reale Leben hineingeworfen. Du kommst als junger Kerl da rein und du musst das Sozialwesen leiten. Du musst Familien unterstützen. Es liegen sehr viele Probleme auf dem Tisch, und die müssen gelöst werden. Der Gemeinderat war für mich die beste Ausbildung fürs Leben. Ich kann es jedem nur raten.
Das ist die beste Werbung für die Milizpolitik, die ich seit langem gehört habe.
Trauffer: Fakt ist aber, dass das heute kaum noch jemand machen will, weil man sich natürlich exponiert. In unserem Dorf wurde der Gemeinderat immer weiter verkleinert, weil man niemanden mehr findet, der bereit ist, zwei-, dreimal in der Woche am Abend an eine Sitzung zu gehen. Früher hatten wir auch noch mehr freie Hand. Heute, mit der zunehmenden Regulierung aus Bern, wird der Spielraum immer kleiner. Wenn du nur noch der ausführende Arm von Bern bist und nicht einmal mehr einen Hühnerstall in Eigenregie bewilligen kannst, dann macht es natürlich nicht mehr so viel Freude.
Wie wichtig ist das Milizprinzip für das Verständnis der Schweiz, Oliver?
Zimmer: Dass man für die res publica in der Öffentlichkeit arbeitet und sich exponiert, das ist in einem Staat wie der Schweiz extrem wichtig. Heute ist dieses Modell etwas in der Krise. Die Idee ist, dass die Bürger den Staat selbst machen, von unten herauf. Wenn die Leute das Gefühl haben, dass der Staat «die da draussen» sind, dann ist die Schweiz nicht mehr das gleiche Land. Dann ist sie nicht mehr eine Republik, wo die Leute sich einbringen, wo sie Selbstverantwortung und Mitbestimmung ausüben – zum Beispiel über den Bau eines Hühnerstalls. Man müsste das Milizprinzip vielleicht wieder etwas auffrischen und in die heutige Sprache übersetzen. Das Gute ist eben nicht, wenn sich ein Bundesstaat auf etwas einigt, sondern das Gute ist, wenn sich Leute auf der lokalen Ebene einbringen. Das ist eine unglaublich kreative Sache und ein Ausdruck der Selbstbestimmung.
Was mir auffällt, ist, dass die Leute gar nicht mehr auf die Idee kommen, sich mit dem Milizprinzip zu beschäftigen oder zum Beispiel in einen Verein einzutreten. Früher war es auf dem Land selbstverständlich, in zwei, drei Vereine zu gehen und mitzuarbeiten. Heute kommen die Jungen schon oft gar nicht mehr auf die Idee, das zu machen.
Trauffer: Ich sehe eine Wende mit der nächsten Generation: Ich habe zwei Kinder, 21 und 23, die fangen jetzt an, wieder Partys selbst zu organisieren. Vielleicht sind sie nicht im Fussballverein oder im Turnverein, aber sie organisieren etwas. Bei uns ist beispielsweise die «Riibi-Chilbi» aus dem Nichts entstanden und ist heute eine richtig grosse Organisation. Es ist nicht fair, zu sagen: «Die Jungen machen es nicht mehr.» Sie machen es einfach nicht unbedingt in der Gemeinde oder in der Feuerwehr, auch wenn das sehr schade ist.