Der gallische Hahn als Vogel Strauss
Frankreich bewegt sich – in Richtung Griechenland. Seit Jahrzehnten von Stillständen gelähmt und in Verkrustungen gefangen, steht das Land heute am Abgrund. Freilich ohne es zu merken: Die «Grande Nation» ist zur grossen Meisterin der Selbsttäuschung geworden.
Um die Realität einer schweren Krankheit anzuerkennen, muss ein Individuum laut Psychologen fünf unterschiedliche Phasen durchlaufen: Von der Verweigerung gelangt es zur Wut, beginnt dann zu feilschen, verfällt in Depression und erst daran schliesst sich die Akzeptanz an, die eine Behandlung ermöglicht. Dieselben Stadien gelten auch für Nationen. Frankreich war einst ein reiches und prosperierendes Land – es ist es nicht mehr. Nur will es das nicht einsehen: Unter dem Druck von Krisen und Populismen schwankt Frankreich heute zwischen Verweigerung und Wut und verschliesst hartnäckig die Augen vor der Realität.
Seit über drei Jahrzehnten bilden Frankreich und die Franzosen eine politische und intellektuelle Blase, um sich in ihr von der Welt abzukapseln; sie entziehen sich den grossen Transformationen der kapitalistischen Dynamik und des geopolitischen Systems, das von der Globalisierung und dem Aufstieg der Entwicklungsländer bestimmt ist; sie ziehen sich in Utopien oder die mythisierte Geschichte zurück, anstatt reale Probleme anzuerkennen – geschweige anzugehen; sie kultivieren realitätsfremde Ideen, um den Status quo zu rechtfertigen und jenen Reformen auszuweichen, von denen alle wissen, dass sie unumgänglich sind, für die aber niemand die Verantwortung übernehmen will.
Wirtschaft auf irrwitzigen Wegen
Diese Verweigerung ist ansteckend. Sie hat sukzessive alle Bereiche des öffentlichen Lebens kontaminiert. Seinen Ausgang nahm das Malaise in der Wirtschaft. 1981 hat Frankreich entschieden, dem Ende der Keynes-Ära mit einer Strategie der wirtschaftlichen Belebung (stratégie de relance) zu begegnen und mit kapitalistischen Wirtschaftsordnungen zu brechen. Von diesen Entscheidungen haben sich der französische Produktionsapparat und die gallischen Staatsfinanzen nie wieder erholt. 1992 hat es sich dem Euro angeschlossen, was die Möglichkeit der internen Abwertung ausschloss und jeden Ausgleich der Realwirtschaft übertrug. Gleichzeitig stürzte man sich in ein für die Wettbewerbsfähigkeit tödliches Experiment zur Reduktion der Arbeitszeit. Und seit 2008 reagiert Frankreich mit einer beispiellosen Beschleunigung der Staatsausgaben und -schulden auf die Wirtschaftskrise der Blasen und den Zusammenbruch des Wachstums auf Kredit.
In einem Land, in dem die Staatsausgaben – anders als in allen anderen europäischen Ländern – nie eine Verringerung erfahren und stattdessen einen Rekordstand – 56,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – erreicht haben, sieht sich fortwährender Kritik ausgesetzt, wer Austerität fordert. Weiter beschreitet die weltweit fünftgrösste Wirtschaftsmacht jenen irrwitzigen Weg, auf dem die Sozialleistungen einen Drittel des Volksvermögens übersteigen und auf dem ein Konsum aufrechterhalten wird, der die Produktion um zehn Prozent übertrifft. Seit drei Jahrzehnten preist Frankreich damit ein unhaltbares ökonomisches Modell, das wirtschaftliches Wachstum ausgerottet und eine permanente Arbeitslosigkeit geschaffen hat.
Destination: Abstieg
Nach dem Platzen der Blasenökonomie sind auf Kredit basierende Wachstumsmodelle überholt. Die Stärke einer Nation hängt heute deshalb von ihrer Fähigkeit ab, reales Wachstum zu generieren, und diese Stärke wiederum ergibt sich aus der Qualität der Staatsführung, der Dynamik der Demographie, der Leistungsfähigkeit der Infrastrukturen und des Humankapitals sowie der Innovationskraft. In Frankreich befinden sich alle Motoren der wirtschaftlichen Aktivität im Leerlauf. Die Staatsschuld liegt bei über 90 Prozent des BIP und beeinträchtigt sowohl Wirtschaftstätigkeit als auch Beschäftigungsrate. Der Konsum ist durch den Anstieg der steuerlichen Belastung und den Imperativ der Entschuldung dauerhaft gebremst. Die Investitionen in wirtschaftliche Infrastrukturen stagnieren in dem Mass, wie die Unternehmensgewinne sinken. Die Exporte brechen zusammen mit der Wettbewerbsfähigkeit ein, was sich in einem rekordhohen Handelsdefizit spiegelt. Das Wachstum und mit ihm die Handelsströme befinden sich also in dauerhaftem Stillstand.
Ob es sich um das Kapital seiner grossen Firmen, seiner Marken, seiner Immobilienwerte oder seiner Ersparnisse handelt, Frankreich veräussert nach und nach sein Erbe an Kapital, um mit den Erlösen um jeden Preis seinen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Die Staatsbilanz, 1980 mit über 600 Milliarden Euro im Plus, ist heute mit 835 Milliarden im Minus (wobei man hier noch 2272 Milliarden ausserbilanzlicher Verpflichtungen dazurechnen müsste, von denen 1352 Milliarden auf Rentenverbindlichkeiten entfallen). Die Schere zwischen dem Hochschnellen der Schulden einerseits und der Stagnation der Wirtschaftsaktivität und dem Einbruch des Produktionsapparates andererseits macht, wie in Italien und Spanien, einen brutalen Anstieg der Zinssätze unumgänglich.
Seit 2013 ist Frankreich mittlerweile der grösste Schuldner innerhalb der Eurozone. Seine Verletzlichkeit wird durch den Umstand erhöht, dass seine Schulden zum grössten Teil kurzfristig sind und zu zwei Dritteln von internationalen Investoren gehalten werden. Und geschützt werden wird Frankreich weder von seiner Grösse (wie Spaniens und Italiens Abstiege in die Hölle zeigen, hindert Grösse nicht vor Zahlungsunfähigkeit) noch – mit Blick auf die steigenden Spannungen in der deutsch-französischen Beziehung – vom Finanzschirm Deutschlands. Frankreich nähert sich damit gefährlich dem Moment, da es die Rechnung für das drei Jahrzehnte lang geführte Leben auf Kredit bezahlen muss.
Realität und Rede
Die Verweigerungshaltung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aber weit über die Wirtschaft hinaus ausgedehnt und sich in der gesamten Gesellschaft etabliert.
Sie findet sich im Herzen der egalitaristischen Obsession, die jenes Land kultiviert, das die geringsten Einkommensungleichheiten der ganzen entwickelten Welt aufweist. Sie zeigt sich in den festlichen Inszenierungen einer kommemorierenden Nation, die nicht müde wird, die Episoden ihres historischen Romans wiederzugeben, um so die klaffenden Gräben zu vertuschen, die sich in einer Gesellschaft auftun, die in Generationen, Status, Gemeinden, Rassen und Gebiete zersprungen ist und keine gemeinsame Zukunft mehr sieht. Sie kommt zum Ausdruck, wenn die Qualität der öffentlichen Dienste hochgejubelt wird – in einem Moment, da alle Umfragen den Leistungseinbruch der Schuleinrichtungen, der Universitäten, des Gesundheitssystems, der Polizei oder der Justiz belegen. Sie offenbart sich in der Religion des Staates, die fortpraktiziert wird, obschon dieser Staat längst zum Kern des französischen Problems geworden und auf keinen Fall dessen Lösung ist. Und nicht zuletzt erklärt die Realitätsblindheit auch die ununterbrochene Anprangerung des «Ultraliberalismus» in Frankreich – mithin dem «sozialsten» Land der entwickelten Welt, das den liberalen Kernprinzipien der Moderation, der Gewaltenteilung, des Respekts vor dem Rechtstaat und des Schutzes der Bürgerautonomie am feindlichsten gegenübersteht.
Am spektakulärsten aber ist die Diskrepanz zwischen einem Frankreich, das sich in einem virtuellen Universum eingerichtet hat, und der neuen internationalen Ausgangslage des 21. Jahrhunderts. Sich seines Sitzes im Sicherheitsrat und seiner nuklearen Abschreckungskraft gewiss, lebt Frankreich noch immer in der Überzeugung, eine Grossmacht zu sein – während es zusehends marginalisiert wird, weil die geopolitische Konfiguration wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit höher gewichtet als Fragen der Sicherheitspolitik. Trotz seines wirtschaftlichen Niedergangs, der das Land bis 2030 aus dem Kreis der zehn wichtigsten Mächte herausführen wird, stellt es gegenüber den Entwicklungsländern seine Arroganz zur Schau, indem es diese mit protektionistischen Repressalien bedroht – wo die aufstrebenden Märkte doch den Schlüssel des Wachstums in den Händen halten. Und indem es sich erdreistet, von ihnen jene Reformen zu verlangen, denen es sich selber widersetzt. Ja sogar, indem es sie – beispielsweise die afrikanischen Länder – auffordert, in die Weltgeschichte einzutreten: Während die angesprochenen Länder dies längst tun, spricht Frankreich nur mehr noch davon.
Ungleichheitsmaschinerie
Frankreich hat viel dazu beigetragen, die Idee der Nation zu erfinden und zu formen, bildet heute aber selber keine wirkliche Gemeinschaft mehr. Es ist zu einem Konglomerat von separierten Gemeinschaften, Interessengruppen und Korporationen verkommen, die nicht nur keinen Willen mehr verspüren, gemeinsam zu leben, sondern vielmehr ihre gegenseitige Abspaltung vorbereiten.
Die Solidarität, die ein wechselseitiges Engagement und eine Verantwortlichkeit gegenüber dem Schicksal des Kollektivs und der anderen Bürger voraussetzt, ist verschwunden; herabgewürdigt durch das Gipfeltreffen von Egoismus und schlimmstem Zynismus, sprich durch das unlimitierte Ziehungsrecht auf Sozialleistungen, das über die Staatsschuld finanziert und den künftigen Generationen als Bürde aufgeladen wird. Der zivile Geist hat das Feld zugunsten einer Schmarotzermentalität geräumt – auf Kosten einer Jugend, deren gesamtes Erbe in einem bankrotten Staat besteht. Chronos verschlang seine Kinder, die Franzosen haben beschlossen, die ihren zu ruinieren.
Die Überprotektion, die der Staat mit seinen Leistungen den einen gewährt, resultiert demnach in der Exklusion «der anderen», namentlich der Jugendlichen, der Immigranten und deren Nachfahren. Die daraus entstehende geschlossene Gesellschaft hat sich letztlich in eine furchterregende Maschine zur Verankerung von existierenden Ungleichheiten entwickelt; nicht auf der Ebene der Einkünfte, die durch die Sozialleistungen ausgeglichen werden, sondern auf der Ebene der gesellschaftlichen Stellung. Daher rührt auch das totale Scheitern der Integration: Besessen von der Egalität, ist Frankreich eines der entwickelten Länder mit der stärksten Diskrimination von Jugendlichen und Immigranten unterschiedlicher Generationen.
Freilich sind nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft vom «Verweigerungsgeschwür» befallen, auch die Politik ist sein prominentes Opfer und verfällt seinetwegen in Ohnmacht: Nicht mehr in der Lage, konkrete Aktionen anzustossen, wird Politik zur puren Illusion. Randvoll mit Abstraktionen, spielt sich die politische Debatte in der Schwerelosigkeit ab, denn über den Rückgriff auf grosse Prinzipien lässt sich jedes konkrete Problem umgehen. Endlos ist folglich die Liste der verpassten Möglichkeiten zur Modernisierung des Landes.
Die Linke hat die Aufschwungsphasen Ende der 1980er und 90er Jahre mit der Verteilung nicht finanzierter universeller Rechte – von der Einkommensbeihilfe bis zur sozialen Krankenversicherung – verschwendet und gleichzeitig mit dem Gesetz zur 35-Stunden-Woche die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Firmen untergraben: Während in Deutschland die Arbeitskosten stabil blieben, hat das Gesetz in Frankreich einen Anstieg um 30 Prozent bewirkt. Und die Rechte hat sich einer Umwandlung von Frankreichs wirtschaftlichem und sozialem Modell permanent widersetzt. 1995 hat sie einen Fiskalschock ausgelöst, der das Land von der weltweiten wirtschaftlichen Erholung abgeschnitten und den Weg für eine verhängnisvolle Kohabitation von Links und Rechts geebnet hat. 2002 hat Jacques Chirac die nationale Union abgelehnt, die sich nach seiner Wiederwahl aufgedrängt hatte.
2007 hat Nicolas Sarkozy das Reformmandat zerzaust, das die Franzosen ihm übertragen hatten – um sich zuerst um seine persönlichen Probleme und dann um die Verwaltung der weltweiten und europäischen Krise zu kümmern. Das war in einer zweiten Phase zwar richtig, aber nur zum Preis einer kompletten Aufgabe seines Mandats für einen «Bruch» – sprich die Modernisierung des französischen Modells – zu haben. Auf internationaler Ebene in mancherlei Hinsicht gelungen, war sein Mandat im Inneren unfruchtbar und zeitigte, von der Krise verschlimmert, folgende Resultate: 640 Milliarden zusätzliche Staatsschulden in fünf Jahren bei einer Verringerung der industriellen Produktion um zehn Prozent; ein rekordhohes Handelsdefizit, das 70 Prozent des BIP erreicht; einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf zehn Prozent der aktiven Bevölkerung.
Hinter den wechselnden Regierungen findet man demnach seit drei Jahrzehnten die Kontinuität eines unhaltbaren Modells, in dem der einzige Motor eines gegen null tendierenden realen Wachstums der Konsum ist, der aus den Sozialleistungen gespeist wird, die ihrerseits durch die Staatsschuld finanziert werden.
Monarchische Demokratie
Niemand kann heute daran zweifeln, dass Frankreich in Kürze das gleiche Schicksal erleiden wird wie Italien und Spanien, die vor dem Hintergrund der Rezession, der Schuldenexplosion, der gesunkenen Wettbewerbsfähigkeit und der gestiegenen Arbeitslosigkeit vom brutalen Anstieg der Zinsen in die Zahlungsunfähigkeit getrieben wurden. Diese Situation war mitnichten unumgänglich, doch hat die führende Klasse Frankreichs den Bankrott anstelle der Reform gewählt. Sie hat alle Warnsignale ignoriert und das Land verraten, indem sie Wahltaktiken höher gewichtet hat als die übergeordneten Interessen der Nation.
Anders als das Vereinigte Königreich, das eine mit demokratischen Institutionen ausgestattete Klassengesellschaft ist, bleibt Frankreich eine von monarchischen Institutionen regierte Ständegesellschaft. Alle heutigen Demokratien weisen eine oligarchische Dimension auf, insofern sie Eliten entstehen lassen. Sind aber diese Eliten in anderen Demokratien divers, offen und mit-einander im Wettbewerb, führt die extreme Zentralisierung Frankreichs zu einer starken Konzentration, einer Schliessung und einer Endogamie der Eliten. Wenn Demokratien aufgrund ihres Respekts für die Person und die Mechanismen des Rechtsstaats wesensgemäss konservative Regime sind, treibt Frankreich die Vorliebe für den Status quo und das Misstrauen gegenüber der Innovation auf die Spitze. Es bleibt somit eine halbseitig gelähmte – da antiliberale – und unfertige Demokratie, weil sie unfähig ist, den klassischen Reformprozess der freien Nationen durchzusetzen, den kürzlich so unterschiedliche Länder wie Kanada, Schweden, Dänemark, Australien, Neuseeland oder Deutschland angewandt haben. Indem wir in Frankreich Reformen abgelehnt haben, haben wir letztlich den Weg Griechenlands gewählt – auch wenn wir länger brauchen, ihn zu durchlaufen.
Augen auf!
Kurz, Frankreich und die Franzosen belügen sich selbst, und zwar in allen möglichen Belangen. Am Ende der drei Jahrzehnte des Wegschauens, der Verweigerung und der verpassten Gelegenheiten findet sich das Land in einer höchst kritischen Situation wieder – der Zustand Frankreichs ist um ein Mehrfaches schlimmer, als die Landesführung glauben macht. Frankreich befindet sich in den Klauen jener Mechanik, die Spanien und Italien zermalmt. In diesem entscheidenden Moment können wir aber noch über unser Schicksal verfügen: Entweder ergeben wir uns der Dynamik, die diese beiden Länder mit sich fortreisst, oder wir widersetzen uns, angelehnt an Deutschland. Das aber können wir nur, wenn wir es schaffen, unser wirtschaftliches und soziales Modell zu reformieren – und das ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass wir endlich den Schleier der Verweigerung zerreissen. Drei Jahrzehnte sind genug und es ist keine weitere Zeit zu verlieren: Frankreich muss jetzt die Augen öffnen und dem Ende seiner Träume und Illusionen entgegenblicken, um sich endlich mit der Realität ausserhalb der selbst geschaffenen Blase auseinanderzusetzen.
Nicolas Baverez ist Historiker, Ökonom, Kolumnist bei verschiedenen französischen Zeitungen und Magazinen und Autor mehrerer Bücher, die sich mit dem Niedergang Frankreichs auseinandersetzen, u.a. «La France qui tombe» (Perrin, 2003) und «Réveillez-vous!» (Fayard, 2012).
Der Text versammelt in konzentrierter Form die Hauptthesen aus Nicolas Baverez‘ Buch «Réveillez-vous!»
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Mäder