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«Der Föderalismus ist nie vollendet»
Franz Marty, fotografiert von Daniel Jung.

«Der Föderalismus ist nie vollendet»

Der Schwyzer alt Regierungsrat sagt, weshalb wir nach der Pandemie die Aufgaben zwischen Bund und Kantonen neu verteilen sollten. Und warum tiefe Steuern allen nützen.

Herr Marty, in der Pandemie hat die Klage über den «Kantönligeist» Hochkonjunktur. Hat der Föderalismus in der Krise versagt?

Die Verantwortlichen im Bund und in den Kantonen sind durch die Pandemie kalt erwischt worden. In dieser Situation auf Sicht immer wieder neu zu entscheiden, ist keine leichte Aufgabe. Der Föderalismus muss vielleicht in diesem Zusammenhang, wenn die Erfahrungen ausgewertet sind, hinterfragt werden. In einer Pandemie verfolgen eigentlich alle Kantone die gleiche Präferenz, nämlich möglichst die Gesundheit und das Leben der Menschen zu sichern. Deshalb, und weil auf der anderen Seite die Pandemie keine Grenzen kennt, müsste man hier eine klare Zuständigkeit des Bundes festlegen.

Und die hat gefehlt?

Ja. Es werden jetzt häufig Entscheidungen gefällt, die im Dialog vorbereitet werden müssen, mit Vernehmlassungen. Und zum Teil sind die Zuständigkeiten je nach Aufgabengebiet nicht ganz klar.

Kantone und Bund haben sich wiederholt öffentliche Schlagabtausche geliefert. Ist das Ausdruck der ausserordentlichen Lage oder vielleicht auch einer veränderten politischen Kultur?

Ich denke, es ist in erster Linie die zugespitzte Lage einer Pandemie, die dazu führt, dass hier und da die Meinungen aufeinanderprallen oder, weil die Medien ja auch in der Pandemie ihre Rolle spielen, die Meinungsunterschiede zugespitzt werden.

Generell: In welcher Verfassung sehen Sie den schweizerischen Föderalismus?

Grundsätzlich ist der schweizerische Föderalismus gut aufgestellt. Im Vergleich zu anderen Staaten ist bei uns der Föderalismus lebendig; die Kantone, die Gemeinden und der Bund spielen ihre Rollen. Natürlich ist dieses Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen nie perfekt, sondern es gibt immer wieder Konflikte. Aber ich glaube, dass wir in der Schweiz in einer guten Ausgangslage sind, diese Konflikte zu lösen, auch wenn sie hier und da ­etwas robust ausgetragen werden.

Aus Sicht der Kantone muss man allerdings feststellen, dass sie in der jüngeren Vergangenheit an Spielraum verloren haben.

Der Föderalismus verhält sich sehr dynamisch. Tatsache ist, dass in den letzten Jahrzehnten die Tendenz zur Zentralisierung zugenommen hat. Es werden auch vermehrt wieder Aufgaben im Verbund zwischen Bund und Kantonen gelöst, Mischfinanzierungen kommen wieder auf, was eigentlich nicht der Idee der Revision von Aufgaben und Finanzausgleich entspricht.

Sie sprechen den neuen Finanzausgleich NFA an, den Sie massgeblich mitgeprägt haben. Wie ist dieses Reformwerk zustande gekommen?

Der NFA war ein Mammutprojekt, das 1991 seinen Anfang nahm und 2008 in Kraft getreten ist. Begonnen hat man es, weil die ­Kantone feststellten, dass der damalige Finanzausgleich seine Wirkung nicht mehr erzielte.

Inwiefern?

Es wurde sehr viel Geld vom Bund an die Kantone geleitet, aber meistens als Subventionen mit ganz bestimmten Zwecken. Die Kantone wurden in ihrem Entscheidungsspielraum immer stärker eingeschränkt durch die Anreize der Subventionen. Eine Projektorganisation überlegte sich dann, wie man die Aufgaben eindeutig aufteilen und die Zuständigkeiten entweder dem Bund oder den Kantonen zuweisen könnte, mit der entsprechenden Finanzverantwortung. Wir haben dann eine Reihe von Aufgabengebieten zwischen Bund und Kantonen entflochten und den Finanzausgleich im engeren Sinn auf eine ganz neue Basis gestellt, nämlich nicht mehr zweckgebunden über Subventionen, sondern zweckfrei, damit die Kantone selbst Verantwortung übernehmen und entscheiden können.

«Dort, wo Steuern mässig und attraktiv sind, verfügen

die Menschen über mehr eigene Mittel und können

damit ihre Verantwortung selbst besser wahrnehmen.»

Derzeit wird über eine Neuauflage des NFA diskutiert, im Rahmen derer wiederum Aufgaben entflochten werden sollen. War das «Mammutwerk» letztlich nur Stückwerk?

Eigentlich ist jede Reform im Bereich des Finanzausgleichs Stückwerk. Es wird für eine bestimmte Zeit eine bessere Balance zwischen Bund und Kantonen gefunden, und im Zuge der Entwicklung über die Jahre wird es wieder nötig, die Aufgabenteilung zu überprüfen, was jetzt geschieht. Der Föderalismus ist nie vollendet, sondern befindet sich ständig in Bewegung.

In welchen Politikbereichen sehen Sie Bedarf, die Aufgaben neu zu verteilen?

Die Kantone legen vor allem Wert darauf, die Ergänzungsleistungen zur AHV zu überprüfen und zu fragen, ob nicht der Bund die Existenzsicherung im Alter klar und ganz übernehmen soll. Auf der anderen Seite legt der Bund einen Fokus auf die Frage, ob die Kantone im Bereich der Prämienverbilligung für die Kranken­kassen eine abschliessende Zuständigkeit übernehmen sollten. Und dann gibt es noch den öffentlichen Verkehr; dort wurde dummerweise wieder eine Mischfinanzierung bei der Infrastruktur eingeführt.

Warum?

Das geschah wohl aus politischen Gründen, wie das häufig der Fall ist, um eine Vorlage durchzubringen beim Volk. Man macht dann eine geteilte Lösung zwischen Bund und Kantonen. Das passiert auch jetzt in der Pandemie: Die Nothilfen für die KMU sind wieder so eine Mischfinanzierung, die eigentlich unerwünscht ist.

Man wurstelt sich also im politischen Alltag durch, auch wenn es nicht ganz sauber ist mit Blick auf die ordnungspolitischen und staatspolitischen Grundsätze.

Genau. Es wäre interessant, wenn man eine neutrale, aussen­stehende Institution damit beauftragen könnte, die Vorlagen des Bundes mit einer Ampel in bezug auf den Föderalismus zu kennzeichnen. Rot würde bedeuten: Das entspricht nicht den Grundsätzen von Subsidiarität und von Föderalismus. Grün hiesse: Es ist in Ordnung. Eine Farbe dazwischen signalisierte: Diese Misch­finanzierung sollte besser überlegt werden.

Wer könnte eine solche Aufgabe übernehmen?

Es gibt bereits solche Institutionen, etwa das Institut für Föderalismus an der Universität Freiburg. Es wäre einfach gut, wenn aus ordnungspolitischer Sicht schneller gesagt würde: Passt auf, das ist nicht unbedingt im Sinne eines guten Föderalismus.

Aber wäre das nicht wieder ein Koch mehr, der im Brei herumrührt?

Das ist nicht so schlimm. Über den Föderalismus soll durchaus diskutiert werden, sollen auch Kontroversen ausgetragen werden. Es ist doch gerade ein System, das die Mitbeteiligung und auch die Meinungsbildung anregt.

Sie haben gesagt, dass die Fiskalhoheit «das Fleisch am Knochen des Föderalismus» sei. Wie viel Fleisch ist denn noch an diesem Knochen?

Seit der NFA-Reform ist sehr viel mehr Fleisch am Knochen als vorher. Die Kantone haben nicht nur Kompetenzen bekommen, sondern auch die Mittel dafür, die sie in eigener Verantwortung einsetzen können. Es ist wichtig, dass diejenige Staatsebene, die den Nutzen aus einer Leistung hat, darüber entscheiden kann, sie aber auch finanzieren muss. Wenn dieser Dreiklang übereinstimmt, werden die Aufgaben effizient und bürgernah erfüllt.

Sie haben als Finanzdirektor die Schwyzer Tiefsteuerstrategie geprägt und den Kanton zu einem der reichsten der Schweiz gemacht. Wie ist das eigentlich möglich: die Steuern zu senken und damit die Einnahmen zu erhöhen?

Man muss die damalige Situation in Betracht ziehen in den 1980er Jahren, als wir diese Strategie aufgesetzt haben. Es war ein sehr gutes Zeitfenster, weil die Konjunktur anlief und gleichzeitig die Verkehrsanbindung des Kantons sehr gut aufgestellt wurde. In dieser Situation konnten wir mit attraktiven Steuern den Standort wirklich verbessern. Wenn Sie tiefe Steuern anbieten können, dann bekommen sie meistens auch mehr Investitionen, mehr ­Arbeitsplätze, und es ziehen auch gutverdienende Arbeitnehmende in den Kanton. Diese Strategie hat sich über die Jahrzehnte bewährt. Der Kanton ist auch heute finanziell sehr robust.

Die Tiefsteuerstrategie und der Zuzug von reichen Steuerzahlern ­haben den Kanton allerdings auch stark verändert.

Das ist vielleicht ein Aspekt, den man zu Beginn nicht so im Auge hatte. Die Regionen, die am meisten an Attraktivität gewonnen haben, die Regionen Höfe und March, sind bei der Raumplanung, dem Verbrauch von Boden und der Verkehrsüberlastung in einige Schwierigkeiten gekommen. Das sind die zwei Seiten der Medaille: Wenn man sehr günstig und sehr attraktiv als Wohn- und Arbeitsstandort ist, bekommt man bei der Infrastruktur in der ­Regel grössere Probleme.

Ist das nicht auch eine Belastungsprobe für den Kanton, wenn sich die Verhältnisse so entwickeln, dass Ausserschwyz die anderen ­Gemeinden via interkantonalen Finanzausgleich quersubventioniert?

Das ist eine Frage, die dauernd zur Diskussion steht, sie ist aber stark abgemildert worden durch den innerkantonalen Finanzausgleich zwischen Kanton und Gemeinden. Es ist wie in der Schweiz als Ganze: Nicht alle Regionen haben die gleichen Möglichkeiten, ihre Attraktivität zu erhöhen, darum braucht es einen gut aus­gebauten Finanzausgleich.

Was antworten Sie Kritikern, die sagen, die Tiefsteuerstrategie sei zu weit gegangen?

Man muss einfach sehen: Dort, wo Steuern mässig und attraktiv sind, verfügen die Menschen über mehr eigene Mittel und können damit ihre Verantwortung selbst besser wahrnehmen. Gleich­zeitig kann auch mehr investiert und damit der Wohlstand ins­gesamt erhöht werden. Das ist im Kanton Schwyz geschehen.

Die Kritiker sagen, das sei auf Kosten anderer Kantone passiert.

Gerade der Finanzausgleich ist die Korrektur. Der Kanton Schwyz bezahlt pro Kopf am zweitmeisten in den Finanzausgleich des Bundes. Dadurch verfügen die Gebiete und Kantone, die schlechtere Chancen haben, trotzdem über genügend Mittel, um ihre Aufgaben zu lösen.

Sie haben eine klassische katholische Laufbahn gemacht. Sie machten die Matura am Kollegium in Stans und Karriere in der CVP. Heute heisst die Partei «Die Mitte». Würden Sie den gleichen Weg ­gehen, wenn Sie heute in die Politik gingen?

Ich denke schon. Wirtschafts- und ordnungspolitisch bin ich sehr liberal ausgerichtet, aber was die Gemeinschaften und die Gesellschaft betrifft, sehe ich auch die Notwendigkeit der Solidarität. Damit komme ich sehr nahe an die Position der CVP beziehungsweise der «Mitte», die beides gewichtet: die Freiheit und die Verantwortung des einzelnen Menschen, aber auch die Verpflichtung zur Solidarität.

Das katholische Milieu hat sich aufgelöst. Was bedeutet das für die Zukunft der Partei?

Das hat man in den letzten Jahren gesehen: Es bedeutet den Verlust von Wähleranteilen, die früher gesellschaftlich bedingt mehr oder weniger gebunden waren an die CVP. Das heisst, die Partei muss jetzt ihre Wähler immer wieder neu suchen. Sie kann sich nicht mehr auf das Ruhekissen setzen und darauf vertrauen, dass die Milieus der Katholiken ihr die Stimme geben werden. Es braucht eine kreative, dynamische Art, die Wähler zu gewinnen.

Wie macht man das?

Ich bin wahrscheinlich nicht mehr der richtige Jahrgang, um Vorschläge zu machen. Man muss sich beispielsweise überlegen, wie die Jugendlichen heute erreicht werden können. Ich denke aber auch daran, dass die Positionierung der Partei eine viel deut­lichere sein muss, als sie es früher war. Die CVP hat es ein wenig verpasst, einen Grundsatz, den sie immer getragen hat, nämlich den Respekt vor der Schöpfung, rechtzeitig im Sinne der Umwelt und des Klimas in den Vordergrund zu stellen. Sie hätte von der Wertehaltung her eine sehr grosse Nähe gehabt, diese Thematik viel früher in den Vordergrund zu stellen.

Blicken wir auf die Zukunft des Föderalismus. Wird diese Pandemie das Verhältnis zwischen den Kantonen und dem Bund nachhaltig verändern?

Nicht in den Grundzügen, sondern eher in bezug auf das sehr wichtige Dossier der Gesundheit, der Pandemie oder vielleicht auch anderer Grossrisiken, etwa bei der Stromversorgung. Es hat sich gezeigt, dass es zum Teil sehr schnelle Entscheidungen braucht. Daher muss man sich überlegen, welche Ebene des ­Staates hier klar die Kompetenz zugewiesen bekommen soll.

Besteht da nicht die Gefahr, dass sich die Gewichte generell zugunsten des Bundes verschieben?

Das denke ich nicht. Im Gegenteil: Man sollte das Projekt zur Überprüfung der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen fortsetzen; in diesem Rahmen kann man prüfen, ob im Gegenzug zu bestimmten Aufgaben, die vielleicht zugunsten des Bundes korrigiert werden müssen, andere Aufgaben stärker den Kantonen delegiert werden sollten.

Beispielsweise?

In den letzten Jahren wurden gewisse Bereiche zentralisiert, ich denke an die Förderung des Musikunterrichts oder die Finanzierung von Kindertagesstätten, die noch einmal überprüft werden sollten.

Aber das ist letztlich eine Frage der politischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger. Beim Musikunterricht gab es eine Abstimmung über einen neuen Verfassungsartikel, in der sich eine klare Mehrheit dafür ausgesprochen hat, diesen Bereich auch auf Bundesebene anzusiedeln. Hier liegt die grosse Frage für die Zukunft des ­Föderalismus: Welche Unterstützung hat er in der Bevölkerung?

Man kann die Zuweisung der Aufgaben nicht immer schwarz und weiss lösen, auch weil die Demokratie noch eine Rolle spielt. Das Volk kann Einfluss nehmen auf die Ausgestaltung des Föderalismus. Da gibt es aus ordnungspolitischer Sicht, ich würde nicht ­gerade sagen, Sündenfälle, aber Verschiebungen, die nicht erwünscht wären.

Glauben Sie, dass der Föderalismus noch Rückhalt geniesst?

Unbedingt! Wenn man den Gemeinden oder den Kantonen bedeutende Kompetenzen oder Geldmittel einfach wegnehmen oder den Wettbewerb unter ihnen ausschliessen würde, würden sofort Volksinitiativen dagegen gestartet. Das sind Werte, die breit im Volk verankert sind und die dazu führen, dass wir in der Schweiz einen lebendigen Föderalismus haben.

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