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Der Euro hängt an der Politik
Peter Kuster, fotografiert von Daniel Jung.

Der Euro hängt an der Politik

Die Europäische Zentralbank schützt den Euro mit allen Mitteln. Sie bricht dafür Regeln und erleichtert so die Schuldenwirtschaft. Wie lange funktioniert dieses Rezept noch?

Eigentlich ist 2022 für den Euro ein Superjubiläumsjahr. Im Februar 1992 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft (EG) den Vertrag von Maastricht. Sie legten damit den Grundstein für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, die in der Folge, weil das erste W wenig Spektakuläres hervorbrachte, meist als EWU abgekürzt wurde. Das zweite W hingegen führte zur Schaffung einer supranationalen Notenbank, der Europäischen Zentralbank (EZB), an welche die bestehenden nationalen Zentralbanken ihre geldpolitische Hoheit übertrugen, und natürlich zur Gemeinschaftswährung, die 1995 auf Vorschlag des damaligen deutschen Finanzministers Theo Waigel «Euro» getauft wurde. Im Januar 2002 hielten die Bürgerinnen und Bürger der elf Gründungsmitglieder der Währungsunion tatsächlich die ersten auf Euro lautenden Noten und Münzen in ihren Händen (die Einführung als Buchgeld war bereits 1999 erfolgt); ihre Begeisterung für den historischen Schritt war auch, aber nicht nur medial und kommunikativ inszeniert. Und nochmals zehn Jahre später, im Juli 2012, sorgte der damalige EZB-Präsident Mario Draghi mit seiner «Whatever it takes»-Formulierung für den Anfang des Endes der europäischen Staatsschuldenkrise, die vor allem Griechenland, Mitglied seit 2001, fast aus der Währungsunion katapultiert hätte. Er signalisierte den Märkten damit, dass die EZB bereit sei, unbeschränkt Staatsanleihen zu kaufen, sollte dies erforderlich sein, um den Euro und damit die EWU zu erhalten.

Dass sich die Festfreude derzeit inner- und ausserhalb der EWU in engen Grenzen hält, ist angesichts der aktuellen Entwicklungen – Stichwort Inflationswelle und Euroschwäche – verständlich. Eurokritiker der ersten Generation sehen sich bestätigt. Sie hatten schon Anfang der 1990er-Jahre davor gewarnt, das Primat der Politik anstelle der Logik der Ökonomie zu setzen, also eine Währungsunion zu schaffen, bevor die wirtschaftlichen Voraus­setzungen in den Ländern erfüllt sind und die politischen Vorstellungen einigermassen übereinstimmen. Auch hierzulande geniesst der Euro heute nur wenig Kredit. Zu offen­kundig sind die Vorteile, welche die eigene Währung der Schweiz bringt, und entsprechend steht eine Preisgabe des Frankens nicht ernsthaft zur Debatte.

Beifall aus der Schweiz

Es gerät dabei leicht in Vergessenheit, dass dies auch schon mal ganz anders war. Im Abstimmungskampf um den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vor dem 6. Dezember 1992 spielte die Währungsfrage zwar keine prominente Rolle, weil ein Beitritt die Schweizer Geldpolitik nicht unmittelbar tangiert hätte. Allerdings hatten sich die Mitglieder zu Jahresbeginn in Maastricht zur Schaffung einer Union mit eigener Währung verpflichtet. Bundesrat Adolf Ogi, der sich von der Dynamik und der Begeisterung für diese historischen Integrationsschritte ­mitreissen liess, hatte bereits im Oktober 1991 das Offensichtliche ausgesprochen, nämlich dass Bern die EWR-Mitgliedschaft als «Trainingslager» für eine EG-Voll­mitgliedschaft betrachtete. Im Mai 1992 reichte der Bundesrat das entsprechende Beitrittsgesuch ein. Aber schon der Beitritt zum EWR hätte für die Schweiz einen grossen Schritt hin zur Übernahme der neuen europäischen Kunstwährung bedeutet, auch wenn bis zur Aufgabe des Frankens noch einige Hürden zu überspringen gewesen wären. Das hielt Bundesrat, die grosse Mehrheit der Parteien und der Wirtschaft sowie fast die Hälfte des Stimmvolkes nicht davon ab, Ja zu stimmen.

Verdrängt werden heute auch die glücklichen Kindheitsjahre, die dem Euro bis in die Finanzkrise von 2008 hinein beschieden waren. Wie von seinen Verfechtern vorausgesagt, sicherte die EZB mit ihrer institutionell vorbildlich geschützten Unabhängigkeit von der Politik zunächst die Preisstabilität im ganzen Euroraum. Transaktionskosten, die mit der Umrechnung, der Absicherung und dem Halten der verschiedenen Landeswährungen verbunden waren, fielen weg. Auch viele Schweizer fanden es praktisch, fast ganz Europa nur noch mit einer Fremdwährung im Portemonnaie und einem Wechselkurs im Kopf bereisen zu können. Der Umstand, dass die frischgebackene Einheitswährung den Franken aus dem vorletzten Jahrhundert am Devisenmarkt etwas blass aussehen liess und 2007 auf einen Höchstkurs von 1.68 kletterte, dämpfte indes die Reiselust leicht. Profiteurin war auch die Schweizer Exportwirtschaft, die zudem die dank dem Euro reduzierten Wechselkursschwankungen schätzte.

«Auch viele Schweizer fanden es praktisch, fast ganz Europa nur noch mit einer Fremdwährung im Portemonnaie und einem Wechselkurs im Kopf bereisen zu können.»

Bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB) zerbrachen sich Direktoriumsmitglieder den Kopf, um ökonomisch fundierte Erklärungen für die ungewohnte Frankenschwäche zu finden.1 Anfang 1999 hatte ein Euro 1.60 gekostet, der langfristige Aufwertungstrend des Frankens schien also gebrochen zu sein. Vizepräsident Niklaus Blattner fühlte sich bemüssigt, bei der Ankündigung neuer Banknoten 2005 dieses Projekt als «vorsorgliche Massnahme» zu bezeichnen und sogar die Sinnfrage aufzuwerfen. Lohnt sich der Aufwand «in einer Zeit, in der rund um unser Land eine einzige Währung in Gebrauch ist»? Blattner rechtfertigte das Vorhaben damit, dass selbst im Szenario eines raschen Beitritts zur EU schweizerische Banknoten mindestens noch bis 2015 im Umlauf bleiben würden, weshalb das Projekt nötig sei.2 Und 2007, als die Nationalbank ihr 100-Jahr-Jubiläum feierte, würdigte Präsident Jean-Pierre Roth die EWU als «Hafen der Währungsstabilität» und sprach von der «meisterlichen Leistung» der EZB. Er hob zudem den Stabilitätsgewinn hervor, den die «Schwesterwährung des Frankens» für die Schweiz und das internationale Währungssystem gebracht habe.3 Kurz: Die politisch geformte Realität schien die düsteren Szenarien der Bedenkenträger, ordnungspolitisch besorgter Wirtschaftsprofessoren in Deutschland sowie besserwisserischer Miesepeter anderswo, Lügen zu strafen.

Auch die «Flexibilität», mit der die europäische Staatengemeinschaft die Einhaltung selbstgesetzter Kriterien prüfte, wurde hingenommen. War es nicht ein Gebot der politischen Klugheit, beim Start das Konvergenzkriterium der Schuldenobergrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – das wichtigste Maastricht-Beitrittskriterium – nicht allzu rigoros anzuwenden, weil sonst EG-Gründungsmitglieder wie Italien und Belgien ausgeschlossen worden wären? 1996 war auf Betreiben Theo Waigels der Stabilitäts- und Wachstumspakt abgeschlossen worden, der auch die Mitglieder der EWU zur Einhaltung einer Schulden- und einer Defizit­obergrenze von 60 respektive 3 Prozent des BIP verpflichtete.4 Dass dieser Pakt weitgehend toter Buchstabe blieb und ausgerechnet Deutschland in den Nullerjahren zu den ersten Sündern gehörte, war zwar ein Schönheitsfehler, vermochte die Erfolgsgeschichte der jungen Währung aber nicht ernsthaft zu trüben. Auch die Märkte blieben insgesamt recht gelassen: Das Thermometer, die Renditedifferenzen (Spreads) zwischen den Staatsanleihen der Mitgliedstaaten, zeigte zwar gewisse Schwankungen, aber keinen Fieberschub.

Vom Stabilitätsfaktor zum Sorgenkind

In der ersten Phase der Finanzkrise 2007/08 galt der Euro weiterhin als stabilisierender Faktor. Denn das Epizentrum des Bebens lag ja in den USA, in den Exzessen an den Märkten für Verbriefungen von qualitativ minderwertigen Hypo­thekarkrediten. Doch als das Ausmass der gegenseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen sichtbar wurde, die Schockwellen rund um den Globus zu spüren waren und das ganze Banken- und Finanzsystem zur Disposition stand, endete die Sorglosigkeit der Investoren jäh. Es kam zu einer fundamentalen Neueinschätzung des Risikos von Anlagen und damit auch von Staatsanleihen. Die Mit­teilung im Oktober 2009, dass Griechenland jahrelang Wirtschaftsstatistiken beschönigt hatte, wirkte als Zündfunke im Pulverfass. Die Renditen griechischer Staats­anleihen stiegen unvermittelt an, die Furcht vor einer Ansteckung ging um, weitere Mitglieder der Währungsunion gerieten unter Druck. Für Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien kursierte das leicht despektierliche Kürzel PIIGS, die Troika ging als Begriff für das gemeinsame Krisengremium der EU-Kommission, der EZB und des Internationalen Währungsfonds in den Wortschatz ein, es kam zu einer Serie von Rettungspaketen und zum Schuldenschnitt.

Zwei Punkte verdienen es dabei, hervorgehoben zu werden. Erstens gab es damals Phasen, in denen die Märkte und viele kundige Beobachter davon ausgingen, dass nichts an einem (zumindest temporären) Austritt Griechenlands aus der EWU aufgrund der ökonomischen Realitäten vorbeiführen werde. Sie lagen falsch, was sie heute nicht unbedingt an die grosse Glocke hängen. Zweitens gab es bereits vor dem «Whatever it takes» von 2012 einen Entscheid der EZB, der für den Zusammenhalt der Währungsunion essenziell war. Hätte sich die EZB 2010 an ihre Qualitätskriterien für Wertpapiere gehalten, die sie als Sicherheiten (Collateral) für geldpolitische Geschäfte mit Banken akzeptiert, hätte sie Griechenland de facto kaum mehr mit Liquidität versorgen können. Die EZB hätte damit die Wiege Europas vom eigenen Währungsgebiet amputieren müssen. Die Aufweichung der Collateralregeln war deutlich weniger offensiv als das «Whatever it takes», nahm aber das Ergebnis der Güterabwägung gewissermassen schon vorweg. Wenn die Einhaltung von Regeln der Ordnungspolitik mit dem Ziel des Fortbestands des Währungsraums kollidiert, geht letzteres vor, auch für eine Zentralbank mit starker Unabhängigkeit von der Politik. Denn am Ende ist jede staatliche Notenbank eine Schöpfung der Politik.

Allerdings hatten die vielen Regelbrüche, welche die europäische Fiskal- und Geldpolitik für die Rettung der EWU in der Schuldenkrise in Kauf nahm, ihren Preis: Sie nagten am Vertrauenskapital, das speziell die EZB zuvor aufgebaut hatte. Das hatte Auswirkungen bis in die Schweiz. Als die SNB im September 2011 mit dem Mindestkurs von 1.20 den Franken an den Euro und damit teilweise an die europäische Geldpolitik kettete, tat sie dies, weil sie an der Stabilitätsorientierung der EZB wenig Zweifel hegte. Im Januar 2015 löste sich die SNB dann aber ab und hob den unter den Druck der Märkte geratenen Mindestkurs auf. Sie begründete dies mit der «unterschiedlichen geldpolitischen Ausrichtung in den grossen Währungsräumen». Dahinter versteckte sich ein klares Misstrauensvotum gegenüber einer EZB, welche die Grenzen zwischen Fiskal- und Geldpolitik mit umfangreichen Staatsanleihenkäufen zunehmend verwischte.

Auch wenn die Pandemie 2020 von ganz anderer Natur war als die Schuldenkrise, wurden in Europa nochmals ganz ähnliche Rezepte angewendet. Die Fiskalpolitik schnürte Hilfspakete mit günstigen Krediten und Subventionen für die Wirtschaft, die Geldpolitik kaufte den Anleihenmarkt leer und sorgte für Liquidität à gogo. Mit dem massiven Teuerungsschub, der sich schon 2021 abgezeichnet hat, endet die Ära einer ungehemmt expansiven Wirtschaftspolitik. Der Handlungsspielraum der EZB ist drastisch geschrumpft; ihre Herausforderung besteht nun darin, die Inflation zu bändigen, ohne die Konjunktur abzuwürgen. Dass der Finanzmarkt und die Bürger ihr das Bekenntnis zur Preisstabilität nicht mehr vorbehaltlos abnehmen, hat wesentlich mit ihren (Un-)Taten in den letzten zehn Jahren zu tun.

30. August 2001: Wim Duisenberg, Präsident der Europäischen Zentralbank, präsentiert stolz die künftigen Euro-Banknoten. Bild: Bernd Kammerer/AP Photo/Keystone.

Geschwächt oder moribund?

Bekommen damit doch noch die Kritiker des Euros recht, die seit 30 Jahren argumentieren, dass die Politik sich nicht auf Dauer gegen die Schwerkraft der Ökonomie stemmen könne und das Experiment aufgrund der nach wie vor bestehenden beträchtlichen realwirtschaftlichen Unterschiede im Währungsraum zum Scheitern verurteilt sei? Die Erfahrungen seit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht rufen in Erinnerung, dass die Ökonomie keine exakte Wissenschaft ist und sich die Realität bis zu einem gewissen Grad politisch formen lässt. In Europa wurde sehr viel politisches Kapital in den Euro investiert. Dessen Beharrungsvermögen ist gewachsen und die Bereitschaft der Entscheidungsträger zu flexiblen Lösungen im Krisenfall ungebrochen. Zudem ist mittlerweile eine Generation herangewachsen, welche D-Mark, Franc und Lira nur noch vom Hörensagen kennt. Obschon die Rückkehr der Inflation die Spannungen erhöht und der Euro heute wieder einmal auf dem Krankenbett liegt, tut die Schweiz gut daran, sich darauf einzustellen, dass er auch diese Krise überdauert.

Die vergangenen Jahre haben indes vor Augen geführt, dass durchaus auch Ereignisse wie der Brexit eintreten können, denen lange mit valablen Argumenten eine sehr kleine Wahrscheinlichkeit beigemessen wurde. Das Restrisiko eines Ablebens des Euros ist also nicht zu unterschätzen, ist er doch nicht «für die Ewigkeit da», wie dies laut einem Bonmot von Jean-Pierre Roth für die SNB gilt. Die Geschichte lehrt, dass der Zerfall eines Währungssystems meist chaotisch verläuft und sich der Zeitpunkt kaum antizipieren lässt. Festzuhalten ist, dass die grossen Erwartungen, die insbesondere auch viele Wirtschaftsliberale beim Start des Experiments hegten, nicht erfüllt wurden: Europa ist nicht nachhaltig wettbewerbsfähiger oder innovativer geworden, die wirtschaftlichen und politischen Unterschiede zwischen den Ländern sind nicht verschwunden und die Staatshaushalte nicht solider geworden, vor allem auch, weil immer wieder Marktsignale unterdrückt wurden.

  1. Siehe zum Beispiel http://www.snb.ch/de/mmr/speeches/id/ref_20070424_pmh/source/ref_20070424_pmh.de.pdf.

  2. Siehe http://www.snb.ch/de/mmr/speeches/id/ref_20050202_nbl/source/ref_20050202_nbl.de.pdf. Dass die neuen Noten aufgrund widriger ­Umstände und Pannen erst ab 2016 in Umlauf gesetzt werden würden, konnte Blattner damals noch nicht wissen.

  3. http://www.snb.ch/fr/mmr/speeches/id/ref_20070921_jpr/source/ref_20070921_jpr.fr.pdf

  4. Der Pakt wurde seither mehrfach revidiert. Derzeit ist eine weitere ­«Generalüberholung» im Gang.

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