Der dschihadistische «Stimmungsterrorismus»
Die Attentate der letzten Jahre zeigen, dass islamistische Einzeltäter zunehmend aus einem kulturellen Klima der Separation agieren. In Frankreich werden sie von der politischen Linken zu Opfern gemacht.
Am Freitag, dem 23. April 2021, tötete Jamel Gorchene, ein 36jähriger Tunesier, der für einen Lieferdienst arbeitete, eine Verwaltungsmitarbeiterin im Polizeibüro von Rambouillet mit zwei Messerstichen. Die ruhige Stadt im Departement Yvelines bei Paris ist bekannt für ihre Wälder, in denen sich die Hauptstädter am Wochenende erholen. Bei seiner Schandtat – Gorchene lauerte seinem Opfer in der Schleuse am Eingang des Gebäudes auf – rief er «Allahu Akbar!» und hörte per Kopfhörer über sein Smartphone Naschids (A-cappella-Gesänge von koranischen Texten). Der Tag seiner Tat entspricht dem 11. des Ramadanmonats, sein Messer war in einem Gebetsteppich versteckt, den er gefaltet in seinem Rucksack mitbrachte, und im Stauraum seines Scooters fand man einen Koran. Es heisst, dass jeder Mordanschlag auf das Leben eines Feindes Allahs dem Schahid (Märtyrer) im Jenseits eine zusätzliche Belohnung einbringe, wenn er während des Ramadans begangen werde – der Volksglaube will, dass der Märtyrer noch am selben Abend im Jenseits in Begleitung des Propheten das Fasten brechen wird. Auch im algerischen Bürgerkrieg von 1992 bis 1997 war der Ramadan stets der blutigste Monat. Zudem entsprach der 23. April 2021 im Hidschra-Mondkalender dem Freitag, der dem 10. Tag des heiligen Monats folgt, womit in der heiligen Geschichte auf den Beginn der Rückeroberung Mekkas (fath Mekka) Bezug genommen wird, die der Prophet von Medina aus in Gang setzte. Was die Israelis Jom-Kippur-Krieg nennen, den Ägypten und Syrien 1973 begannen, heisst bei Muslimen der Ramadan-Krieg, wobei der Name «10. des Ramadans» sogar einer Satellitenstadt Kairos verliehen wurde. Man findet eine derartige Überdeterminierung des Kalenders auch beim Anschlag in der Basilika von Nizza, bei dem ein weiterer Tunesier, Brahim Issaoui, am Mulud, dem Geburtstag des Propheten, was nach islamischer Zeitrechnung dem 29. Oktober des Jahres 2020 entspricht, drei Menschen ermordete.
Das Departement Yvelines war schon zuvor vom Dschihadismus getroffen worden: Am 13. Juni 2016 hatte der kurz zuvor aus der Haft entlassene Larossi Abballa zwei Mitarbeiter des Kommissariats von Les Mureaux ermordet, weshalb Emmanuel Macron genau hier am 2. Oktober 2020 seine «Rede über den islamistischen Separatismus» hielt. Und in Conflans-Sainte-Honorine, das im selben Departement liegt, enthauptete der Tschetschene Abdullah Ansorow am 16. Oktober 2020 den Lehrer Samuel Paty.
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hinterliess Jamel Gorchene einen öffentlichen Facebook-Account, der auch drei Tage nach dem Attentat in Rambouillet noch online war und über zehn Jahre zurückging, also bis ins Jahr der «Jasminrevolution» (2011), an dessen Ende Diktator Ben Ali gestürzt worden war. Auf diesem Account lässt sich Gorchenes Weg durch mehrere «Stimmungen» nachverfolgen, also die Phasen, die er seit der Emigration aus Tunesien 2009 durchlief. Er war illegal nach Frankreich eingereist, konnte zehn Jahre später aber seinen Aufenthaltsstatus offiziell klären. Wenige Monate vor seiner Tat kehrte er erstmals in sein Geburtsland zurück, nachdem er in Rambouillet einen Psychiater aufgesucht hatte, ohne jedoch einer Therapie zu folgen. Nach Aussagen von Ermittlern, die Gorchenes Smartphone untersuchten, fanden sich darin zahlreiche kinderpornografische Aufnahmen von Jungen; ausserdem weisen einige Informationen darauf hin, dass er in seine Geburtsstadt M’saken zurückgekehrt war, um sich dort durch traditionelle Praktiken zur Austreibung von Geistern von seiner Pädophilie heilen zu lassen. Dies hatte ebenso wenig Erfolg wie seine Stunden beim Psychiater.
Angeblich «gemässigt dschihadistisch»
M’saken, in der Nähe von Sousse gelegen, ist eine verarmte Stadt, in der vor allem der Schmuggel blüht, insbesondere in das französische Departement Alpes-Maritimes, dessen Zentrum Nizza einen grossen maghrebinischen, mehrheitlich tunesischen Einwohneranteil hat. Gehandelt werden vor allem Gebrauchtwagenteile für die zahlreichen Werkstätten im Tal des Flusses Var. Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, ein Lieferwagenfahrer, der am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag, in Nizza 86 Menschen mit seinem Lkw überfuhr – eine Tat, die der sogenannte «Islamische Staat» zwei Tage später für sich reklamierte –, stammte ebenfalls aus M’saken. So wie die meisten illegalen Einwanderer, die die italienische Grenze überqueren, begann übrigens auch Gorchene seine Reise durch Frankreich in Nizza – sein Facebook-Account enthielt auch ein Foto, das den lachenden Gorchene vor dem Denkmal zeigt, das zu Ehren der Anschlagsopfer am Ufer errichtet wurde und den Hafen überragt.
«Wortführer der sozialen Netzwerke und verschiedener Moscheen
argumentieren im Rahmen dieser ‹Stimmung› für den
kulturellen ‹Separatismus› von den ‹gottlosen›
europäischen Gesellschaften, wodurch ein Bezugssystem für die
geforderte Lossagung von der Mehrheitsgesellschaft entsteht.»
Als er 2011 seinen Facebook-Account eröffnete, gab sich der junge Mann der ersten «Stimmung» hin und verfolgte von Frankreich aus interessiert den «arabischen Frühling» in seinem Heimatland. Er teilte Posts der Islamistenpartei Ennahda – man findet hier vor allem Fotos einer Stippvisite des Parteivorsitzenden Rached al-Ghannouchi in M’saken, bei der dieser mit einem konservativen Imam tuschelt. Gorchene verfasste quasi keine Posts selbst, sondern beschränkte sich darauf, Bilder und Texte zu teilen oder zu «liken». 2013 teilte er dann ein Video zu Militärmanövern der (dschihadistischen) Al-Nusra-Front in Syrien. Im Gegensatz zum jungen Tschetschenen Ansorow, der in einem ungemein gewalttätigen Umfeld aufwuchs, das den Schritt zur Tat guthiess und in dem er das Töten erlernte, tauchen im weiteren Verlauf bei Gorchene kaum Verweise auf den Dschihadismus auf. Und das Video teilte er zu einer Zeit, in der die Al-Nusra-Front von mehreren europäischen Regierungen noch als «gemässigt dschihadistisch» und als akzeptabler Ansprechpartner im Kampf gegen Assad galt. Ein zweiter Verweis war das gelikte Foto eines tunesischen Dschihadisten; doch Inhalte des IS teilte er nicht. Sein Facebook-Account kreiste, nach diesem kurzen Ausflug, eher um Ideen des identitären politischen Islams. Im Zusammenhang mit Tunesien teilte Gorchene viele Fotos von dem Politiker und späteren Präsidenten Kais Saied. Und schliesslich widmete der Tunesier den Grossteil seiner Posts zum politischen Leben in seinem Geburtsland der Partei al-Karama, der salafistischsten der im Parlament vertretenen islamistischen Parteien. Sie steht unter anderem für die Einführung der Scharia, fordert aber nicht zu Terrorakten auf.
Fünf Jahre nach seiner Ankunft in Frankreich besuchte er am 4. März 2014 das, was er in einem seiner seltenen französischsprachigen Posts das «muslimische Museum im Louvre» nennt, um sich dort neben Figuren islamischer Kämpfer mit Kettenhemden und einem Krummsäbel in den Händen oder auch mit den Mumien der Pharaonen in der Altägyptischen Abteilung fotografieren zu lassen. Der Pharao, der «arrogante» (moustakbir) Sterbliche, der sich für einen Gott hielt, steht im Koran symbolisch für die schlechte Regierung der Ungläubigen und die Mumie, die seine vergängliche Hülle darstellt, für die Gottlosigkeit dieser Anmassung.
In Stimmung versetzen
Der Grossteil seiner Einträge, die explizit den Islam zum Thema haben, besteht aus Bildern von Predigern der Muslimbruderschaft oder des Salafismus, die im Netz omnipräsent sind, begleitet von ein oder zwei Sätzen, meist auf Arabisch, hin und wieder auf Französisch übersetzt, die die Überlegenheit des Islams über das Christentum oder den Atheismus zum Ausdruck bringen sollen. Fotos von Konvertiten gibt es in Hülle und Fülle. Gorchene versetzt sich damit in die «Stimmung», die sich unter der ursprünglich muslimischen und in Frankreich sesshaft gewordenen Jugend zunehmend breitmachte. Wortführer der sozialen Netzwerke und verschiedener Moscheen argumentieren im Rahmen dieser «Stimmung» für den kulturellen «Separatismus» von den «gottlosen» europäischen Gesellschaften, wodurch ein Bezugssystem für die geforderte Lossagung von der Mehrheitsgesellschaft entsteht. Der Schritt zur Gewalt wurde in dieser Phase nicht explizit gefordert, sieht man von einem kurzen Moment im Jahr 2013 ab. Doch es blieb dabei, dass die Normen und Werte dieser muslimischen Jugend dem wörtlich genommenen religiösen Dogma entstammten und nicht den Gesetzen und dem Ethos der Gesellschaft im Ankunftsland.
Diese verhinderten nicht, dass Jamel Gorchenes Aufenthaltsstatus 2019 zehn Jahre nach seiner Ankunft in Frankreich quasi automatisch auf eine legale Basis gestellt wurde und er dank seines Status als Angestellter bei einem Lieferservice eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt (die ihm 2021 die legale Einreise in Tunesien ermöglichte). Ab diesem Zeitpunkt teilt er neben den erwähnten Bildern zunehmend auch Posts der linken Islamisten – der Grund dafür dürfte in einer neuen «Stimmung» liegen, die eher proaktiv war und sich über Inhalte äusserte, die einen Bezug zu Frankreich hatten.
Gorchenes Facebook-Account liess eine Art kulturelle Hybridisierung erkennen: Fortan ging es vor allem um die Mobilisierung gegen die «Islamophobie», die das CCIF («Collectif contre l’islamophobie en France») zu seinem Hauptthema gemacht hatte. Dieser Bewegung mit ihrem Schwerpunkt auf einem von Muslimbrüdern und Salafismus gespeisten politischen Islam gelang es, Gorchenes Aufmerksamkeit beinahe komplett auf sich zu ziehen und ihm eine Sache zu geben, für die er streiten konnte. Es stellte die Verbindung her zwischen der extremen Linken und dem linken Rand der französischen parlamentarischen Linken, angefangen bei den Trotzkisten über «La France insoumise» von Jean-Luc Mélenchon bis hin zu den Überbleibseln des Parti socialiste, der nach den fünf Präsidentschaftsjahren von François Hollande 2012 bis 2017 nur noch eine Splittergruppe war.
Der islamistische Separatismus
Diese Bewegungen entwarfen übrigens bei ihren Bemühungen um Wahlerfolge in den Stadtvierteln mit vielen jungen Wählern mit nordafrikanischem Migrationshintergrund eine zum Kampf gegen die «Islamophobie» passende Strategie. Die wichtigste Demonstration dazu – ein Protestzug am 10. November 2019 durch die Avenue de la République in Paris, an dem unter anderen Mélenchon teilnahm und bei dem «Allahu Akbar!»-Rufe zu hören waren – ist in Jamel Gorchenes Facebook-Posts prominent vertreten. Gleich darunter finden sich Posts des CCIF sowie des radikal-salafistischen «Menschenrechts»-Vereins BarakaCity (der im Oktober 2020 aufgelöst wurde und seinen Sitz in Erdoğans Türkei verlegte, von dem als wichtigstem Verteidiger des Islams sich ebenfalls viele Bilder in Gorchenes Account finden), des charismatischen Predigers Tariq Ramadan (inzwischen wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung angeklagt), von Al Jazeeras Online-Ableger AJ+ auf Französisch (der unter der muslimischen Jugend Frankreichs die Ideologie der Muslimbrüder verbreitet), des ehemaligen Universitätsdozenten François Burgat, der inzwischen zu einem islamistenfreundlichen Influencer im Internet wurde, und vieler mehr.
Die beschriebene kulturelle und mentale Stimmung, die Jamel Gorchene durchdrang, ist von den Werten des islamistischen Separatismus geprägt, ohne aber explizite Inhalte zu transportieren, die ihn zum bewaffneten Dschihad getrieben hätten. Dennoch änderte er am 24. Oktober 2020 sein Profilfoto auf Facebook. Zeigte es zuvor den «Schutzvers» aus dem Koran als schlichtes Versöhnungszeichen, stellte er nun ein Selfie ein, das ihn bärtig und kahl rasiert, zudem mit weissen Kopfhörern in den Ohren als Mitglied der «Generation Y» zeigt. Dazu ergänzte der spätere Attentäter ein Logo mit dem arabischen und englischen Text «Illa Rassoul Allah» (Bis auf den Gesandten Allahs) – «Respect Mohamed». Der arabische Ausdruck bedeutet, dass jegliche Kritik am Propheten des Islams verboten sei, und erlaubt damit indirekt ein Handeln gegen jeden, der dieses Verbot missachtet.
«Um einer derartigen Herausforderung entgegentreten zu können,
müssen die juristischen Institutionen Europas zuallererst einmal das
Ausmass des Phänomens erkennen und die Bedeutung und
Modalitäten des ‹islamistischen Separatismus› analysieren –
ein Prozess, der gerade erst begonnen hat.»
Ab dem 16. oder 17. April, eine knappe Woche bevor er zum Mörder wurde, veröffentlichte Gorchene, genau wie Ansorow, keine weiteren Posts mehr, vielleicht um sich nicht zu verraten oder weil vielleicht seine psychische Verfassung weiter aus dem Gleichgewicht geraten war. Anfang des Jahres 2021 hatte er, wie bereits erwähnt, erfolglos einen Psychiater aufgesucht – er hatte alle Anzeichen einer «Depression» aufgewiesen, wie sein sehr frommer Vater später erklärte, bei dem er zu diesem Zeitpunkt lebte. Er war daraufhin ins Heimatland zurückgereist, wo ihn seine Familie den Händen eines Heilers übergab, der die jinns (Geister) aus seinem Körper verjagen sollte. Zwischen dem 13. April, dem Beginn des Ramadans, und dem 17. April stellte er nun täglich fromme Suren bei Facebook ein, was auf eine Exazerbation, ein gesteigertes Bemühen um die Vergebung von Sünden, oder eine Intensivierung des Glaubens schliessen lässt.
Am Ende dieses Prozesses stand am 23. April 2021 die Ermordung der unglücklichen Angestellten des Kommissariats in Rambouillet, einer zweifachen Mutter und Stütze des örtlichen Vereinslebens. Auch wenn die labile psychische Verfassung den Schritt zur Tat beschleunigte, was gewiss mit der Schande der nicht zugestandenen, «abnormen» sexuellen Orientierung zusammenhing, die von dem ritualisierten Mord exorziert und mit der Erlösung als Märtyrer gekrönt werden konnte, fügt sich der Anschlag dennoch in den langen Prozess des dschihadistischen «Stimmungsterrorismus» ein, der bei der Durchsicht von Gorchenes Facebook-Account erkennbar wird. Dieses Phänomen nahm zwischen Herbst 2020 und Frühling 2021 viermal in Frankreich materielle Gestalt an sowie am 2. November 2020 in Österreich und am 24. desselben Monats in einem Manor-Supermarkt im schweizerischen Lugano – hier griff eine zum Islam konvertierte Tessinerin (die ebenfalls unter psychischen Problemen litt) mit einem Messer zwei Kundinnen an und behauptete später, dies im Namen des sogenannten «Islamischen Staats» getan zu haben – ohne dass dieser sich zur Tat bekannte. Um einer derartigen Herausforderung entgegentreten zu können, müssen die juristischen Institutionen Europas zuallererst einmal das Ausmass des Phänomens erkennen und die Bedeutung und Modalitäten des «islamistischen Separatismus» analysieren – ein Prozess, der gerade erst begonnen hat.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen leicht angepassten Vorabdruck aus Gilles Kepels neuem Buch «Chaos und Covid», das am 20. Oktober 2021 im Verlag Antje Kunstmann erscheint.