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Der Bürger und die «Bürgerlichen»

Quizfrage: Was ist heute ein Bürger? Das ist jemand, der sich mit Hilfe seines politischen Mitspracherechts holt, was ihm als Teilhaber des Staates zusteht. Oder genauer: der sich das holt, von dem er glaubt, dass es ihm zustehe. Dies scheint mir eine mittlerweile mehrheitsfähige Definition des Selbstverständnisses von Bürgern spätdemokratischer Gesellschaften zu sein. An dieses […]

Quizfrage: Was ist heute ein Bürger? Das ist jemand, der sich mit Hilfe seines politischen Mitspracherechts holt, was ihm als Teilhaber des Staates zusteht. Oder genauer: der sich das holt, von dem er glaubt, dass es ihm zustehe. Dies scheint mir eine mittlerweile mehrheitsfähige Definition des Selbstverständnisses von Bürgern spätdemokratischer Gesellschaften zu sein. An dieses Selbstverständnis fühlte ich mich erinnert, als ich jüngst eine Werbe-E-Mail des SP-Nationalrats und SM-Autors Cédric Wermuth erhielt. Er beklagt darin die angeblich zunehmende Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Einkommen in der Schweiz und lanciert zugleich – ich zitiere – die «‹Nehmt den Reichen das Geld weg›-Tour». Die Adressaten werden ironiefrei dazu aufgefordert, sich der Vermögen und Einkommen anderer Leute zu bedienen. Moralische Skrupel sind nicht angebracht, denn es hat sich längst herumgesprochen, dass Reichtum Diebstahl sei. Nun ist es am «Volk», sich jenen Teil des «Volksvermögens» zurückzuholen, der ihm nach eigenem Ermessen zusteht (Marxens «Expropriation der Expropriateure»). Aufmerksame Zeitgenossen muss diese wieder salonfähig gewordene kollektivistische Denkungsart ebenso beunruhigen wie die Stigmatisierung einer Minderheit («die Reichen»). Aber vor allem – hatten jene, die sich einst die Demokratisierung der Gesellschaft auf die Fahnen schrieben, wirklich diesen Bürger vor Augen?

Soziologen unterscheiden gerne zwischen «citoyen» und «bourgeois», zwischen dem guten, gemeinwohlorientierten Mitmenschen und dem kaltherzigen, auf die eigenen Pfründe bedachten Egoisten. Marxens Verächtlichmachung der «bourgeoisie», der Klasse der ausbeutenden Kräfte, wirkt bis heute nach. Dies beschert linken Politikern aller Parteien viel Mobilisierungspotential. Dabei lassen sie ausser Acht (oder nehmen bewusst in Kauf), dass sie damit jene Art von Mensch schaffen, gegen den sie Sturm zu laufen vorgeben: den Eigennutzmaximierer. Der Staatsbürger wird darauf trainiert, bloss noch  auf sich selbst fixiert zu sein und durch sein politisches Verhalten seine staatliche Rente zu erhöhen. Er entscheidet, andere bezahlen die Zeche; er handelt, andere tragen die Folgen. Klassiker des politischen Denkens wussten, dass eine Demokratie auf Dauer nur funktionieren kann, wenn der «citoyen» zugleich «bourgeois» ist – wenn er, in den Worten Immanuel Kants, «sein eigener Herr ist». Und Herr seiner selbst ist nur, wer «irgendein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt». Unabhängigkeit – geistige und ökonomische Unabhängigkeit, also auch Unabhängigkeit vom Staat – sind unverzichtbare Voraussetzungen für ein verantwortungsbewusstes Leben als Bürger. Ohne Unabhängigkeit keine Verantwortung. Und ohne Verantwortung kein Gemeinwohl. Wobei «Gemeinwohl» jenseits des politinstrumentellen Gebrauchs eine plausible Bedeutung hat: Ich, Bürger, denke nicht nur hier und heute an mich, sondern zugleich an meine Familie, meine Eltern und Grosseltern, meine Nachbarn, meine Arbeitskollegen, an meine und ihre Zukunft.

Sich bürgerlich nennende Politiker haben sich einst für die Bürger im vollen Sinne – «bourgeois» und «citoyen» – eingesetzt. Wer sie heute agieren sieht, kommt zum Schluss, dass sie an die Richtigkeit ihrer Anliegen selbst nicht mehr glauben. Geblieben ist «bürgerliche Rhetorik» ohne ein Vorleben bürgerlicher Grundsätze. Die «Bürgerlichen» erscheinen allzu oft als Vertreter fremder Interessen, als Karrieristen und Berufspolitiker; dass sie sich die Hände schmutzig machen, «ihre Haut aufs Spiel setzen» (vgl. Nassim Taleb auf S. 28), ist in solchen Lebensläufen nicht mehr vorgesehen. Cédric Wermuth – auch er Berufspolitiker, allerdings weil er wirklich an den Stand der Berufspolitiker glaubt – putzt derweil die Klinken. In seiner E-Mail schreibt er weiter: «Du lädst mindestens zehn Leute zu dir nach Hause zum Essen ein, und ich bringe den Vortrag mit – zum Dessert gibt’s einen spannenden Diskus­sionsabend am Familien- oder WG-Tisch.»

Hier zieht ein antibürgerlicher Nationalrat von Haus zu Haus, Tag für Tag, um für sozialistische Initiativen und Anliegen zu werben. Wermuth ist sich für nichts zu schade. Da hat ein Chrampfer die bürgerlichen Tugenden verinnerlicht und agiert wie ein Politunternehmer (wenn das Business auch vor allem in Schwatzen besteht). Über so viel schmutziges Engagement rümpfen bürgerliche Politiker gerne die Nase. Dabei könnten sie von Wermuth viel lernen.

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