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Der «Büezer» wird glorifiziert und deklassiert

In einer zunehmend durchdigitalisierten Welt faszinieren Menschen, die mit Körpereinsatz etwas Nützliches schaffen. Künstler porträtieren sie gerne – mal als Inbild von Integrität und Arbeitsethos, mal als entrechtete Antihelden.

Der «Büezer» wird glorifiziert und deklassiert
Gölä in der Garage seiner Werkstatt. Foto: Simone Matthieu

Immer wieder besungen, literarisch inszeniert, filmisch aufgearbeitet: der sogenannte einfache Arbeiter, oder wie wir ihn (oder sie) in der Schweiz nennen: der «Büezer». Seit Beginn der Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist «der Arbeiter» mit «Mehrwert» versehen und gilt als «Motor» der Gesellschaft, was sich zum Beispiel deutlich bei Max Weber in seiner «protestantischen Ethik» zeigt, die von Arbeitsethos getragen wird.

Doch hat der Büezer auch einen literarischen Reiz, der sich etwa im Werk des amerikanischen Autors John Steinbeck niederschlägt. Mit «The Grapes of Wrath» (Früchte des Zorns) von 1939 hat Steinbeck eines der bis heute eindrucksvollsten literarischen Porträts einfacher Arbeiter vorgelegt. Die darin beschriebene völlig überschuldete Wanderarbeiterfamilie Joad aus dem von Dürre geplagten Oklahoma schlägt sich unter entsetzlichen Entbehrungen ins gelobte Land Kalifornien durch, nur um dort weitere Ausbeutung und Erniedrigungen aller Art zu erleiden. Deswegen ist der Roman zum Symbol der sozialen Verwerfungen im Gefolge der Grossen Depression geworden.

«In einer Gesellschaft, in der Arbeit immer öfters in abstrakten Räumen stattfindet, steht der Büezer bei Gölä für das Gegenteil: nämlich für das Greifbare. Er lebt und leistet, was andere nur noch simulieren.»

Der Büezer lässt sich heute, je nach Perspektive, irgendwo zwischen Pflichtbewusstsein und systematischer Ausbeutung verorten, zwischen Glorifizierung und Diskreditierung, Handwerkskunst und moderner Sklaverei. Seine bis heute anhaltende Symbolkraft erklärt sich sicherlich auch aus dieser widerspruchsvollen Bedeutungsdichte. Im Büezer verschleifen sich Ideal und Realität, treffen Solidarität und Egoismus aufeinander, offenbart sich der Konflikt zwischen Mensch und Markt. An einem Ende des Bedeutungsspektrums steht er (sinnbildlich) für die Rückführung ins Gemeinschaftliche, einem nostalgischen «Back to the roots»-Prinzip folgend, am anderen Ende für die Atomisierung und Fragmentierung der Gesellschaft, in der die Entfremdung von der Arbeit vorherrscht.

Besondere Etymologie

In der Schweiz hat der Begriff des Büezers in den letzten Jahren eine Aufwertung erfahren, was etwa die während der Pandemie gestartete Petition «Beizen für Büezer» gezeigt hat. Insbesondere in Zeiten der Not bewährte sich der Büezer, was man ihm mit dem Siegel «systemrelevant» bezeugte. Zwar handelt es sich bei dem Begriff um eine generische Bezeichnung für alle Berufstätigen, die zum Lohnerwerb einer körperlichen oder handwerklichen Tätigkeit nachgehen, doch meint er inzwischen mehr als das. Der Büezer ist schon fast zum Idealtypus des hart arbeitenden, zugleich bodenständigen und rechtschaffenen Menschen geworden. Er hat, um es mit den Worten des Rockmusikers und selbsternannten Büezers Gölä zu sagen, «geng ä chli Stoub uf dr Lunge / Chli Dräck uf dr Zunge» und geht «dusse bi Sunne und Schnee» seiner ehrlichen Arbeit nach. Das Büezerhafte versteht sich als eine verklärte sozialromantische Synthese von Arbeitsethos und moralischer Integrität.

Dabei sei nicht vergessen, dass der Helvetismus «Büezer» eine besondere Wortherkunft hat (die zum Beispiel dem «Arbeiter» fehlt). Ihm ist aufgrund seiner Etymologie ein qualitativer Bedeutungsmehrwert eingeschrieben: «büezen» bedeutet nämlich «ausbessern, flicken, nähen», ja reparieren, später wurde die substantivierte Form zur Berufsbezeichnung für Näher, Schuster, überhaupt für alle, die etwas ausbesserten oder wiederherstellten (vor allem mit Nadel und Faden). Trotz Bedeutungswandel verwies der Begriff seiner Kernidee nach stets auf das Mühsame und Schwierige. Die «Büez» war folglich, laut schweizerischem Idiotikon, ein «schweres Stück Arbeit», gar eine «Plage». «Büeze» gehört sprachgeschichtlich zu «büssen» (im christlichen Sinne) und bedeutet daher auch im übertragenen Sinne «ausbessern, nach Wiedergutmachung oder innerer Läuterung streben». Die moderne Bedeutung des Büezers als Inbild der Arbeiterklasse hat sich (wohl) erst im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich etabliert.

Sehnsucht nach dem Greifbaren

Gerade Sänger wie Gölä haben den stereotypen Büezer zum respektablen «Chrampfer» umgedeutet, ihn aus dem bedeutungslosen Arbeitermilieu herausgeholt und zu einer Identifikationsfigur einer neuen Generation gemacht: Der einfache Arbeiter verrichtet, so will es zumindest die idealisierende Betrachtungsweise, nicht mehr eine ihm äusserliche und gleichgültige Arbeit, sondern er identifiziert sich mit ihr: Büezertum als Selbstverwirklichung, als eine gewissenhafte Haltung zur Welt.

Kein anderer Musiker in der Schweiz steht für dieses moderne Büezer-Narrativ wie Gölä. Seit seinem Debütalbum «Uf u dervo» (1998) gibt sich der Berner Sänger als Sprachrohr der kleinen Leute, der Bauarbeiter, Lastwagenfahrer und Handwerker – nicht nur sprachlich mittels Mundartlyrik, sondern auch thematisch: harte Arbeit, Freundschaft, Enttäuschung, Lebensdurst machen den Kern seiner Lieder aus. Der Ton ist direkt, oft rau, aber selten zynisch; in der Schlichtheit liegt die emotionale Wirkung.

Der Sänger bedient mit seinen Songs ein offenbar wachsendes Bedürfnis nach Authentizität, die sich nicht am Triumph des Erfolgs misst, sondern am Stolz der Mühsal. In einer Gesellschaft, in der Arbeit immer öfters in abstrakten Räumen stattfindet – in Sitzungszimmern, auf digitalen Plattformen, in der Welt des Managements –, steht der Büezer bei Gölä für das Gegenteil: nämlich für das Greifbare. Er lebt und leistet, was andere nur noch simulieren.

Es erstaunt nicht, dass in unserer zunehmend digitalisierten und entmaterialisierten Arbeitswelt, in der mit Begriffen wie «New Work», «Purpose» und «Flexibility» um sich geworfen wird, die Büezerfigur eine neue Faszination ausübt: Sie arbeitet mit ihren Händen, erschafft etwas Greifbares und Zweckmässiges (auf dem Bau), pflegt die Naturverbundenheit (in der Landwirtschaft). Was sie erzeugt, ist weder Teil noch Zwischenprodukt, sondern etwas Ganzes und Fertiges, etwas Nützliches.

«Der einfache Arbeiter verrichtet, so will es zumindest die idealisierende Betrachtungsweise, nicht mehr eine ihm äusserliche und gleichgültige Arbeit, sondern er identifiziert sich mit ihr: Büezertum als Selbstverwirklichung.»

Das lässt sich sicherlich von einzelnen Büezerberufen sagen, dem Handwerker zum Beispiel. Doch was ist mit dem einfachen Arbeiter, der harte Körperarbeit leistet? Was ist mit all jenen, die zum Niedriglohn Pakete ausliefern, die Bahnhoftoiletten putzen und in der «Gig Economy» zu jeder Tages- und Nachtzeit Essen liefern oder Fahrgäste transportieren?

Im permanenten Überlebensmodus

Büez ist eben nicht immer gleich Büez, so könnte man mit Verweis auf den britischen Filmemacher Ken Loach sagen, der mit seinen Filmen eine ganz andere, eine radikal sozialrealistische Sicht auf die Figur des Arbeiters bietet. Seine Protagonisten sind keine klassischen Industriearbeiter mehr. Nichts an ihnen lässt sich glorifizieren, denn sie sind an den Rand des neoliberalen Systems gedrängte Menschen, die ihr peripherisches Dasein als billige Arbeitskräfte fristen: Paketzusteller, Pflegekräfte, Menschen zwischen Algorithmus und Mindestlohn.

In Ken Loachs Film «Sorry We Missed You» spielt Kris Hitchen einen Paketzusteller, der um sein wirtschaftliches Überleben kämpft. Bild: zvg.

Selbstverwirklichung oder Selbstachtung haben hier keinen Platz: Dieser einfache Arbeiter befindet sich im permanenten Überlebensmodus. Loachs Charaktere kämpfen nicht nur gegen Armut an, sondern auch gegen eine Deklassierung ihres Menschseins. Filme wie «I, Daniel Blake» (2016) oder «Sorry We Missed You» (2019) sind weder verherrlichend noch versöhnlich, sondern knallhart sozialkritisch. Sie zeigen die prekären Lebensrealitäten moderner Arbeiter – in einem System, das sie bürokratisiert, entrechtet, vereinzelt. Was an diesen Figuren fasziniert, ist nicht heroische Stärke oder ihre übermenschliche Widerstandsfähigkeit, sondern vielmehr ihre Verletzlichkeit und ihr täglicher Blick in den existenziellen Abgrund. Genau das birgt politische Sprengkraft: Die Loach’schen Figuren zeigen, was geschieht, wenn der Mensch als Produktionsfaktor verdinglicht wird.

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Das Licht brennt, das Gebäude steht, das Auto läuft wieder: Manuelle Arbeit hat etwas Befriedigendes. Bild: Keystone / Ennio Leanza
Resultate statt Identitätskrise

Ich wuchs in einer Sekte auf. Mein Job als Hilfselektriker lehrte mich, Verantwortung zu übernehmen. Die Klarheit des Tuns führt zu einer Klarheit des Denkens.

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