Der Beitrag der Juden zur Kultur Europas
Europa ist jüdisch – wo und so es christlich ist Was zunächst als provokative These des Autors klingt, ist bei näherer Betrachtungsweise realistisch. Das Judentum hat als historisch-realitätsbezogene Ge–schwisterreligion mit dem engen Bezug zu Recht, Politik und Wirtschaft viel intensiver auf die Entwicklung Europas eingewirkt als das jenseitig und heilsgeschichtlich ausgerichtete Christentum.
Üblicherweise sagen aufgeklärte Christen protestantischer und ab 1965 seit dem Zweiten Vatikanum auch katholischer Prägung (wohl weniger die griechische und russische Orthodoxie): Das Judentum ist unsere Mutterreligion. Mein Ansatz unterscheidet sich vom allgemein jüdischen ebenso wie vom allgemein christlichen. Ich formuliere es so: Was christlich an Europa ist, ist im Kern zugleich jüdisch. Oder anders ausgedrückt und das familiäre Sprachbild zeichnend: Judentum und Christentum sind Geschwisterreligionen. Sie haben dieselbe Mutter: das alte Judentum, also das bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels ausgeübte und ausformulierte Judentum. Dieses Judentum war das Judentum von Jesus, denn schon rund drei Jahrzehnte nach dessen Kreuzigung wurde im Jahre 70 unserer Zeit-rechnung der Zweite Tempel von den Römern zerstört.
Nach Jesu Kreuzigung formierten sich bekanntlich seine Jünger neu und formten allmählich die Kirche. Anfänglich unklar und umstritten war dabei die Frage, ob man sich als jüdische oder als ganz und gar neue religiöse Gruppierung zu verstehen habe. Unstrittig war die jüdische Herkunft der frühchristlichen Gemeinschaft. Jesus hatte als Jude und im Judentum gewirkt. Das geht aus den Evangelien unmissverständlich hervor. Für seine Jünger war daher das Christentum zunächst traditionelles Judentum plus Messias bzw. Christus und als Christus bzw. als Erlöser Jesus. Ohne das altjüdische Fundament kein Christentum. Im Ersten, an Judenchristen gerichteten Brief des Johannes (2, 7) erfahren wir es unmissverständlich:
«Was ich von euch verlange, ist nichts Neues. Es ist das alte Gebot, das ihr von Beginn an kennt, die Botschaft, die ihr gehört habt.»
Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, also letztlich gleichzeitig, entstand ein ganz und gar neues Judentum, das talmudische Judentum, das Judentum der Schriftgelehrten, der Rabbiner. Sie waren nicht vom Himmel gefallen, es gab sie schon vorher, nämlich seit dem Babylonischen Exil (ab 586 v.u.Z.), aber tonangebend waren sie in der rund fünfhundertjährigen, altjüdischen Epoche des Zweiten Tempels nicht. Die «Tempelklasse», Priester und Leviten, bestimmten den altjüdischen Kurs. Gegen sie hatten die rabbinischen Schriftgelehrten und Jesus gemeinsam gewettert und gewirkt. Auch diese faktische Gemeinsamkeit von Schriftgelehrten bzw. Pharisäern und Jesus darf man – trotz entgegenstehender Schrift-Tradition – nicht übersehen.
Biblische Brüderlichkeit
Das alte, weitgehend auf der Bibel bzw. der «Hebräischen Bibel» basierende Tempel-Judentum ist unsere gemeinsame, jüdisch-christliche Mutter. Sowohl Christentum als auch Neu-Judentum bzw. talmudisches Judentum sind Kinder dieser altjüdischen Mutter. Sie selbst, Christentum und Neu-Judentum bzw. das heutige Judentum, sind, weil fast gleichzeitig entstanden, Geschwister. Die These vom Judentum als «Mutterreligion des Christentums» ist also nicht fundiert. Das heutige Judentum ist weitgehend vom talmudischen Judentum, das Christentum vor allem durch «Jesus als Christus» geprägt. Das wiederum bedeutet: Interkonfessionell müssen Judentum und Christentum innergenerationell und nicht intergenerationell betrachet werden. Die geschwisterliche Geschichte zwischen Juden und Christen verlief, wir wissen es alle, selten geschwisterlich, wenn man unter «geschwisterlich» oder «brüderlich», wie unreflektiert üblich, «Eintracht» versteht. Biblische Brüderlichkeit, wir kennen sie zum Beispiel auch aus der Geschichte von Kain und Abel, bedeutete freilich keineswegs immer Eintracht, sondern auch Zwietracht, ja Mord und Todschlag. So gesehen, ist das historische Verhältnis zwischen den Geschwistern Judentum und Christentum durchaus biblisch, die Geschichte von Kain und Abel geradezu ein Gleichnis des späteren christlich-jüdischen Verhältnisses.
Welches der beiden Geschwister ist älter? Spontan antworten die meisten: «Das Judentum!» Nein, entgegne ich: Das Christentum, denn es formierte sich bereits nach dem Kreuzestod Jesu, also um 35 nach Christus. Das neue, talmudische Judentum begann seinen innerjüdischen Siegeszug ab 70 nach Christus.
Der Kreis schliesst sich, und der Nachweis für die im Untertitel als Provokation formulierte These ist erbracht: Europa ist jüdisch – wo und so es christlich ist. Der Beitrag der Juden zur Kultur Europas ist das Judentum der Hebräischen Bibel und der Tempelepochen.
Es geht heute darum, endlich diese Geschwisterlichkeit trotz und wegen ihrer tief verwurzelten und abgrundtiefen Abneigung, die sich im Lauf der Geschichte manifestiert hat, neu zu regeln, friedlich und achtungsvoll, statt verachtend, miteinander und nicht gegeneinander. Dabei darf, ja muss, wie hier versucht wird, durchaus von beiden «Tacheles» geredet werden.
Jüdisches Rechtsverständnis
Wenn wir unter «Kultur» nicht nur Literatur, Bildende Kunst und Musik, sondern den Geist einer Gemeinschaft verstehen, dann zählt auch das Rechtsverständnis dazu. Darauf beruht meine zweite provokative These: Die «Kultur Europas», wahrgenommen als das Rechtsverständnis des christlich abendländischen Europa ist eher «jüdisch» als «christlich». «Jüdisches» Rechtsverständnis sei zunächst, durchaus im Sinne des europäischen Volksmunds und unter Bezugnahme auf Jesus, verstanden als «Auge um Auge, Zahn um Zahn» (Exodus 21, 24) wenngleich es nicht nur im Neuen Testament (Markus 12,31; Matthäus 22, 39; Lukas 10, 27), sondern auch im Alten Testament (Leviticus 19,18) heisst: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.»
«Christlich» sei hier im Sinne der Bergpredigt, also im Sinne Jesu «als Christus» (Matthäus 5, 38-42) verstanden: «Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.» Wer wäre von dieser Gedanken-, Wort- und Sprachgewalt Jesu nicht überwältigt? Wer würde aufgrund dieser Worte die Formel «Auge um Auge, Zahn um Zahn» nicht als Inbegriff des Geistes der Rache und der Vergeltung bezeichnen?
Krieg und Frieden
Ich verzichte auf rechtshistorische Exkurse, und beschränke mich auf die Quintessenz. Diese Deutung ist unzutreffend. «Auge um Auge, Zahn um Zahn» bedeutet nichts anderes als: Die Strafe darf nicht härter als die Tat sein. Anders formuliert: Nicht Vergeltung, sondern die Verhältnismässigkeit von Tat und Strafe sei Mass und Ziel des Rechtsverständnisses. Historisch empirisch stellen wir fest: Genau dieses Verständnis der Verhältnismässigkeit von Strafmass und Straftat kennzeichnet das reale Rechtsverständnis des christlichen Abendlands. Das wiederum bedeutet: Das reale Rechtsverständnis des christlichen Abendlands unterscheidet sich fundamental von seinem religiösen Rechtsverständnis. Daraus kann wiederum die Bestätigung der oben aufgestellten These abgeleitet werden. Das Rechtsverständnis des christlichen Abendlands ist tatsächlich eher «jüdisch» als «christlich». Die Antwort auf die Frage «Frieden oder Krieg?» hängt eng mit dem Rechtsverständnis zusammen. Auch hier ist das christlich abendländische Europa viel «jüdischer» bzw. «militanter» als üblicherweise angenommen wird. Christen halten unserer biblisch «jüdischen Militanz» (von der die Christen Europas so gut wie nichts bemerken mussten, während die Juden als Opfer vorwiegend unter «christlicher Militanz» gelitten haben) den «Geist der Bergpredigt» entgegen. Vor und während des Krieges der USA gegen den Irak erfuhren wir Juden dies einmal mehr.
Gerade weil und wenn wir als Juden das Christentum nicht ächten, sondern achten und echt religiös argumentieren wollen, erinnern wir unsere christlichen Freunde an die Grundlagen des Christentums: Jesus verstand sein Wirken heilsge-schichtlich und nicht politisch-geschichtlich! Der Kreuzestod, den Jesus auf sich nahm, war politisch eine totale Niederlage. Daran lässt das Neue Testament keinen Zweifel; so wenig wie am heilsge-schicht-lichen Triumph der Auferstehung. Ohne jene politische Niederlage kein heilsge-schicht–licher Triumph, ohne Karfreitag kein Osterfest. «Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen», entgegnet Jesus dem Politiker Pontius Pilatus (Johannes 18, 36). Wer als Christ das Christentum in die Politik dieser Welt hinab- oder hineinzerrt, verzerrt das Christentum.
Unsere christlichen Freunde seien auch daran erinnert, dass Jesus als Agnus Dei, als Opferlamm, das die Sünden der Menschen auf sich nimmt, durchaus in der jüdischen Tradition des Jom-Kippur-Rituals vom «Sündenbock» zur Zeit des Jerusalemer Tempels stand; übrigens auch in der Tradition der Opferung Isaaks. Hier Abraham und Isaak, dort Gottvater und Jesus. Die christliche Variante ist jenseitiger. Das «Königreich dieser Welt» ist das Reich der Politiker. Sie können gar nicht «im Geist der Bergpredigt» handeln, denn sie tragen hier und heute die politische und nicht die heilsge-schicht–liche Verantwortung für ihre Bürgerschaft. Nähmen sie, wie Jesus, ihren und ihrer Mitbürger Tod auf sich, dächten und handelten sie unverantwortlich. Sie denken und handeln, im Klischee formuliert, eher biblisch «jüdisch» als «christlich», während politisierende Christen das Reich ihres Herrn verlassen, auch wenn sie sich auf ihn berufen.
Anders als für die Kirchenvertreter und für zeitgeistige Europäer, seien sie gläubig ausübende oder nur geborene Christen, ist für uns Juden Krieg nicht nur verderblich. Die Entmachtung Arafats wäre ohne israelische Gegengewalt zum Terror der Intifada unmöglich. Den Ausgang des Zweiten Weltkriegs betrachten wir als Rettung, und die amerikanische Besatzung des Irak schreckt uns so wenig ab wie die Deutschlands nach 1945. Sie führte (unter Regie der Amerikaner) zur bundesdeutschen Demokratie. Warum sollte es mit Hilfe der USA keine demokratische Bundesrepublik Irak geben?
Der Beitrag der Juden zur europäischen Wirtschaftskultur seit dem Mittelalter ist allgemein bekannt. Die Geschichte der Wirtschaft des modernen, bürgerlichen und «kapitalistischen» Europa ist, besonders im Handel und im Finanzwesen, ohne Juden undenkbar. Der gedachte, erhoffte und zum Teil erwirkte Gegenentwurf, Sozialismus und Kommunismus, gehört ebenso zur Geschichte Europas. Auch daran haben Juden aktiv mitgewirkt. Judengegner aller Lager finden daher immer wieder Angriffspunkte. Tatsache ist allerdings, dass Europas Juden trotz überproportionaler Beteiligung an revolutionären und antibürgerlichen Worten und Taten überwiegend bürgerlich und «kapitalistisch» gewesen sind, doch entbehrte dieser Kapitalismus kaum je der religiös und kulturell fundierten sozialen Komponente.
Michael Wolffsohn wurde 1947 in Tel-Aviv geboren. Nach einem Studium in Berlin, Tel-Aviv und New York habilitierte er in Geschichte und Politikwissenschaft. Seit 1981 lehrt er an der Universität der Bundeswehr in München. Seine über 20 Bücher wurden in alle Weltsprachen übersetzt. Mit dem Thema des folgenden Aufsatzes stehen u.a. im Zusammenhang: «Israel. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft», 6. Aufl., Leske + Budrich 2003; «Die ungeliebten Juden. Israel – Legenden und Geschichte» Diana Verlag 1998; «Meine Juden – Eure Juden», Piper 1997.