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Der Bäcker und der Seefahrer

Mein Zuhause ist bescheiden: ein WG-Zimmer in einer Zweizimmerwohnung. Doch mein Basis­lager kostet, auch dann, wenn ich nicht da bin. Darum überlege ich, ob ich es aufgeben soll. Auch weil ich in meiner romantisierten Vorstellung glaube, ohne festen Wohnsitz die absolute Freiheit zu gewinnen.

Doch immer dann, wenn ich meine, mich zur Kündigung des Zimmers entschieden zu haben, packt mich eine diffuse Verlustangst. Und dann krebse ich zurück, bin ich wieder unentschieden. Ich sitze also im Strandcafé auf Sansibar und ärgere mich, weil ich diese leidige Frage immer wieder abwäge und doch nie zu einem Schluss komme. Da setzt sich Luba zu mir: eine russische Kunstmalerin, die seit zwei Jahren hier lebt. Heute aber sagt sie mir: «Es ist Zeit, weiterzuziehen.» Kurzentschlossen hat sie ihre Wohnung auf- und ihre Katze weggegeben. Sie reist mit zwei Koffern in ihr neues Leben: einem mit den Malutensilien, einem mit Kleidung. So einfach geht das. Zum Abschied schenkt mir Luba eine Geschichte. Sie erzählt vom Bäcker, der mit seiner Familie in einem kleinen Dorf lebt, und von dessen Cousin, einem Seefahrer, der auf seinem Schiff um die Welt zieht. Hin und wieder fragt sich der Bäcker, ob er nicht doch auch hätte Pirat werden sollen. Doch dann sieht er das Lachen seiner Kinder und weiss: Genau das ist das Leben, das mich glücklich macht. Und hin und wieder träumt der Seefahrer von einem Haus an der Küste, einem ruhigen Leben mit einem Daheim, wie es sein Cousin, der Bäcker, führt. Doch jedes Mal, wenn er am Ufer ist, zieht es ihn wieder hinaus auf das Meer, und er weiss, dass er dort am glücklichsten ist. Zweimal im Jahr kehrt der Seefahrer in sein Dorf zurück und erzählt dem Bäcker von seinen Abenteuern. Der Bäcker liebt es, den Erzählungen zu lauschen, und der Seefahrer ist glücklich, sich einen Moment lang zu Hause zu fühlen. Jeder lebt das Leben, das für ihn das Richtige ist, und freut sich am Leben, das der andere lebt. Nur ich habe mein Zimmer immer noch nicht gekündigt.

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