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Der arme Mann und die Fee

Ein Märchen

Es war einmal – kommt näher, liebe Kinder, und hört mir zu! –, es war einmal ein Mann, der war so bitterarm, dass er schon drei Jahre denselben Wagen fuhr, und das war erst noch ein Mittelklassemodell und hatte nicht einmal ein eingebautes GPS. Sein I-Phone war nicht das neuste Modell, und seine letzten Ferien hatte er in Costa Rica verbringen müssen, in einem All-Inclusive-Resort, und dort waren die Eier auf dem Frühstücksbuffet nicht ein einziges Mal so gekocht gewesen, wie er es gern hatte. So arm war er.

Ausserdem – wen das Leben nicht mag, den mag es gar nicht – war er auch noch ein Pechvogel. Ständig passierten ihm die schlimmsten Sachen. Allein an diesem Tag hatte das Tram, mit dem er in die Stadt gekommen war, fast drei Minuten Verspätung gehabt, beim Aussteigen wäre er beinahe über eine Bierdose gestolpert, die jemand einfach so hatte liegenlassen, und dann hatte ihn erst noch ein Ausländer nach dem Weg zum Bahnhof gefragt, und zwar auf Englisch, und als der Mann dem Fremden Auskunft gab, hatte der noch nicht einmal Zürichdeutsch verstanden. Ja, so ein vom Schicksal geplagter Pechvogel war er.

Diesem Mann, den sein Chef Herr Meier nannte und seine Frau Alois, denn er hiess – das habt ihr fein herausgefunden, liebe Kinder! – Alois Meier, diesem Mann also begegnete eines Tages eine Fee. Die Fee arbeitete am Parfumstand in einem Warenhaus, wo sie acht Stunden am Tag lächeln und manchmal einer Kundin ein bisschen Duftwasser aufs Handgelenk sprühen musste. Sie hätte lieber einen anderen Job gehabt, aber in jener Zeit war es so, dass man ohne Matur noch nicht einmal Kindergärtnerin werden konnte, geschweige denn eidgenössisch diplomierte Glücksbringerin. Dazu brauchte man mindestens ein Bachelor-Diplom. Die Begabung der Fee lag aber nun mal eher im Praktischen, im Wünsche-Erfüllen und Zukunft-Voraussagen. Wie aber die Hauptstadt von Madagaskar heisst, wusste sie nicht, und den Unterschied zwischen Sinus und Cosinus hatte sie auch nie begriffen. Daher der Teilzeitjob am Parfumstand.

Manch einer, der im Märchen-Anhören nicht so geübt ist wie ihr, liebe Kinder, mag jetzt fragen, warum sich die Fee all die Dinge, die man zum Bestehen von Prüfungen braucht, nicht einfach in ihren Kopf hineinwünschte. Dann hätte sie studieren und vielleicht eine Masterarbeit über «Magie im Wandel der Zeiten» schreiben können. Aber eine Fee – das habt ihr prima herausgefunden! – darf sich prinzipiell keine eigenen Wünsche erfüllen, das ist gegen die Vorschriften, und man bekommt Schwierigkeiten mit dem Departement für übersinnliche Angelegenheiten.

Der arme Mann war an den Stand der Fee gekommen, weil seine Frau sich zum Geburtstag ein ganz bestimmtes Parfum bestellt hatte, und dazu noch von derselben Marke eine Tagescreme mit Multimineralkomplex. Die Fee hatte auch beides vorrätig, aber als sie ihm den Preis nannte, da wurde der Mann so bleich, als ob er nicht gerade erst in Costa Rica zwei Wochen in der Sonne gelegen hätte.

«Ich bin kein Millionär», sagte er, «und so viel kann ich nicht bezahlen.» Man könne ja glatt meinen, fügte er hinzu, sie wolle ihm kein Parfum verkaufen, sondern pures Gold.

«Nein», antwortete die Fee. «Pures Gold wäre billiger.»

«Gibt es nicht eine günstigere Marke», fragte der arme Mann, «deren Fläschchen genau so beeindruckend aussehen?»

Da schüttelte die Fee den Kopf, dass die blonden Haare nur so flogen. Alle Feen, das wisst ihr sicher, liebe Kinder, haben blonde Haare. Manchmal sind sie nur gefärbt, aber Vorschrift ist Vorschrift. «Tut mir leid», sagte die Fee.

Der Mann nickte traurig und sagte mit leiser Stimme: «Meine Frau wäre sowieso nicht darauf hereingefallen. Sie heisst Aloisia, und in solchen Dingen nimmt sie es sehr genau.»

Da bekam die Fee Mitleid mit ihm, und obwohl sie kein Glücksbringerdiplom hatte und in der Mitarbeiterschulung gelernt hatte, dass kostenlose Dienstleistungen nur nach Absprache mit dem Kundendienst zulässig sind, holte sie ihren Zauberstab unter dem Verkaufstisch hervor, wo sie ihn während der Arbeit aufzubewahren pflegte, neben der Flasche mit dem Mineralwasser und dem Päckchen mit ihren Zigaretten (ja, liebe Kinder, auch Feen haben manchmal schlechte Angewohnheiten). Sie beschrieb mit dem Zauberstab einen Kreis in der Luft, und im selben Augenblick erklang im ganzen Warenhaus eine gar himmlische Melodie. Die hatte aber nichts mit der Fee zu tun, sondern war die Einleitung zu einer Durchsage, in der den Kunden ein Besuch im hauseigenen Restaurant empfohlen wurde, wo es heute zu jeder Tasse Kaffee ein Gipfeli gratis gab.

Die Fee wartete ab, bis auch der abschliessende Jingle verklungen war. Dann lächelte sie holdselig und sagte: «Ich bin die gute Fee Arabella, und weil du ein so armer Mann bist und weil deine Frau Geburtstag hat und der Multimineralkomplex viel zu teuer ist, deswegen hast du jetzt drei Wünsche frei.»

Da freute sich der Mann, denn so etwas ist natürlich noch besser als ein Gratis-Gipfeli zum Kaffee. Aber dann begann er nachzudenken und immer noch mehr nachzudenken. Er bekam dabei – aber das merkte er selber nicht – genau die gleichen Falten auf der Stirn, die sich auch jedes Mal bei ihm einstellten, wenn er beim Bezahlen im Supermarkt den Kassenzettel noch einmal im Kopf nachrechnete, bevor er sein Portemonnaie zückte. Zwar hatte er dabei noch nie einen Fehler gefunden, aber sicher ist sicher.

Die Fee wartete. Sie war, wie alle Feen, unsterblich und deshalb sehr geduldig.

«Können es nicht auch vier Wünsche sein?», fragte der Mann nach einer Weile.

«Leider nein», sagte die Fee.

«Oder drei Wünsche und noch ein ganz kleiner extra?»

«Auch das nicht», sagte die Fee. Die Regeln, das wusste sie auch ohne eidgenössisches Diplom, sind in diesem Punkt streng.

Alois Meier – erinnert ihr euch noch, liebe Kinder, dass er Alois Meier hiess? – dachte lange nach. Sehr lange. ‹Ich bin schon der Ärmste der Armen›, ärgerte er sich. ‹Und ein Pechvogel bin ich obendrein. Nur drei Wünsche, das ist eigentlich gar nichts. Anderen Leuten bewilligt sie bestimmt sieben. Oder zwölf. Oder gleich hunderttausend.› Und dann dachte er noch ein bisschen weiter nach.

Die Stimme aus dem Lautsprecher empfahl die eben eingetroffene Wintermode, aber er hörte kein Wort davon. Und dabei hätte es doch in der nächsten Viertelstunde für schnell Entschlossene zehn Prozent Rabatt gegeben. Alois Meier gehörte nicht zu den schnell Entschlossenen.

Die Fee, trotz ihrer Unsterblichkeit, wurde allmählich ungeduldig. Gleich hatte sie zehn Minuten Pause und konnte es kaum erwarten, sich eine Zigarette anzuzünden. (Wie gesagt, in diesem Punkt war sie nicht feenhaft vorbildlich.) «Wissen Sie was?», sagte sie schliesslich. «Wünschen Sie sich doch einfach das, was Ihnen auf der Welt am wichtigsten ist.»

Da war dem Mann ganz plötzlich, als ob er eine feine Stimme hörte, die ihm die richtigen Wünsche einflüsterte. Genauso, wie ihm sein Banknachbar in der Primarschule manchmal in den Rechnungsprüfungen die Ergebnisse eingesagt hatte – etwas, das ihr hoffentlich nie macht, liebe Kinder! Und wie er diese Stimme hörte, zog ein Lächeln über sein Gesicht, und er sagte ganz schnell: «Ich wünsche mir erstens, dass das Tram pünktlich fährt, zweitens, dass auf der Strasse nicht immer so viel Dreck herumliegt, und drittens, dass alle Ausländer richtig Schweizerdeutsch lernen müssen.»

Die Fee schwenkte ihren Zauberstab, eine feine Melodie ertönte, die diesmal nicht aus den Lautsprechern kam, und dann war die Fee ganz plötzlich verschwunden. Vielleicht, weil sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, aber vielleicht auch, weil sie mit dem Rauchen nicht länger warten wollte. Welches von beidem, das könnt ihr selber entscheiden.

Der Mann aber beschloss, seiner Frau einen Blumenstrauss zu kaufen, denn Blumen, das hatte er einmal gelesen, erfreuen Frauen immer. In dem Blumenladen direkt neben dem Warenhaus besorgte er einen grossen Bund rosaroter Nelken. Sie hätten dort auch Rosen gehabt, aber diese Wucherpreise konnte er nicht bezahlen, denn er war ja – erinnert ihr euch noch, liebe Kinder? – ein armer Mann.

Als er aus dem Laden kam, stand da eine Frau, die war aus Afrika gekommen und hatte eine ganz schwarze Haut. Die Frau streckte die Hand in seine Richtung aus und sagte in akzentfreiem Zürichdeutsch: «He, Alte, häsch mer mal en Schtutz?» Er hatte aber keinen für sie, denn, das hatte er seiner Frau oft gesagt, solche Leute kaufen sich mit dem erbettelten Geld kein Brot, sondern immer nur Drogen.

Auf dem Weg zur Tramstation fiel ihm auf, dass der Boden blitzblank war, kein einziges Kaugummipapier lag da herum und auch kein Zigarettenstummel, nicht mal einer von der Fee. So sauber war der Boden, dass man davon hätte essen können. Aber warum sollte man das tun, wenn man zu Hause einen Esstisch hat und eine Frau, die ganz brauchbar kocht?

Das Tram – ihr werdet es schon geahnt haben, liebe Kinder! – kam auf die Sekunde pünktlich, denn wenn Feen etwas versprechen, dann halten sie es auch.

So hatten sich alle Wünsche des Mannes erfüllt, und trotzdem – er konnte sich selber nicht erklären, warum – war er nicht glücklich geworden. Er schnauzte sogar seine Frau an, als die sich über die rosaroten Nelken nicht freuen wollte und doch lieber ihr Parfum und die Creme mit dem Multimineralkomplex gehabt hätte. «Ich bin ein armer Mann», sagte der arme Mann, «und solche Extravaganzen können wir uns nicht leisten.»

Da sagte seine Frau gar nichts mehr, sondern flüsterte nur ganz leise: «Ach, Alois.» (Habt ihr noch gewusst, dass der arme Mann Alois Meier hiess? Dann könnt ihr es jetzt wieder vergessen.) Der Mann aber setzte sich in den Sessel vor den Fernseher und schaltete das Programm ein, über das er jedes Mal schimpfte.

Nein, liebe Kinder, glücklich wurde er nicht, trotz seiner Begegnung mit der Fee. Vielleicht weil er sich die falschen Sachen gewünscht hatte. Aber vielleicht auch nur, weil er ein Schweizer  und deshalb zum Glücklichsein nicht geeignet war.

Und wenn er nicht gestorben ist, dann beschwert er sich heute noch.

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