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Der andere Süden

Ich bin in den Alpen geboren. Eine mit dem Alter wachsende Obsession prägt mein Leben: Ich brauche den Süden, und ich will mir diesen Süden heiter und leicht, trocken und durchsichtig denken. Es gibt aber auch den anderen Süden. Den schwülen, düsteren und tragischen.

Zu «Licht im August» von William Faulkner

«Limpidezza» heisst das Wort, das meinen Süden am besten kennzeichnet: klar, aber auch leuchtend; transparent und strahlend; warm und hell. Oder wie Stendhal seinen mediterranen Süden kennzeichnete: «Sec, clair, sans illusion.»

Ein alpiner Mensch bastelt sich leicht ein Paradies aus seinem imaginierten Süden zusammen. Nicht dass ich die Mängel südlicher Lebensweisen übersähe. Was wissen allein sizilianische Autoren alles über himmelschreiende Missstände und Unzumutbarkeiten zu berichten! Doch wer aus den Nordalpen stammt, glaubt felsenfest, dass das Leben in den südlichen Regionen am Ende aller Rechnungen lustvoller, leichter und weniger von den tausend Arten von Kälte angekränkelt ist, welche die Menschen im Norden im Umgang mit sich und miteinander entwickelt haben.

Es ist mir immer eine Lust, Bücher zu lesen, die mir den Süden näherbringen. In meiner Bibliothek gibt es sichere Mittel, die einen Wünschenden blitzschnell in den südlichen Lebensraum versetzen. Will ich an die Küste südlicher Inseln, wird schon ein einziges Gedicht wie «Tindari» von Salvatore Quasimodo zum fliegenden Teppich. Oft will ich auch nach Südamerika. SUR, so glaubte ich immer, das sei der Ort auf unserem Planeten, an dem das Sein und das Wünschen sich wundersam ergänzten. Ein Süden wie im Tango: «Ich komme zurück in den Süden, / wie man immer zur Liebe zurückkehrt. / Ich trage den Süden im Herzen / wie ein Schicksal. / Ich bin der Süden, / wie die Melancholie des Bandoneons, / Ich liebe dich, Süden!» SUR: das kann so vieles und so verschiedenes sein, doch in jeder seiner Erscheinungsarten ist es untrüglich und unverwechselbar das Land der Wünsche, der Ort, wo sich die SUR-Begehrlichen ihr Stelldichein geben.

Doch muss ich gestehen: Es gab da auch einen Süden, um den ich instinktiv einen grossen Bogen machte. Den ich für eine schwül-infizierte Zone des Grauens hielt. Ein Süden der Sümpfe und der giftigen Gärungen, geprägt von Rassenhass, Blutrausch und religiösem Wahn. Er wurde mir zum ersten Mal in den späten 60er Jahren bewusst, als ich den Film «In the Heat of the Night» sah, in dem Sidney Poitier jenen schwarzen Kriminalbeamten Virgil Tibbs spielte, der nach langem Zögern einem von rassistischen Vorurteilen geradezu besessenen Polizeichef Bill Gillespie, von Rod Steiger gespielt, behilflich ist, in Sparta, Mississippi, den Mord an einem weissen Unternehmer aufzuklären. Hier war dieser andere Süden geradezu in Vollkommenheit gegenwärtig: der Rassenhass, die Ignoranz, die bigotte Rechtschaffenheit, die Gewaltbereitschaft, die auf den Augenblick des Losschlagens lauert. Eine Welt, die ich weder bereisen noch auch nur verstehen wollte. Jahrelang war ich davon überzeugt: Dieser amerikanische Süden kann mir bleiben, wo er ist!

«Hast du Faulkner gelesen?», fragte mich ein Freund. Beschämt musste ich zugeben, dass ich auch dem berühmtesten unter den Südstaatenautoren bisher immer aus dem Weg gegangen war. «Du hättest jetzt gute Gelegenheit: Eine neue Übersetzung von ‹Light in August› ist vor wenigen Jahren erschienen. Und: Faulkner darf man nicht ignorieren.» Ich ergriff die Gelegenheit und kaufte Original und Übersetzung. Und so kam es, dass ich erst in vorgerücktem Alter ein Schrecken und Staunen verbreitendes Buch kennenlernte. Drei Tage und Teile zweier Nächte habe ich dafür verwendet, meinen Bekanntenkreis aus dem Süden der zweifelhaften Art zu erweitern. Seither lebe ich mit einer dieser Romanfiguren, als würde ich sie besser kennen als jemand aus der eigenen Familie, so sehr hat mich ihr Schicksal bewegt.

Das Buch ist schwere Kost. Es ist nichts für eine Lektüre der streunenden und ablenkenden Art. Der Erzähler schüttelt den Leser so unbarmherzig durch Zeiten und Räume, dass dieser immer wieder an den Kopf greifen und sich fragen muss: Wo bin ich gerade? Wer spricht hier zu mir? Und wenn nicht zu mir, zu wem dann? – Dieser Faulk-ner führt uns nicht brav am Faden der Zeitabläufe oder jenem der Logik entlang. Wenn er erzählt, verheimlicht er uns beinah immer mehr, als er kundtut. Er verrätselt die Dinge so, dass man lesend die Orientierung und da und dort beinah den Verstand verliert. Das Buch mit seinen 21 Kapiteln eilt voraus und wandert zurück, steigt in die Köpfe der Protagonisten, des einen einmal, dann wieder eines anderen. Bald spricht ein Erzähler, der alles zu durchschauen scheint. Dann wieder einer, der sich zum parteiischen Sprachrohr einer Figur macht. Was für ein Geschaukel durch Vergangenheit und Gegenwart, durch fahle Erinnerungen und feste Überzeugungen, durch unbestimmte Sehnsucht und berechtigte Erwartungen. Es wird getuschelt und geplappert, behauptet und vermutet, verwünscht und verklagt. Eine Welt entsteht, sinnlich und greifbar, voller Wunderlichkeiten und Widerlichkeiten. Ein Zauberer der Darstellungskunst ist hier am Werk, der uns alles zumutet, was auf seinem Flecken Süden, den er kennt, erlebt und erfindet, geschehen ist und geschehen kann. Er taucht uns in die Geschichte verlorener Kriege und Kämpfe, zieht uns wieder aus dem Zeitenstrom herauf in die pure Gegenwart und in die penetrante Sinnlichkeit des gelebten Augenblicks. Man muss diesen Faulkner lesen, wenn man begreifen will, was es heisst, durch die Brille zu kurz gekommener, verletzter, leidender und deshalb das Schlimmste planender und zum Schlimmsten getriebener Menschen die verbleibenden Möglichkeiten des Lebens wahrzunehmen. 

Also wie befürchtet: Hier blüht der Hass gegen alles, was anders ist. Hier ersticken Menschen an der religiösen Strenge und erbarmungslosen Rechtschaffenheit ihrer Nachbarn. Man hat es in diesem Buch zu tun mit blutrünstigen Rächern eines bloss eingebildeten, vermeintlichen durch Geschwätz und Unwissenheit verbreiteten Unrechts. Moralischer Sumpf, wie man sich diesen nicht stinkender vorstellen kann.

Und doch: Wie das alles ausgebreitet und dargestellt wird, gerecht und unbestechlich, intensiv und detailbesessen, unsentimental und hellsichtig: Das soll erst einmal einer nachmachen! Dieser Süden ist zum Davonlaufen. Doch weshalb er so ist, begreift erst ganz, wer «Light in August» gelesen hat. Man muss das Leben der Joe Christmas, Reverend Gail Hightower, Joanna Burden, der strenggläubig verseuchten McEacherns oder des fanatischen Rassisten Percy Grimm kennen. Dann weiss man, was ein gottverlassenes Stück Süden und ein gottverlassenes Leben auf diesem Planeten sind.

Doch jetzt gehört auch eine Figur fest zu meiner imaginären Grossfamilie. Ich werde sie immer in Buchgriffnähe halten. Sie heisst Lena Grove und geht durch die Welt der Zerstörungen wie der Salamander durchs Feuer. Auf der Suche nach dem Vater ihres Kindes erfährt sie die Reise nicht nur als die unaufhörliche Begegnung mit Gewalt, Not und unzumutbaren Verhältnissen, sondern überraschenderweise auch als einen Weg der Erfüllung. Diese Lena erlaubt es nicht, dass ihre Armut, ihre Gutgläubigkeit und ihre Unwissenheit die Richtung und die Zuversicht beschädigen, die sie weiterbringen. Immer wieder betritt sie den Lebenskreis von Beschädigten. Immer wieder entkommt sie dem Teufelskreis von Blut und Schuld und Rache auf eine Art und Weise, die der Leser als ein Wunder empfindet. Seit ich «Light in August» gelesen habe, möchte ich in Stunden der Anfechtung so schicksalsbehütet vorwärtsschreitend sein wie diese Lena Grove.

Faulkners Yoknapatawpha County, die unheimlichste aller südlichen Provinzen, ist damit noch längst nicht erkundet. Die Erforschung dieses Südens nach Art des William Faulkner muss fortgesetzt werden. Sie hat etwas Hochbedrohliches, aber sie übt einen Sog aus. Keine Frage: «Absalom, Absalom!» heisst das nächste Buch, das ich mir vornehme. Und wer weiss, eines Tages werde ich um Mitte August sogar nach Oxford, Mississippi, alias Yoknapatawpha County reisen. Dort gebe es in dieser Zeit ein Licht – so behauptet Faulkner –, das den Blick öffne «in eine ältere Vergangenheit, in die alten klassischen Zeiten, älter als unsere christliche Zivilisation». Vermutlich leben dort immer noch Nachfahren des nach Visionen süchtigen Pfarrers und Calvinisten Gail Hightower oder des Joe Christmas, des Antihelden von «Light in August», über den Faulkner schrieb: «Seine Tragödie bestand darin, nicht zu wissen und niemals erfahren zu können, was er war, und das ist für mich die tragischste Situation, in die ein einzelner geraten kann.» Die Südstaaten Nordamerikas sah Faulkner nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg 1865 als einen sterbenden Garten Eden. Seine Romane und Geschichten stellen eine grosse Frage: Warum sind Menschen für Paradiese nicht geschaffen, selbst wenn diese im Süden liegen? 

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