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Der 100. Geburtstag ist bald nichts Besonderes mehr

In der Schweiz leben so viele über Hundertjährige wie noch nie – und ihre Zahl steigt weiter rapide an. Die meisten blicken optimistisch in die Zukunft.

Der 100. Geburtstag ist bald nichts Besonderes mehr
Hundertjährige sind in der Schweiz oft gut familiär eingebunden. Bild: Darryl Dyck/The Canadian Press via AP.

Eine steigende Lebenserwartung gehört zu den wichtigen Errungenschaften unserer Zeit. Medizinische Fortschritte wie Impfungen oder Antibiotika, eine verringerte Kindersterblichkeit sowie verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen haben dazu beigetragen, dass die Lebensdauer im Laufe des letzten Jahrhunderts enorm zugenommen hat. In den letzten Jahrzehnten wurde diese Entwicklung zusätzlich verstärkt durch eine verbesserte Behandlung von chronischen Erkrankungen, eine optimierte Pflegesituation sowie einen gesundheitsbewussteren Lebensstil. Heute sind Hochaltrige in den meisten Industrieländern die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe.

«Heute sind Hochaltrige in den meisten Industrieländern die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe.»

Dieser Trend lässt sich sehr deutlich an der Gruppe der Hundertjährigen beobachten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte man sie in der Schweiz noch an einer Hand abzählen. Bis 1980 stieg diese Zahl auf 179. Die Entwicklung nahm dann in den Folgejahren so richtig Fahrt auf: Im Jahr 2000 lebten bereits 787 Hundertjährige in der Schweiz, bei der letzten Erhebung vom Sommer 2024 sogar 2177. Dass selbst die pandemiebedingte Reduktion der allgemeinen Lebenserwartung keine Verlangsamung dieses Trends zur Folge hatte, zeigt die starke Beschleunigung dieser demografischen Entwicklung.

Ein sprunghafter Anstieg der Anzahl sehr alter Menschen konnte ab den 1990er-Jahren auch in anderen Ländern beobachtet werden, beispielsweise in Japan, Frankreich, Italien und Deutschland. Gemäss der europäischen Volkszählung hat sich die Zahl der Hundertjährigen in den EU- und EFTA-Ländern zwischen 2006 und 2011 auf mehr als 90 000 Personen verdoppelt.

Die Schweiz liegt, obwohl sie mit 85,8 Jahren für Frauen beziehungsweise 82,2 Jahren für Männer hinsichtlich der Lebenserwartung bei Geburt im internationalen Vergleich zu den Spitzenreitern gehört, bei der Anzahl der Hundertjährigen eher im Mittelfeld.

Prognosen legen nahe, dass sich die Zunahme der Anzahl der Hundertjährigen in Zukunft weiter verstärkt. Weltweit rechnet die UNO mit 4,3 Millionen Hundertjährigen im Jahr 2055. Für die Schweiz werden für 2050 50 000 Hundertjährige prognostiziert. Unter den 1917 Geborenen erreichten 1,7 Prozent der Mädchen und 0,4 Prozent der Jungen ein Alter von 100. Basierend auf den neuesten Zahlen geht das Bundesamt für Statistik (BFS) davon aus, dass jedes dritte im Jahr 2023 geborene Mädchen und jeder sechste Junge 100 und mehr Jahre alt werden wird.

«Weltweit rechnet die UNO mit 4,3 Millionen Hundertjährigen bis im Jahr 2055.»

90 Prozent sind zufrieden

Obwohl also immer mehr Menschen eine gute Chance haben, 100 Jahre alt zu werden, ist relativ wenig darüber bekannt, wie das Leben in diesem Alter aussieht. Unser Bild vom sehr hohen Alter ist folglich von vielen, vor allem negativen Vorurteilen geprägt, wie Gebrechlichkeit, Demenz und Abhängigkeit. Weltweit versuchen zahlreiche Studien, sich ein Bild von dieser Bevölkerungsgruppe zu machen: Forschung zu Hundertjährigen ist aus verschiedenen Gründen schwierig, da sie schwer zu lokalisieren sind, oft zögern, sich befragen zu lassen, oder eine Studienteilnahme wegen gesundheitlichen Einschränkungen nicht möglich ist. In der Schweiz untersucht seit 2020 die Studie Swiss100 die Eigenschaften und Lebensbedingungen der hier lebenden Hundertjährigen.1 Die Studienteilnehmer wurden anhand einer Zufallsauswahl von Adressen ermittelt, welche vom BFS zur Verfügung gestellt wurden. Bislang wurden in telefonischen und persönlichen Interviews 446 Hundertjährige sowie ihre Angehörigen befragt.

Gemäss der Hauptstudie leben 51 Prozent der Hundertjährigen in Privathaushalten und 49 Prozent in Pflegeeinrichtungen. Damit sind in der Schweiz deutlich mehr Hundertjährige in Alten- und Pflegeheimen als in den Nachbarländern. Eine Mehrheit verfügt über ein mittleres Bildungsniveau, über 30 Prozent haben die Ausbildung mit der Berufsschule abgeschlossen. Eine relative Mehrheit (über 30 Prozent) übte qualifizierte nichthandwerkliche Berufe aus. Finanziell sind die Hundertjährigen zumeist gut in der Lage, ihre Ausgaben zu decken, allerdings ist es für ein Viertel der Befragten schwierig oder gar sehr schwierig, finanziell über die Runden zu kommen.

Gesundheitlich zeigt sich bei den Hundertjährigen erwartungsgemäss eine Anhäufung von chronischen Erkrankungen und Beschwerden. Fast alle haben Probleme beim Sehen und Hören, zwei Drittel haben Mobilitätseinschränkungen; über die Hälfte berichtete von Stürzen. Harnwegsbeschwerden, kardiovaskuläre sowie muskuloskelettale Erkrankungen lagen bei ungefähr der Hälfte vor. Damit bestätigt Swiss100 Befunde früherer Studien für die Schweiz: Zwar sind Hundertjährige in der Regel länger gesund als die Normalbevölkerung und entwickeln alterstypische Erkrankungen etwa zehn Jahre später, mit 100 Jahren haben sie dann aber alle Gesundheitseinschränkungen.

Dies wirkt sich natürlich auch im Alltag aus: Viele Hundertjährige sind bei Alltagsaktivitäten eingeschränkt. Auch bei der kognitiven Leistungsfähigkeit gibt es Einbussen, allerdings zeigen die Swiss100-Daten deutlich, dass man auch mit 100 Jahren geistig fit sein kann: Über die Hälfte der Hundertjährigen zeigten keine oder nur geringe Einschränkungen. Auch gab es starke Unterschiede zwischen den Hundertjährigen bei den Leistungen in kognitiven Tests. Dies unterstreicht den in der Altersforschung bekannten Trend, dass mit zunehmendem Alter die Unterschiedlichkeit zwischen Menschen gleichen Alters zunimmt.

Eine der grossen negativen Nebenwirkungen eines hohen Alters ist der Verlust nahestehender Personen. Frühere Untersuchungen stellten bei Hundertjährigen oft ein Risiko sozialer Isolation fest. Hinzu kommt, dass sich die sozialen Kontakte häufig auf wenige Personen konzentrieren, sodass der Verlust einer dieser Personen grosse Konsequenzen hat.

Die Swiss100-Studie ergab ein positiveres Bild: Mehr als ein Viertel der Studienteilnehmer hatte regelmässigen Kontakt zu 3 bis 4 Familienangehörigen, über ein Fünftel gar zu 5 bis 8. Weniger als fünf Prozent der Studienteilnehmer hatten keinen regelmässigen familiären Kontakt. Damit scheinen die Hundertjährigen in der Schweiz deutlich besser familiär eingebunden zu sein als in anderen Ländern. Zudem haben mehr als 60 Prozent der Schweizer Hundertjährigen ein Kind, das in weniger als 30 Minuten Entfernung lebt und damit im Notfall schnell vor Ort sein kann.

Die Befunde der Swiss100-Studie weisen zudem auf eine hohe psychische Resilienz hin. Eine deutliche Mehrheit der Hundertjährigen gibt an, optimistisch in die Zukunft zu blicken und sich jeden Tag auf Dinge freuen zu können. Gleichzeitig erleben die Befragten ihr Leben mehrheitlich als sinnreich und haben einen starken Lebenswillen. Besonders sticht bei den Ergebnissen hervor, dass über 90 Prozent zufrieden mit ihrem Leben sind. In Studien aus anderen Ländern wie Deutschland oder den USA lag dieser Wert selten über 80 Prozent.

Mit 80 noch die eigenen Eltern pflegen

Zwar ist es heute noch immer etwas Besonderes, wenn Menschen ihren 100. Geburtstag erreichen, aber bereits in naher Zukunft wird ein hundertjähriges Leben zum Normalfall werden. Was heisst dies für den Einzelnen, die Angehörigen, unsere Gesellschaft?

Für den Einzelnen ist es schwer vorstellbar, dass 100 Jahre Leben eine realistische Perspektive werden. Ein gesunder Lebenswandel, Risikovermeidung und Vorsorge werden weiterhin an erster Stelle stehen müssen, damit diese zusätzlichen Jahre in guter Gesundheit und Lebensqualität verbracht werden können. Vor allem, weil immer mehr grosse Studien zeigen, dass es eben nicht nur die Genetik ist, die ein gutes Altern ermöglicht, sondern dass bis zu 70 Prozent auf den Lebenswandel und Umweltbedingungen zurückzuführen sind. Präventionsprogramme, frühzeitige Diagnostik und optimale Interventionen können ebenfalls einen wichtigen Beitrag leisten.

Auch sollten Seh- und Hörfähigkeiten im Alter regelmässig geprüft und durch technische Hilfsmittel unterstützt werden, da eingeschränktes Sehen und Hören nicht nur mit sozialem Rückzug und Einsamkeit einhergehen, sondern auch mit kognitiven Problemen. Das Demenzrisiko steigt nicht nur mit schlechter Bildung, sondern auch mit Hörproblemen – und einer schlechteren Zahngesundheit (vermutlich, weil die entzündlichen Prozesse im Mund über biologische Mechanismen die Alterung vorantreiben). Daher wäre nicht nur eine Pflegeversicherung, sondern auch eine Zahnversicherung sinnvoll.

Ein aktiver Lebensstil mit sinnstiftenden Tätigkeiten im Alter geht mit einer höheren Lebensqualität und Zufriedenheit einher. Daher würde eine Gesellschaft des langen Lebens auch von einer Flexibilisierung des Rentenalters profitieren. Dadurch könnten Menschen, die dies wünschen, länger im Berufsleben bleiben, was nachweislich zu einem besseren Altern beiträgt.

Essenziell ist auch das Entwickeln von unterschiedlichen Unterstützungsangeboten, idealerweise mit gestaffelten Hilfen an einem Ort oder in unmittelbarer Nachbarschaft. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Hundertjährigen von heute mehr Wert auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit legen als frühere Generationen. Die betroffenen Angehörigen sind zudem selbst deutlich älter und haben nicht damit gerechnet, noch mit 75 oder 80 einen Elternteil zu pflegen – auch hier ist gesellschaftliches Verständnis und Unterstützung vonnöten. Neben entlastenden Angeboten, zum Beispiel einer Pflegeversicherung und Unterstützungsbörsen, sollte eine sorgende Gemeinschaft unterstützend zur Seite stehen.

Zudem sollte unsere Gesellschaft alte und sehr alte Menschen weniger über ihre Defizite, sondern eher über ihre Fähigkeiten wahrnehmen. So mag eine sehr alte Person zwar wegen gesundheitlicher Einschränkungen auf Hilfe angewiesen sein, aber ihre Lebenserfahrung stellt einen wertvollen Wissensschatz dar, von dem jüngere Menschen profitieren könnten.

«Wir sollten alte und sehr alte Menschen weniger über ihre Defizite,

sondern eher über ihre Fähigkeiten wahrnehmen.»

Um alte Menschen als wichtige Mitglieder der Gemeinschaft anzuerkennen und besser zu integrieren, könnten dem Beispiel anderer Länder (zum Beispiel Japans) folgend Altersräte geschaffen oder generationenübergreifende Projekte entwickelt werden. Denn die Forschung zeigt, dass negative Altersstereotype einen objektiv schlechteren Alterungsprozess nach sich ziehen und daher für Menschen allen Alters von Nachteil sind. Um zu erreichen, dass alte und sehr alte Menschen nicht wegen ihres Alters ausgegrenzt und vielmehr in ihren Bedürfnissen ernst genommen werden, sind neben Begegnungen zwischen den Generationen auch Massnahmen wie die Wissensvermittlung zum Thema hohes Alter enorm wichtig.

Um die Herausforderungen, die mit der demografischen Alterung einhergehen, zu bewältigen, sind somit alle gefordert: der Einzelne, das unmittelbare soziale und räumliche Umfeld, aber auch der kulturelle und gesellschaftliche Kontext. Es gibt noch viel zu tun, um das längere Leben, das heute und in Zukunft viel mehr Menschen vergönnt sein wird, optimal zu gestalten.

  1. Swiss100 wird geleitet von Daniela Jopp (Leitende Projektverantwortliche), Armin von Gunten (CHUV), François Herrmann (HUG), Stefano Cavalli (SUPSI) sowie Mike Martin und Christina Röcke (Projektpartner; UZH). Weitere Informationen: unil.ch/swiss100

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