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«Denken Sie an Lawinen»

Was ist der Auslöser der nächsten Finanzkrise? William White über Hotspots der Geldpolitik und ein Szenario, wie sich eine Deflation rasch in hohe Inflation umwandeln kann.

«Denken Sie an Lawinen»

Herr White, Ihre Aufgabe ist es, wirtschaftliche Krisen vorherzusehen. Wie macht man das?

Wenn wir Wirtschaft als ein komplexes adaptives System verstehen, so wissen wir, dass Voraussagen absolut unmöglich sind. Die entscheidende Frage ist vielmehr: Was könnte der Beginn einer nächsten Krise sein? Welche Probleme könnten wann und wo zu neuen, grösseren Problemen führen? Wenn ich mich mit dieser Optik auf der Welt umschaue, so kann ich sagen: Ich glaube – und das ist ein tatsächlicher Glaube –, dass die Chance gross ist, dass irgendwann irgendwo irgendetwas dramatisch schieflaufen wird. Denn alles kann Auslöser dafür sein.

Zum Beispiel?

Das ist eine der Lektionen, die ich über Komplexität gelernt habe: Der Auslöser selbst ist gar nicht so entscheidend. Es kommt auf die Anhäufung von Problemen an. Denken Sie an Lawinen. Alles, was es zum Auslösen ebensolcher braucht, ist ein Schneeball. Nach dem Auslöser zu suchen, entspricht also einem Ratespiel. Aber: der Schnee, der nachher den Hang herunterrutscht und damit zum Unglück wird, hat sich dort ja einmal angesammelt. Das Schneebrett ist sichtbar, wenn man weiss, wie man es erkennt. Ich könnte Ihnen eine ganze Liste von lokalen und globalen Entwicklungen geben, die dergestalt enorme Risiken bergen.

Ich bitte darum.

Denken Sie an Japans Abenomics – eine aus meiner Sicht völlig fehlgeleitete Politik. Wir wissen, dass Zeiten des politisch gemanagten Übergangs immer gefährlich sind. Europa ist ebenfalls ein Hotspot, aufgrund des EU-Krisenmanagements. Zurzeit scheinen die Dinge relativ ruhig zu sein. Alles Notwendige tun, so lautet die Devise in Frankfurt. Aber ich glaube nicht, dass die Europäische Zentralbank (EZB) über die Mittel verfügt, um die strukturellen Probleme Europas effektiv und langfristig zu bekämpfen.

Auf die Rolle der Europäischen Zentralbank kommen wir noch. Wie sieht es in den USA aus?

Die USA sind in Sachen Bereinigung der Bankbilanzen weiter als alle anderen, aber auch dort machen tiefe Investitionsquoten und sehr tiefe Beschäftigungsgrade Sorgen. Die amerikanische Wachstumsrate gleicht dem, was Piloten als «Stallspeed» bezeichnen: ein Strömungsabriss beim nicht beschleunigten Geradeausflug. Die Folge ist in der Aviatik dieselbe wie auf Märkten: es droht ein rasantes, nur schwer kontrollierbares Absacken. Wiederum: Quantitative Easing kann diese Probleme nicht lösen. Auch die Rohstoffmärkte sind in aller Munde. Die allermeisten Rohstoffproduzenten hängen schliesslich von Chinas Entwicklung ab – und befinden sich in einem Rohstoff-Superzyklus. Und denken Sie nur mal an die Länder, die als BRICS galten: Brasilien befindet sich in ökonomischen und politischen Schwierigkeiten, Russland ist in Not, Indien kämpft mit schlechten Krediten in den Portfolios von staatseigenen Banken. Wo auch immer man hinschaut, tauchen Probleme auf.

Auf den Finanzmärkten scheinen viele Anlagen auch nach der Korrektur im ersten Quartal 2016 trotz all dieser Probleme noch immer sehr hoch bewertet.

Tobins Quotient oder Shillers 10-Jahre-Index zeigen: die Preise sind sehr hoch. Und die Frage ist tatsächlich, ob diese Preise tragfähig sind. Ich habe meine Zweifel. Die Erkenntnisse aus Studien mit sogenannten GARCH-Modellen sind, dass Volatilität noch mehr Volatilität erzeugt.

Sie meinen stochastische Modelle, die als Signale für Instabilität dienen?

Genau. Wenn an den Märkten grosse Bewegungen im Gange sind, dann ist dies meist ein Zeichen dafür, dass das dicke Ende erst noch kommt. Aber interessanterweise zeigen instabile Systeme oftmals einen erstaunlichen Grad von Stabilität – bevor die Volatilitätssignale auftreten. Erinnern wir uns beispielsweise an die sogenannte «Great Moderation» Anfang der 2000er Jahre.

Damals dachte der Präsident der amerikanischen Zentralbank, die Zeit grosser Finanzkrisen sei vorbei. Weil die Zeit seit den 1990ern durch relativ stabile Preise und eine tiefe Volatilität an den Finanzmärkten geprägt war.

Nicht nur Ben Bernanke! Alle dachten damals, dass das Leben dauerhaft gemütlicher geworden sei. Ich werde also bei lange andauernder Stabilität automatisch skeptisch. Das ist wie beim Verkehr: Wenn alle Fahrzeuge mit einer zügigen Geschwindigkeit von, sagen wir, 120 Kilometern pro Stunde unterwegs sind und minimalen Abstand zueinander aufweisen, ist das enorm effizient. Jedes Stück Strasse ist benutzt. Und alle fahren so schnell wie möglich. Aber sobald nur einer der Fahrer auf die Bremse tritt, verwandelt sich die Strasse in einen grossen Parkplatz: alles steht still.

Sie sagen: Am Rande des Chaos sind Systeme hocheffizient.

Am Rande des Abgrunds! Was ich damit sagen will: während der «Great Moderation» dachten alle, die Welt habe sich grundsätzlich verändert. Aber die Leute in der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel (BIZ) haben dieser Geschichte nicht getraut. Leider haben weder meine Kollegen noch ich damals die Literatur über komplexe dynamische Systeme gelesen. Diese sind mit den Denkschemata vieler Menschen völlig inkompatibel – sie überfordern jedes einfache Modell der Welt. Das ist umso problematischer, wenn kollektive Erschütterungen auftreten, die sich niemand, der im starren Denkkorsett denkt, erklären kann – und man dann Schuldige sucht. Das Wesen interdependenter Systeme ist: wenn irgendjemand auf der Welt in ernsthafte Schwierigkeiten gerät, so sind die Auswirkungen davon überall spürbar.

Kommen wir zurück zur bereits erwähnten Geldpolitik; dort lässt sich die Interdependenz schön veranschaulichen: Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hätte eine Wirtschaftskrise in Griechenland kaum Einfluss auf mitteleuropäische Wahlen gehabt, das ist heute anders. Aber immerhin: die Leute nehmen die Geldpolitik wenigstens wahr, nicht?

Geldpolitik war seit dem Ausbruch der Finanzkrise «das einzige Spiel in der Stadt». Die Regierungen haben die harten Massnahmen zur Bekämpfung der Krise sehr lang vor sich hergeschoben. Viele Zentralbanker sagen bis heute explizit: wir kaufen nur Zeit für die Regierungen…

Welche Kräfte überwiegen innerhalb der Europäischen Zentralbank?

Zuerst muss man sich vor Augen führen, dass die EZB sehr widerwillig in dieses Spiel der Stimulierung von Nachfrage hineingezogen wurde. Sie sagten immer, es gehe darum, den sogenannten Transmissionsmechanismus zu reparieren. Also sicherzustellen, dass sich die Geldpolitik auf die Kreditvergabe für die Realwirtschaft auswirkt. Ich war überrascht, als sich die EZB dem Quantitative Easing zugewandt hat, dachte eigentlich, dass der interne Widerstand zu stark sei. Aber wenn die Leute auf der Strasse zu glauben beginnen, dass Geldpolitik die Antwort sei, wird der implizite Druck so gross, dass es fast unmöglich ist, diesem Druck zu widerstehen. Sogar so respektable Publikationen wie die «Financial Times» und der «Economist» sagten fast ausschliesslich: macht mehr!

Und dies in einer sehr aggressiven Art und Weise.

Durchaus. Die EZB sagt heute, dass sie eine extrem aggressive Geldpolitik betreiben müsse, um Deflation zu verhindern. Nun haben die Europäer aber zwei Probleme: einerseits das Problem von Deflation, ein ökonomisches, das alle anderen Länder jenseits des Euroraums auch kennen. Und andrerseits das Problem eines Auseinanderdriftens innerhalb der Eurozone, ein politisches. Wenn Mario Draghi sagte: «Whatever it takes», so tat er dies als Antwort auf das politische Problem innerhalb der Eurozone. Und nicht als Antwort auf die Disinflation. Das macht die Sache zusätzlich schwierig, die Motivation der Zentralbanker zu analysieren.

Das Resultat ist aber überall dasselbe: tiefe Zinsen bis negative Zinsen und wenig Anreize zu sparen. Was sind die Folgen für Anleger?

Bedenken Sie: Auch wenn die Zinsen negativ sind, können sie noch weiter sinken. Man kann also immer noch Geld mit Obligationen machen, solange die EZB diese weiterhin dann zu einem höheren Preis kauft. Aber ich gebe keinen Rat für Anleger. Das ist zu kompliziert.

Worauf ich hinauswollte: alle Anleger fokussieren darauf, was die Zentralbanken als nächstes machen. Das klingt besorgniserregend, finden Sie nicht?

Tatsächlich: wenn ich die «Financial Times» anschaue, haben jeden Tag drei bis vier Artikel mit den Handlungen der Zentralbanken zu tun. Das ist aussergewöhnlich und legt den Schluss nahe, dass etwas falsch läuft. Wenn das globale Finanzsystem brüchig ist, man also ständig schauen muss, was die Pfeiler dieses Systems, die Zentralbanken, tun, dann tendieren Menschen auch zum verzweifelten Handeln. Kleine Länder wie die Schweiz können derweil nichts anderes machen, als sich selbst zu schützen.

Sie reden vom Ende der Bindung des Frankens an den Euro?

Ja. Die Schweizer Nationalbank hatte die Wahl zwischen einer schlechten und einer noch schlechteren Option. In solchen Situationen kluge Entscheide zu treffen, ist die Aufgabe von fähigen Staatsmännern. Es gibt ein Zitat von John Kenneth Galbraith: «Politik ist nicht die Kunst des Möglichen. Sie handelt von der Wahl zwischen Desaster und Katastrophe.»

Apropos Desaster und Katastrophe: Wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit bezüglich Inflation und Deflation für die nächsten Jahre ein – was wird uns mehr bewegen?

Derzeit sehe ich Deflation kurzfristig als grösseren Grund zur Sorge. China ist der Joker in all diesen Szenarien. Die Überkapazität in China ist enorm. Dies gilt vor allem für Stahl, Kohle, Aluminium etc. Ich wäre überrascht, wenn China nicht versuchen würde, sich dieser Überkapazität durch verstärkte Exporte zu entledigen. Das wäre eine stark disinflationäre Kraft. Dabei gibt es zwei Dinge, die mich beunruhigen: wenn Länder grosse Defizite und Schulden haben, kann Disinflation die Besorgnis über fiskale Dominanz und Hyperinflation erhöhen.

Warum?

Stellen wir uns vor, wir befänden uns in einer disinflationären Periode: Es schwänden die Steuereinnahmen des Staates. Gleichzeitig gingen die Ausgaben rauf. Es entstünde ein grosses Defizit. Also müsste die Regierung Schulden aufnehmen, um die Staatsangestellten und Pensionen zu bezahlen. Aber niemand leihte ihr Geld, denn ihre Schulden wären bereits zu hoch. Also stiege die Abhängigkeit von der Zentralbank.

Wenn eine Regierung hohe Schulden und ein hohes Defizit hat, kommen normalerweise inflationäre Prozesse in Gang. Aber die Zentralbank könnte die Zinsen erhöhen…

Aber die höheren Zinsen treiben die Kosten für die Schulden in eine Höhe, in der die Angst vor fiskaler Dominanz eine Rolle zu spielen beginnt. Dann versuchen alle zu fliehen. Und daraus entsteht dann plötzlich eine Hyperinflation. Der Ökonom Peter Bernholz zeigt, dass die Leute dabei nicht einmal rationale Erwartungen haben müssen: Sie sehen einfach das Menetekel. Und sie sagen sich: nichts wie weg. Das alles kann sehr schnell passieren. Derzeit bereitet mir diesbezüglich Japan die grössten Sorgen. Denn die Defizite betragen immer noch 9 Prozent des BIP, die Schulden 250 Prozent des BIP. Ich denke an Faktoren, die Ausgaben in Währung des Yen enthalten. Und all diese Faktoren scheinen einen Rückwärtsgang einzulegen: Die inländischen Ersparnisse sinken. Gleichzeitig versucht Japan, den Home Bias gegenüber den japanischen Staatsobligationen loszuwerden. Der Leistungsbilanzüberschuss dreht sich in ein Defizit.

Wann kippt das Vertrauen?

Darüber wissen wir sehr wenig. Was wir wissen: die Faktoren, die das Vertrauen gestützt haben – Stabilität, die Stärke des Yen –, schwinden. Um das Ganze zusammenzufassen: ich erwarte kurzfristig eher eine Deflation. Aber ich kenne die Geschichte, wie sich Deflation rasch in hohe Inflation umwandeln kann.

Und langfristig?

Was die nächsten 20 bis 30 Jahre betrifft, erzähle ich die gleiche Geschichte wie Charles Goodhart, mein ehemaliger Mentor in der Bank of England. Wenn man auf die letzten 20 bis 30 Jahre zurückblickt, erkennen wir eine merkwürdige Verschiebung in der Funktion des Gesamtangebots. Zu grossen Teilen aufgrund demographischer Entwicklungen, Stichwort Babyboomers. Aber auch wegen der Öffnung Chinas und der Urbanisierung in Asien. Gleichzeitig hatten wir eine negative Entwicklung der Gesamtnachfrage. Ein Grund dafür: weil nun weltweit so viele Arbeiter verfügbar waren, sanken die Medianlöhne. Wegen der gesunkenen Löhne war der Konsum in vielen Regionen tief.

Gleichzeitig waren die Investitionen in den entwickelten Volkswirtschaften in den letzten 20 Jahren schwach.

Eine Erklärung dafür ist, dass die Demographie die Profite nach oben trieb. Warum investieren, wenn die Profite gut sind? Hinzu kamen die vielen Blasen der letzten Jahre, die zu einem Kollaps der Investitionen führten. Was passierte? Die Zentralbanken sagten sich: das Gesamtangebot steigt, die Gesamtnachfrage sinkt – wir müssen die Zinsen senken und die Maschinerie wieder zum Laufen bringen. Und das taten sie. Meine Interpretation ist, dass die tiefen Zinsen zu den weltweiten Ungleichgewichten und der Überschuldung der Banken und Haushalte beitrugen. Wenn die demographische Entwicklung einen anderen Lauf nimmt – und das tut sie gegenwärtig –, dreht sich die vorhin erzählte Geschichte ins Gegenteil. Die Reallöhne gehen wieder nach oben, weil es weniger Facharbeiter gibt. Der Konsum zieht an. Die Profite sind tief, also gehen die Investitionen rauf. Und wir befinden uns wieder in einer Welt mit schwindendem Gesamtangebot und steigender Gesamtnachfrage. In einer solchen Lage werden die Zentralbanker das Gegenteil von vorhin tun.

Sie erhöhen die Zinsen.

Richtig. Aber dies ist eine Geschichte für die nächsten 20 bis 30 Jahre. Bevor wir zu einem «new normal» kommen, müssen wir durch die aktuelle Krise kommen.


 

William White
ist Vorsitzender des OECD-Prüfungsausschusses für Wirtschafts- und Entwicklungsfragen. Er hat nach einem Ökonomiestudium für die Bank of England und die Bank of Canada gearbeitet und war bis 2008 Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel.

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