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Den Widerstand wollen

Die einen versuchen es mit Fitness, die anderen mit Gehirnjogging: Training ist immer gut, Resilienz aber zuvorderst eine mentale Angelegenheit. Wer widerstandsfähiger werden will, muss also die eigene Psyche stärken. Eine Anleitung.

Den Widerstand wollen
fotolia

Ihr Auftritt war so stark, dass sich selbst die Fachleute die Augen rieben. Acht lange Jahre hatte sich die 18jährige Österreicherin Natascha Kampusch in der Gewalt ihres Entführers befunden, war in einem Fünf-Quadratmeter-Verlies im Keller eingesperrt, manchmal im Dunkeln, und musste dem Mann zu Diensten sein. Schon zwei Wochen nach ihrer Flucht im August 2006 trat Natascha Kampusch im Fernsehen auf. Zu sehen war eine vielleicht ungewöhnliche, aber offenbar in sich ruhende junge Frau, die über sich selbst, die Jahre ihres Martyriums und ihr Verhältnis zu dem Mann, der ihre Jugend geraubt hatte, auf kluge und reflektierte Weise sprach. Die Zuschauer vor dem Fernseher konnten das Mass an innerer Stärke, das Natascha Kampusch präsentierte, kaum fassen. Ein gebrochenes Wesen hatten sie erwartet. Weshalb war die junge Frau nicht ein Schatten ihrer selbst?

Die Geschichte der Natascha Kampusch ist nicht nur besonders anrührend. Sie zeigt auch auf besonders beeindruckende Weise, was Resilienz ist. So nennen Fachleute die Fähigkeit, Krisen, Herausforderungen und Schicksalsschläge zu bewältigen, ohne daran zu zerbrechen. Es ist diese geheimnisvolle psychische Widerstandskraft, die einem jungen Mädchen, das auf dem Heimweg von der Schule gekidnappt wird, die Fähigkeit verleiht, ein solches Martyrium zu überstehen, während andere Menschen schon an viel kleineren Schicksalsschlägen zerbrechen. Resilienz ermöglicht es dem einen Unternehmer, nach dem Bankrott seiner Firma gleich wieder vor neuen Ideen zu sprudeln, während sich ein anderer aufgibt. Sie sorgt dafür, dass eine Frau nach dem Ende einer grossen Liebe bald neuen Sinn im Leben findet, während eine andere ihr Schicksal im Alkohol ertränkt. Und sie hilft auch, den Tod eines Partners zu verwinden oder eine schwere Krankheitsdiagnose wie Multiple Sklerose zu bewältigen, ohne den Lebensmut zu verlieren.

Viele Menschen würden gerne mehr Resilienz haben. Sie brauchen nicht die Stärke einer Natascha Kampusch. Aber sie wünschen sich ein bisschen Hornhaut auf der Seele, an der böse Bemerkungen des Chefs abprallen und welche die Niederlagen weniger schmerzhaft macht. Ein Rüstzeug, das schützt in den kleineren und grösseren Krisen, mit denen jeder Mensch in seinem Alltag konfrontiert ist. Eine Lebenseinstellung, die den Blick freudig nach vorn lenkt statt in Trauer zurück. Eine Selbstsicherheit, die den Grossteil der Kritik abprallen lässt und gezielt vor allem das verwertet, was konstruktiv ist. Eine Stärke, die hilft, aus unangenehmen Situationen das Beste zu machen.

Tatsächlich kann man seine Resilienz mehren. Denn es handelt sich nicht um eine für alle Zeiten angelegte Charaktereigenschaft, wie dies noch die ersten Forscher dachten, die sich mit dem Phänomen beschäftigten. Sie nannten resiliente Menschen «die Invulnerablen», weil sie davon überzeugt waren, dass solche Leute unverwundbar wären. Heute ist der Blick auf die psychische Widerstandskraft differenzierter. Seelische Stärke ist nur am Rande eine Frage der Persönlichkeit. Vielmehr handelt es sich vor allem um eine Strategie. Wer resilient ist, kann sich Wege erschliessen, aus einem Schlamassel wieder herauszukommen. Er ist nach einem Schicksalsschlag durchaus geknickt. Aber er steht bald wieder auf.

Wenn Resilienz aber vor allem eine Strategie ist, dann hat das einen unschätzbaren Vorteil: Es bedeutet, dass man Resilienz ein Stück weit lernen kann – selbst in fortgeschrittenem Alter noch. Dazu ist es sinnvoll, das Phänomen besser zu verstehen. Psychologen und Pädagogen, aber auch Genetiker und Neurowissenschafter forschen mit grossem Engagement daran, was Menschen zu einem psychisch gesunden Leben befähigt. Was sind die Strategien und Ressourcen, die den Lebenstüchtigen helfen, sich durch Krisen zu manövrieren?

Einige Antworten auf diese Frage hat Natascha Kampusch bereits verraten. Sogar ihr Entführer habe sich «gewundert, warum ich das alles so mit Fassung nehme», hat sie einmal erzählt. Aber so sei sie eben: «Ich bleib’ zum Trotz ich. Es bringt nichts, wenn man das Ganze zu emotional sieht.» Immer hat das Mädchen, das sich viele Jahre lang in sein Schicksal fügen musste, an die Zukunft geglaubt: «Ich habe mir geschworen, dass ich älter werde, stärker und kräftiger, um mich eines Tages befreien zu können», erzählte die 18jährige. Ihr Blick fürs Positive mutete zum Teil rührend an: Sie sei sich dessen bewusst, dass sie keine normale Kindheit gehabt habe, schrieb sie in einem offenen Brief nach ihrer Befreiung. Doch so habe sie zumindest «nicht mit Rauchen und Trinken» begonnen und «keine schlechten Freunde» kennengelernt, meinte sie allen Ernstes. Und obwohl sie jahrelang kein Mitgefühl erfuhr, hat sie sich ihre Empathie bewahrt. Mit Spenden, die sie nach ihrer Flucht erhielt, finanzierte sie ein Kinderkrankenhaus in Sri Lanka – weil ihr während ihrer Gefangenschaft die Tsunami-Opfer dort so leidgetan hatten.

Was Natascha Kampusch von sich preisgegeben hat, deckt sich mit dem, was Wissenschafter in aufwendigen Studien über resiliente Menschen herausgefunden haben: Sie haben ganze Listen von Eigenschaften, Verhaltensweisen und äusseren Faktoren erstellt, die Menschen stark machen. Wie bei Natascha Kampusch gehören neben Selbstbewusstsein, Pragmatismus, positivem Denken, Ausdauer, dem Glauben an die Zukunft, Durchsetzungsvermögen, der Fähigkeit zur aktiven Problemlösung, Flexibilität und dem Bewusstsein, dass es im Leben nun einmal schwierige Phasen gibt, auch Bindungsfähigkeit, verlässliche Bezugspersonen und soziale Kompetenz dazu. Die Resilienten nehmen Widrigkeiten nicht persönlich und sagen sich, dass negative Erlebnisse auch einen Sinn haben können – und am Ende vielleicht alles besser wird. Die Starken, die Stehaufmännchen finden einen Ausweg. Sie haben die Kraft, Licht am Horizont zu sehen, wo anderen die Lage aussichtslos erscheint. Sie wissen, was sie als nächstes tun werden, wenn andere planlos sind.

Diese allgemeinen Resilienzfaktoren sind inzwischen in den verschiedensten Situationen und auf der ganzen Welt bestätigt worden. Sie halfen Menschen nach einer Scheidung, aber auch solchen mit schweren Krankheitsdiagnosen. Sie waren wichtig für Strafgefangene, die wieder Fuss fassen mussten im Leben, für den Überlebenskampf in Krisenregionen, für Familien, die mitten im Wohlstand in Armut lebten, oder für Kinder mit psychisch kranken Eltern. Und sie galten auch für Kinder, die in den 1950er Jahren ins Elend einer hawaiianischen Insel namens Kauai hineingeboren wurden.

Viele dieser Ressourcen werden Menschen zugegebenermassen schon in frühester Kindheit mitgegeben oder gar mit den Genen in die Wiege gelegt. Kinder, die auf Kauai in desaströsen Verhältnissen und mit oft alkoholkranken Eltern lebten, wuchsen dann zu selbstbewussten, fürsorglichen und leistungsfähigen Erwachsenen heran, die keine Drogen nahmen. Sie wurden nicht depressiv und kamen nicht mit dem Gesetz in Konflikt – wenn es zumindest eine liebevolle Bezugsperson in ihrem Leben gab, die sich um sie kümmerte, ihnen aber auch Grenzen aufzeigte, Aufgaben erteilte und Werte vermittelte. Dabei musste die Vertrauensperson nicht Mutter oder Vater sein. Eine Tante, ein Lehrer, eine Nachbarin, ein Pfarrer können ebenso Optimismus verbreiten, Hoffnung geben und in der Krise sagen: «Wer weiss, wofür’s gut ist? Am Ende wirst du dich vielleicht noch freuen, dass dir das passiert ist.»

Zweifellos spielen auch angeborene Faktoren eine Rolle: ein ausgeglichenes Temperament, Offenheit für andere Menschen und neue Situationen. Das hilft, in der Not gezielt die Hilfe zu suchen, die man braucht. Die moderne Resilienzforschung weiss inzwischen sogar von Genen zu berichten, die stark machen: Wer zum Beispiel Erbanlagen hat, die den Stoffwechsel des Glückshormons Serotonin im Gehirn günstig beeinflussen, bildet in unangenehmen Situationen weniger Stresshormone und neigt trotz eines deprimierenden Lebensumfeldes weniger zu Depressionen.

Doch Gene und Kindheit sind nicht alles. Sie bilden vielleicht die Bühne des Lebens. Aber auf ihr kann der Mensch immer noch das tanzen, was er möchte: Die Gene wirken, wie die moderne Wissenschaft inzwischen weiss, nicht unabhängig von der Umwelt. Scheinbar ungünstige, «schwache» Gene können in einem besonders liebevollen Umfeld sogar stark machen. Schliesslich sind Menschen mit diesen Genen besonders sensibel. Damit sind sie aber auch in grossem Masse für positive Einflüsse empfänglich. Wissenschafter sprechen von robusten «Löwenzahn-Kindern», die, mit Resilienz-Genen ausgestattet, auch auf dem Schrottplatz des Lebens gedeihen. Die verletzbaren «Orchideen-Kinder» hingegen gehen unter diesen Bedingungen ein. Aber in einer guten Umgebung mit viel Pflege treiben sie die schöneren Blüten.

Wer sich schwach fühlt, muss also für eine fördernde Umgebung sorgen. Wie bei den Kindern auf Kauai gilt es, sich sein Umfeld so einzurichten, dass man darin gedeihen kann. Sind die Menschen, mit denen ich mich umgebe, wirklich gut für mich?
Die Lehrerin, die Nachbarin, der Onkel, die den kauaianischen Kindern einen so wichtigen Halt boten – man kann sich solche Menschen auch als Erwachsener noch suchen. Ein soziales Netz aufzubauen und es liebevoll zu leben, seinen Alltag nicht so konfliktträchtig zu gestalten, das ist eine der wichtigsten Strategien, um seine Resilienz zu vergrössern.

Der zweite wichtige Schritt ist es, sich auch selbst liebevoll zu begegnen und sich kennenzulernen. Auf welchem Weg man persönlich eine schwierige Situation am besten bewältigt, lässt sich eben am ehesten herausfinden, wenn man seine Seele gut kennt. Resiliente Menschen wissen besser, was ihnen gut tut, als weniger resiliente Menschen. Deshalb beginnen die meisten Programme zum Aufbau seelischer Widerstandskraft mit einem Test, mit dessen Hilfe Menschen ihre persönlichen Stärken herausfinden können. Weg mit dem Defizitblick! Mehr Wertschätzung bitte! Auch von sich selbst und von dem, was man kann! Das ist eines der wichtigsten Ziele von Resilienz-Trainings. Oder wie der amerikanische Psychologieprofessor Martin Seligman sagt: «Don’t fix, what’s wrong! Build up, what’s strong!» Baue deine Stärken aus, statt an deinen Schwächen herumzudoktern und ständig traurig darüber zu sein. Das gibt der Seele Kraft.

Stärken lassen sich auf überraschend einfache Art trainieren: Man muss sie einfach leben, am besten auch mal auf eine neue Art. So könnte ein Mensch, der sich durch Grosszügigkeit auszeichnet, einem Unbekannten mit abgelaufenem Parkschein einen neuen hinter den Scheibenwischer klemmen, damit der Fremde keinen Strafzettel bekommt. Jemand, der besonders kreativ ist, könnte seinem Partner auf die Frage, was man unternehmen will, pantomimisch antworten. Und wer viel Lebensfreude besitzt, könnte diese durch ein besonders verrücktes Outfit ausdrücken oder endlich mal wieder tanzen gehen.

«Charakterstärken trainieren macht glücklich», sagt auch Willibald Ruch, Professor für Persönlichkeitspsychologie von der Universität Zürich. In seiner bislang wichtigsten Studie zu dem von ihm entwickelten «Zürcher Stärken-Programm» übten sich die Probanden zum Beispiel in Dankbarkeit, indem sie jemandem, der in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt hat, dies in einem Brief einmal sagten. Ihren Sinn für das Schöne konnten sie trainieren, indem sie in ihrem Alltag auf Momente achteten, in denen sie Bewunderung für etwas Schönes empfinden konnten. Das konnten Menschen oder Dinge sein, aber auch Gesten oder Bewegungen. Es zeigte sich, dass der Effekt eines kurzen Trainings sechs Monate andauern kann. Dabei ist es allerdings nicht gleichgültig, welche seiner starken Seiten ein Mensch trainiert. Den grössten Effekt, sagt Ruch, habe es, wenn man sich auf seine Neugier, seine Dankbarkeit, seinen Optimismus, seinen Humor oder seinen Enthusiasmus besinne und dies weiter ausbaue.

Optimismus ist auch in den Augen Martin Seligmans der Schlüssel zur psychischen Widerstandskraft. Vor allen anderen Eigenschaften mache die Zuversicht, sich nicht unterkriegen zu lassen, eine starke Seele aus, sagt der Psychologieprofessor. Menschen sollten trainieren, sich in ihrem Inneren Sätze zu sagen wie: «Es wird bald vorbei sein.» Oder: «Es ist nur diese eine Situation, und ich kann etwas daran tun.» Wichtig ist es, die Ursache von Schicksalsschlägen nicht nur bei sich selbst zu suchen. Wer daran glaubt, seine Lage bessern zu können, hat auch die Kraft, das zu tun.

Dazu gehört es auch zu erkennen, dass die Selbstgespräche, die wir alle in unseren Köpfen führen, nicht immer ein Spiegel der Wirklichkeit sind. Wer negative Selbstgespräche führt, sollte sich klarmachen, dass diese Gespräche Reaktionen auf Gefühle sind und selbst wiederum Gefühle verursachen – und dass sie meist auch ganz anders geführt werden könnten. Statt «Das muss auch immer mir passieren» kann man sich nach einem Missgeschick auch sagen: «Da habe ich jetzt aber Pech gehabt.»

Eine der zentralen Übungen, mit denen man den Optimisten in sich wecken kann, nennt Seligman «To Hunt the Good Stuff». Das bedeutet so viel wie «den guten Stoff aufstöbern» – und ist gar nicht schwierig. Seligman empfiehlt, jeden Abend vor dem Zubettgehen drei Dinge aufzuschreiben, die an diesem Tag gut gelaufen sind. Dass das funktioniert, haben Studien gezeigt: Menschen, die abends nur eine Woche lang das Gute Revue passieren liessen, hatten im Vergleich zu solchen Leuten, die einfach nur Erlebnisse aufschrieben, ohne sich dabei aufs Positive zu fokussieren, noch sechs Monate nach Abschluss des Trainings eine optimistischere Grundhaltung und weniger depressive Symptome.

Dass man Resilienz lernen kann, ist die gute Nachricht. Zugegebenermassen gibt es auch eine unbequeme: Wer lernen will, wie er Krisen und Herausforderungen besser bewältigt, der muss sich, wohl oder übel, auch Krisen und Herausforderungen stellen. Schliesslich lassen sich Strategien zur Lösung von Problemen nur dann erproben und weiterentwickeln. «Nietzsche hatte in gewissem Masse recht», sagt der Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf von der Humboldt-Universität in Berlin. «Was uns nicht umbringt, macht uns oft stärker.» Übersetzt ins praktische Leben heisst das: «Duck dich nicht weg!» Man muss Herausforderungen auch mal annehmen, um im Training zu bleiben. Das gibt Sicherheit und stärkt die Überzeugung, dass man es auch in anderen schwierigen Situationen schaffen wird.

Auch wenn man es hasst, vor fremden Menschen zu sprechen, und die tägliche Routine im Büro eigentlich gemütlicher findet, sollte man eine Einladung zu einem Vortrag ruhig mal annehmen. Am Tag vorher, während man den Vortrag vorbereitet, bereut man es wahrscheinlich furchtbar. Kurz vor dem grossen Ereignis dann erst recht. Aber wenn alles gut gelaufen ist, hat man seine Überzeugung gemehrt, dass schwierige Aufgaben zu meistern sind. Und wenn man scheitert? Eine Prise Realismus hilft: Wer von Anfang an einkalkuliert, dass auch Scheitern möglich ist, der lernt selbst aus Misserfolgen, ohne diese nur negativ zu sehen. Das Leben hält ständig Aufgaben für uns parat. Wir sollten sie willkommen heissen und Lösungen suchen. Dann haben wir in jedem Fall wieder etwas für unsere Resilienz getan.

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Rummelsnuff, photographiert von Robert Bartholot.
«Steh auf!»

Ein Mann wie ein Hochseetanker: Seine Oberarme sind aus Stahl, im Maschinenraum dampftʼs – und im Kopf, auf der Brücke, wird stets nüchtern der Kurs bestimmt. Der Berliner Musiker Rummelsnuff hat viel erlebt und weggesteckt. Wie man die Untiefen des Lebens umschifft, weiss dieser Käpt’n deshalb ganz genau.

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