
Den Tunnelblick überwinden
Autisten haben oft Mühe, das grosse Ganze zu sehen, erlangen in isolierten Bereichen aber aussergewöhnlich tiefe Einsichten. Die Gesellschaft kann von ihren Erfahrungen profitieren.
Vor zwanzig Jahren haben wenige Experten Betroffenen erklärt, dass sie eine Autismusdiagnose hätten und was das bedeute. Heute erklären viele vermeintlich Betroffene den Fachleuten, wie ihr Autismus aussehe und dass sie eine entsprechende Diagnose wünschten. Was für ein Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein! Autismus wird nicht mehr nur als psychiatrisches Störungsbild betrachtet, sondern – weil sich Betroffene zunehmend öffentlich zu Wort melden – auch als eine besondere Art, die Welt zu sehen und mit ihr zu interagieren. Immer öfter wird die Frage gestellt: Und wie sieht das bei Menschen mit Autismus aus?
Unter Autismus-Spektrum-Störung verstehen wir heute angeborene Besonderheiten der neuronalen Informationsverarbeitung. Diese führen dazu, dass Betroffene in ihrer sozialen, emotionalen und kognitiven Entwicklung Störungen erleben. Den Alltag innerhalb gesellschaftlich erwarteter Strukturen zu bewältigen, wird dadurch zum Problem. Die Wahrnehmung Betroffener ähnelt einem Tunnelblick, innerhalb dessen ein schmaler Ausschnitt im Hier und Jetzt zwar präzise erkannt wird, der aber losgelöst vom Kontext schwer einzuordnen ist. Durch bewusstes Explorieren und Reflektieren können bei gegebener geistiger Begabung Zusammenhänge erarbeitet werden. Dies ist zwar ressourcenintensiv, erlaubt aber in isolierten Bereichen Einsichten in einer Schärfe und Tiefe, die anderen Menschen abgeht, weil sie ohne diese Zusatzarbeit intuitiv schon in oberflächlicherer Betrachtung ausreichend Orientierung finden.
Begabung oder Behinderung?
Der autistische Verarbeitungsstil führt zu einem sehr individuellen Weltverständnis, in dem die Dinge präsent sind, die betrachtet oder erlebt worden sind, aber Naivität herrscht in Bezug auf übergeordnete Strukturen oder Dynamiken, die nicht bewusst analysiert wurden. Eine solch eng fokussierte, präzise Verarbeitung ist von Vorteil in klar strukturierten, stabilen Kontexten, die zuverlässigen Regeln folgen. Sie behindert aber das intuitive Verstehen von dynamischen Geschehnissen, deren Bedeutsamkeit nicht in oberflächlichen Details liegt, sondern in verborgenen, grösseren Zusammenhängen, zum Beispiel bei sozialer Interaktion. Entsprechend kann Autismus – das heisst das Leben in einer isolierten geistigen Welt – je nach dem Schweregrad, dem individuellen Erfahrungsschatz und der aktuellen Lebenssituation eine erstaunliche Begabung oder eine ernsthafte Behinderung sein.
«Autismus kann, je nach Schweregrad, eine erstaunliche Begabung oder eine ernsthafte Behinderung sein.»
Immer wieder fallen autistische Menschen auf, die wegen ihrer besonderen geistigen Fähigkeiten Herausragendes leisten. In Fachkreisen wird diskutiert, ob gewisse autismusassoziierte biologische Merkmale bis zu einer Schwelle vorteilhaft sein und zu kognitiver Begabung führen, bei Überschreitung dieser Schwelle aber Störungscharakter entwickeln könnten. Sogenannt «doppeltaussergewöhnliche» Menschen würden sich dann genau an diesem Scheitelpunkt befinden, an dem hohe intellektuelle oder kreative Begabungen in Störungssymptome übergehen.
Die Begriffe Hochbegabung und Intelligenz sind im Zusammenhang mit Autismus irreführend, da sie sich meist nur auf einen unausgewogenen Teil des bereits engen Referenzrahmens beziehen, der durch die gängigen Tests1 abgesteckt ist. Das liefert selten ein zuverlässiges Abbild der Begabung, das Leben zu meistern, vom möglichen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft ganz zu schweigen. In solchen Fällen scheint mir der Begriff hochbegabt oder hochintelligent recht autistisch gewählt: Es fehlt der Blick aufs grosse Ganze.
«Im Zusammenhang mit Autismus scheint mir der Begriff hochbegabt oder hochintelligent recht autistisch gewählt.»
In unserer heutigen Gesellschaft wird die Intelligenz in Form des IQ hochgeschätzt. Wissensdurstige, intelligente Kinder werden gerne als sogenannt Hochbegabte gefördert, um in Rekordzeit die Schule abzuschliessen. Nicht selten scheitern diese Kinder später an der selbständigen Bewältigung ihrer Lebensaufgaben. Warum lassen wir uns von brillanter Teilleistungsstärke so blenden? Warum erhalten Hochintelligente in den Schulen nicht parallel zu ihrer geistigen Nahrung soziale Herausforderungen gestellt, um auch in dieser Domäne zu wachsen? Es gibt in jeder Klasse genügend weniger Schnelle, die davon profitieren, wenn sie von den Starken an die Hand genommen werden. Gleichzeitig lernen Hochbegabte so, ihr überragendes Verständnis auch mitzuteilen.
Intelligenz richtig verstehen
Der Begriff Intelligenz beschreibt die geistige Fähigkeit, Probleme zu lösen. Wenn wir ihn sinnvoll verwenden wollen, sollten wir uns klar darüber sein, was das Problem ist, das es zu lösen gilt. Ein Pottwal ist angesichts des Problems weltumspannender Unterwassernavigation genuin sehr viel intelligenter als ein Mensch. Natürlich kann es aus kapitalistisch-kompetitiver Sicht relevant sein, mit bestem Sprachverständnis, glasklarer Logik, einem umfassenden Arbeitsgedächtnis und einem Verarbeitungstempo sondergleichen die auf unser Bildungssystem ausgerichteten Aufgaben eines normierten Intelligenztests zu erfüllen. Doch das Bestehen solcher Tests ist vielleicht nicht entscheidend für die Probleme, die wir als Menschheit heute zu bewältigen haben. Diese sind zu komplex, als dass ein paar phänomenale Köpfe sie mit ihren Geniestreichen oder fantastisch-kreativen Ideen lösen könnten.
Und genau hier sind Menschen, die gelernt haben, mit ihrem Autismus umzugehen, im Vorsprung. Für sie sind sehr viele alltägliche Dinge schon zu komplex, um sie intuitiv zu begreifen. Aber sie machen die Erfahrung, dass die Antwort im Suchen des Verbindenden zu finden ist: im Weiten des Blicks aufs Grössere, im Erkennen der Gemeinsamkeiten und im Sichöffnen, um sich mit jenen zusammenzutun, die eine andere Sicht haben.
Um die Aufgaben zu lösen, die sich der Menschheit heute stellen, brauchen wir die menschliche Intelligenz, die nicht in einem einzigen Verstand beheimatet sein kann, sondern erwächst, wenn wir uns öffnen, um uns zusammenzutun. Eine hohe persönliche Intelligenz enthebt uns nicht der Abhängigkeit von einer Gemeinschaft. Je mehr Diversität wir in den Perspektiven auf unsere gemeinsame Welt zulassen und je mehr unterschiedliche Begabungen in die gemeinschaftlichen Anstrengungen einfliessen, umso stärker wächst unsere Kraft, Herausforderungen in einer Grösse anzugehen, an der wir bisher gescheitert sind. Die oft aussergewöhnlichen, wenn auch eng begrenzten Begabungen von Menschen mit Autismus können erst dann zur Blüte kommen und andere befruchten, wenn sie nicht in Isolation brüten, sondern vernetzt werden in das Mitdenken anderer.
Zum Beispiel durch den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest, der Sprachverständnis, logisches Denken, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit prüft. ↩