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Den Mitbürgern Entscheidungsfähigkeit zutrauen
Manuel Zanoni, zvg.

Den Mitbürgern Entscheidungsfähigkeit zutrauen

Die Änderung des Transplantationsgesetzes, über die am 15. Mai abgestimmt wird, setzt auf Nudging. Es wäre aber Aufgabe des Staates, das verletzliche Individuum vor einer übergriffigen Mehrheit zu schützen.

 

Widerspruch!

Eine Replik


 

Mit der neuen Widerspruchsregelung bestehe eine positive Grundhaltung der Organspende gegenüber, der Betroffene sei also eher für eine Organentnahme, sagt Felix Gutzwiller im Podcast «Studio Libero» vom 25. März. Ich bin hingegen der Ansicht, dass es unzulässig ist, von einer politischen Mehrheitsentscheidung auf die Zustimmung eines einzelnen zu schliessen. Die neue Regelung beeinträchtigt die Entscheidungsfähigkeit des Individuums sogar.

Mit der Widerspruchsregelung genügt es zu schweigen, um als Organspender zu gelten. Bei deren Annahme würde die Entscheidung zur Organspende als bewusster und verantwortungsvoller Akt praktisch abgeschafft. Aktive Entscheidungssituationen zu verhindern, passt zu einer schleichenden Entwicklung. In vielen Lebenssituationen werden uns vermehrt Entscheidungen von elektronischen Systemen, überfürsorglichen Eltern oder wohlmeinenden Politikern abgenommen. Bei der Widerspruchsregelung erfolgt die Abnahme der Entscheidung über die voreingestellte Option, die Default-Lösung – hier Zustimmung zur Organspende –, welche insbesondere bei komplexen Entscheidungen meist unverändert belassen wird. Im Buch «Nudge» nennen Cass Sunstein und Richard Thaler die Widerspruchsregelung als Beispiel für einen ihrer berühmten Anstupser zu klügeren Entscheidungen. Nur ist in diesem Fall das Vorhandensein einer Entscheidungssituation nicht mehr wahrnehmbar, da einem Uninformierten gar nicht bewusst ist, dass er eine Entscheidung zur Organspende fällt.

Auch Gutzwiller scheint diesem Etikettenschwindel aufgesessen zu sein, wenn er sagt, dass «mit dieser Regelung das Individuum frühzeitig mit der Organspende konfrontiert wird» und «sich damit befasst». Ihm wie auch den anderen Befürwortern der neuen Regelung müsste bewusst sein, dass sich viele auch nach der Abstimmung nicht mit der Organspende auseinandersetzen werden.

Thaler und Sunstein nennen dies die Kraft der Trägheit, deren Früchte ein Politiker ernten kann, der seine Schäfchen zu klugen Entscheidungen anleitet, wobei Manipulation wohl die treffendere Bezeichnung wäre. Um eine informierte Entscheidung fällen zu können, müssten die Menschen nicht nur wissen, dass es sich um eine aktive Entscheidungssituation handelt, sondern müssten auch umfassend über das Thema Bescheid wissen. Die Gewährleistung der im Gesetz vorgeschriebenen Informationspflicht bei 7 Millionen Erwachsenen ist auch nach der Abstimmung illusorisch, da der Anreiz zu informieren abnimmt, wenn Uninformierte bereits zu Organspendern erklärt sind.

Von einer laut Gutzwiller «freiwilligen Sache, die man selbst entscheiden kann» kann also keine Rede sein, wenn mittels Default-Lösung die Vorentscheidung getroffen wird. Zudem fällt die Option «Keine Entscheidung treffen zu wollen» weg. Auch dies ist eine Willensäusserung, die in einer liberalen Gesellschaft – so unverständlich oder unerwünscht sie auch sein mag – zu respektieren ist. Dem Mitbürger wird jedoch wahlweise Faulheit oder Egoismus unterstellt.

Weil sich die Menschen nicht wie erwünscht in grosser Zahl zur Organspende entscheiden, wird dies zusammen mit dem Imperativ «Leben retten» zum Vorwand genommen, um ihnen per Widerspruchsregelung die Entscheidungsfähigkeit praktisch abzusprechen. Dieses Vorgehen drückt ein tiefes Misstrauen gegenüber den Mitmenschen aus.

Wenn nun Gutzwiller sagt, dass es «keinen Automatismus gibt, da die Angehörigen immer noch eingreifen können», vergisst er, dass es immer uninformierte Personen geben wird und die Eruierung des Spenderwillens selbst Angehörigen schwerfällt. Damit wird in Kauf genommen, dass Organe wider Willen entnommen werden. Dabei wäre es Aufgabe des Staates, das verletzliche Individuum vor einer übergriffigen Mehrheit zu schützen, ja eine informierte Entscheidung frei von Sachzwängen zu ermöglichen. Mit der Widerspruchsregelung ist dies nicht gegeben. Dabei ist es für eine funktionierende Demokratie essenziell, den Mitmenschen Entscheidungsfähigkeit zuzutrauen und sie zu befähigen, Entscheidungssituationen zu meistern.

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