Den Menschen entschlüsseln
Ein Informatiker unter Biologen: was Big Data mit der Krebsforschung zu tun hat.
Leben zu retten, braucht es manchmal auch einen Computer. Wir sitzen in Basel unweit der Messe in einem nüchternen Zimmer mit Linoleumboden. Es gibt in diesem Gebäude hunderte solcher Räume, angeordnet entlang schmaler Gänge. Junge Frauen und Männer aus allen Ecken der Welt, ohne oder mit Make-up, Kopftuch, Laborkittel, eilen freundlich lächelnd vorbei. Dieser Campus hier ist ein typischer Ort der sogenannten A-Schweiz, ein internationaler Forschungsbrennpunkt, eine der wichtigsten Brutstätten für potentielles Wirtschaftswachstum im Land.
Ein Computer also. Thomas Thurnherr, Forscher in der Abteilung für Computational Biology an der ETH, hat den Rechner mitgebracht ins Besprechungszimmer. Auf unsere Anfrage hin hat sich Thurnherr bereit erklärt, uns seine Arbeit zu erklären. Draussen scheint fast zum ersten Mal in diesem Jahr die Frühlingssonne, aber das macht nichts – wir haben eine sehr spannende Reise vor uns.
Herr Thurnherr, Sie sind Informatiker, andere in Ihrem Team Mathematiker oder Statistiker. Sie arbeiten in der Genforschung. Was haben Sie mit Biologie zu tun?
Bei der Analyse menschlicher DNA hat man es letztlich mit einer riesigen Menge an Informationen zu tun. Mit Daten. Um daraus sinnvolle Erkenntnisse zu gewinnen, braucht es Computerprogramme. Das ist unsere Expertise: wir suchen nach Mustern im Gencode. Wir nehmen beispielsweise die Gensequenz von gesunden Menschen und die von erkrankten und analysieren, wie sich die beiden unterscheiden.
Wie wird DNA, also menschliche Zellen, zu Daten?
Sie wird aus einer Zelle entnommen, beispielsweise aus der Gewebeprobe eines Krebspatienten, in Sequenzen gestückelt, gereinigt und in hochspezialisierte Geräte gegeben. Diese Geräte nutzen unterschiedliche biochemische Methoden, um die DNA einzulesen. Vereinfacht gesagt untersuchen sie mit Hilfe von fluoreszierenden Farbstoffen, wie stark eine Sequenz auf eine bestimmte Substanz reagiert. Daraus lässt sich ableiten, wie hoch die Konzentration eines bestimmten Bausteins an dieser Stelle ist. Das ist also letztlich eine Zahl. Mit diesem Teil der Arbeit hat unser Team kaum zu tun. Wir bekommen die Informationen zu den Bausteinen und arbeiten damit.
Sie haben es bereits gesagt: Sie suchen nach Mustern. Können Sie das genauer erklären? Sie persönlich haben beispielsweise mit den Daten von Leberkrebspatienten gearbeitet.
Genau. Da hatten wir Messungen zu Produkten von Genen, sogenannten RNA, von gesunden und kranken Gewebeproben von 100 an Leberkrebs erkrankten Patienten. Also 200 Proben. Der Mensch hat etwa 30 000 Gene, das ist also die Anzahl von Variablen, die es zu untersuchen gibt. Das ergibt gewisse statistische Herausforderungen.
Das kann man sich vorstellen.
Jedenfalls haben wir diese Daten untersucht und festgestellt, wo die Daten des erkrankten Gewebes von denen des nicht erkrankten abweichen. All diese Menschen sind an Leberkrebs erkrankt, sie haben aber, wie wir gesehen haben, unterschiedliche genetische Auffälligkeiten. Eigentlich brauchen sie also verschiedene Diagnosen und allenfalls auch verschiedene Behandlungen. Solche Erkenntnisse gewinnt man im Moment laufend für mehr Krankheiten. Bei Brustkrebs etwa ist man schon weiter, da man bei den Patienten klar definierte Subgruppen mit spezifischen genetischen Merkmalen identifiziert hat.
Sie verhelfen der Medizin zu präziseren Diagnosen?
Langfristig und im besten Fall, ja. Vieles, was wir tun, ist Grundlagenforschung. Wir arbeiten grundsätzlich an mathematischen Modellen, wie man die Daten auf bestimmte Fragen hin analysieren kann. Wir arbeiten an entsprechender Software mit. Das ganze Feld wächst weltweit gerade sehr stark, da gibt es laufend Anpassungen.
Sie entwickeln Algorithmen, die den Computer das Material auf ganz bestimmte Fragen hin untersuchen lassen? Kann man das so sagen?
Genau. Man ruft ein Merkmal nach dem andern ab.
Das ist eigentlich klassische Informatikarbeit. Sie könnten mit denselben Methoden beispielsweise den Verkehrsfluss in einer Grossstadt auf Muster hin untersuchen.
Das ist so, ja.
Verstehen Sie und die Biologen sich eigentlich gegenseitig?
(lacht) Wir verstehen uns sehr gut. Es ist relativ neu, dass es Studiengänge der Bioinformatik gibt, die beide Disziplinen vereinen. Die meisten von uns haben sich das Wissen der jeweils anderen Disziplin noch selber und gemeinsam angeeignet. Das war nicht immer einfach, weil wir tatsächlich andere Sprachen sprechen. Inzwischen sehen wir uns auch als Übersetzer zwischen den verschiedenen Wissenschaften.
Wie arbeiten Sie zusammen mit der Medizin, die ja im besten Fall irgendwann von Ihrer Arbeit profitiert?
Viel und laufend mehr. Im Moment haben wir zum Beispiel ein gemeinsames Projekt mit dem Universitätsspital Zürich. Wir analysieren für die Mediziner die Daten ausgewählter Patienten und geben Hinweise, welche Stellen im Genom betroffen sein könnten und welche Behandlungen allenfalls möglich sein könnten. Das sind oft Patienten, bei denen die bisherigen Standardbehandlungen versagt haben.
Wie kann man Gene behandeln, die verrückt spielen?
Gene produzieren Proteine, die dem Körper Signale geben. In manchen Fällen sorgt eine Genmutation dafür, dass zu viele solche Proteine produziert werden und Krebszellen wachsen. Da versucht man mit Medikamenten, diese Proteinproduktion zu hemmen. Diese Medikamente können viel präziser sein als etwa eine klassische Chemotherapie, weil sie eben gezielt auf ein bestimmtes Gen wirken.
Machen Sie sich Gedanken über Nutzen und Gefahren Ihrer Arbeit?
Auf jeden Fall. Gerade bei einem solchen Projekt, wenn ich weiss, dass Patienten betroffen sind. Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Mediziner möglichst gut und sehr ehrlich informiert sind, damit sie verantwortungsvolle Entscheide treffen können. Es sind aber in solchen Studien zwingend immer auch Fachleute involviert, Instanzen wie etwa die Ethikkommissionen. Sie begleiten unsere Arbeit, und darüber sind wir sehr froh.
Ist Ihnen persönlich wichtig, ob Ihre Arbeit für die Gesellschaft sinnvoll ist?
Das ist es, doch. Als Grundlagenforscher ist das manchmal auch nicht ganz einfach, weil man erst viele Jahre später sieht, welchen Beitrag man leistet. Da hilft es oft, sich die Arbeit der erfahrenen Professoren anzuschauen und festzustellen, welche Wirkung sie langfristig eben doch oft hatte. Das muss man sich immer mal wieder vor Augen führen.
Welche Rahmenbedingungen sind für Sie als Wissenschafter wichtig, damit Sie gute Arbeit leisten können?
Die Schweiz schafft sehr gute Rahmenbedingungen. Es ist hier so, dass man den Spitzenforschern die Entscheidung überlässt, wie sie ihre Mittel investieren wollen. Das ist enorm wichtig für die Forschung. In manchen Staaten werden von oben Projekte vorgegeben, die möglichst zu rentieren haben; das bremst die Wissenschaft sehr. Gleichzeitig hat die Schweiz zusätzlich den Nationalfonds, der spezifisch bestimmte Projekte unterstützt und so Akzente setzt. Das sind wirklich hervorragende Rahmenbedingungen.
Zum Schluss: Wo geht die Reise hin? Was erwarten Sie in den nächsten Jahren?
Es zeichnet sich ab, dass die Erkenntnisse zunehmend zu neuen Behandlungsmöglichkeiten führen, also den Patienten zugute kommen. Da hoffen wir natürlich, dass das weiter zunimmt. Dann natürlich grundsätzliche Dinge – dass die Sequenziertechnologie weiter verbessert wird, dass die Fehleranteile zurückgehen, dass sich die Software stabilisiert. Da bewegt sich im Moment noch sehr viel; es gibt noch keinen Standard.
Vielen Dank, Herr Thurnherr, für das Gespräch. Sie haben das hervorragend erklärt.
Da bin ich froh.
Thomas Thurnherr führt uns durch das Labyrinth der Gänge hinaus ins Freie. Wir gehen den Tramlinien entlang in Richtung Bahnhof Basel. Die Sonne scheint jetzt noch stärker, und die Schweiz fühlt sich ganz abenteuerlich an. Manche Menschen in diesem Land, auch wenn sie das selber wohl nie so sagen würden, verändern tatsächlich ein wenig die Welt.
Redaktionelle Mitarbeit: Gregor Szyndler