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Demokratie will gelernt sein
Stefanie Bosshard, zvg.

Demokratie will gelernt sein

Zahlreiche junge Menschen sind politisch interessiert. Sie schätzen die Qualität der politischen Bildung an Schulen jedoch oft als mangelhaft ein.

 

Das «Ende der konsensualen Schweiz», die «kaputte Schweizer Debattenkultur», die «Krise der Demokratie»: Das sind ­Szenarien, die in den letzten Monaten in den Schweizer Medien beklagt wurden.1 Wie so oft wächst das Interesse an Alltäglichem und scheinbar Selbstverständlichem erst, wenn es bedroht ist. Statt schwarzzumalen sollten wir jedoch nach Lösungen suchen. Wir sollten schätzen, was wir in der Schweiz am direktdemokra­tischen Milizsystem haben. Wir sollten uns darum kümmern, wie wir demokratische Werte weitergeben, sie pflegen, und Wege ­finden, wie wir unsere demokratische Diskussionskultur erhalten können. Kurz: Wir sollten uns um die politische Bildung der künftigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger kümmern.

Politische Bildung zielt darauf ab, systematische Kenntnisse über das eigene politische System zu vermitteln und die Fähigkeit zum politischen Handeln zu stärken. Sie umfasst Analysekompetenzen zum Erkennen von Strukturen, Prozessen und politischen Sachverhalten. Es geht dabei um Methodenkompetenzen, die befähigen, Sachverhalte zu erklären, Aussagen kritisch zu beur­teilen, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese auch zu vertreten. Die politische Bildung umfasst Handlungskompetenzen, die es erlauben, sich politisch durchzusetzen und gegebenenfalls Kompromisse zu schliessen. Diese demokratischen Kompetenzen können parteipolitisch neutral vermittelt werden. Sie zielen ­darauf ab, Interesse zu wecken und künftige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger über ihre Rechte und Pflichten zu unterrichten.

Über politische Bildung werden Schülerinnen und Schülern Grundwerte der Schweizer Demokratie vermittelt. Sie spielt eine entscheidende Rolle in der Ausbildung des Nachwuchses für das direktdemokratische Milizsystem und das Verständnis für eine demokratische Diskussionskultur. Der easyvote-Politikmonitor, den das gfs.bern jährlich im Auftrag des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente (DSJ) durchführt, zeigt auf, dass die Schule für Jugendliche und junge Erwachsene der wichtigste Informationskanal zu politischen Aktualitäten ist.2

Wie steht es also um die politische Bildung in Schweizer Schulen? Vor rund 20 Jahren stellte Moritz Arnet, damaliger Generalsekretär der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), fest: «Das ­Paradox, dass sich der Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger am intensivsten engagiert, mit der politischen Bildung am schwersten tut, ist nicht neu.» 3 Der politische Unterricht wurde als «eher unbefriedigend, eher oberflächlich, eher idealisierend, eher wenig partizipativ und eher wenig kompetent»4  eingeschätzt. Hat sich etwas verändert? Nicht wirklich. In einer internationalen Vergleichsstudie aus dem Jahr 2009 schnitten Schweizer Schülerinnen und Schüler im Bereich politische Bildung schlecht ab.5 Dies war bereits so, als die Studie zehn Jahre zuvor ein erstes Mal durchgeführt wurde.6 Seit 2016 macht die Schweiz nicht mehr bei der Studie mit. Die Schweizer Schülerinnen und Schüler mögen bei diesen Untersuchungen schlecht abgeschnitten haben, der ­easyvote-Politikmonitor 2020 zeigt jedoch: Schülerinnen und Schüler messen der politischen Bildung eine immer wichtigere ­Bedeutung zu. 2014 fanden zwei Drittel der Befragten politische Bildung wichtig. 2020 waren es bereits fast drei Viertel, die der politischen Bildung eine sehr oder eher wichtige Bedeutung beimassen. Frappant: 2020 stellte gleichzeitig die Hälfte der Schülerinnen und Schüler fest, in der politischen Bildung gar nichts oder eher wenig gelernt zu haben. 2014 war noch eine Mehrheit der Ansicht, wenigstens eher oder sogar sehr viel gelernt zu haben.7

Allzu trocken und isoliert

Woran kann das liegen? Vermutlich an einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Die Verankerung der politischen Bildung in Schweizer Schulen scheint unbefriedigend. Auf keiner Schulstufe ist ein spezifisches Fach dafür vorgesehen. Dies ist mit dem grundsätzlich positiven Gedanken verbunden, politische Bildung nicht allzu trocken und isoliert zu unterrichten. Trotzdem führt dies unbeabsichtigt wohl zu einer verwässerten politischen Bildung. Die Verwässerung entsteht auch, weil auf dem Weg von Rahmenlehrplänen in Schullehrpläne und hinein ins Klassenzimmer relevante Bildungsziele teilweise verlorengehen. Studien verweisen auf die grossen Unterschiede bei der Verankerung wichtiger politikrelevanter Inhalte in den übergeordneten Fächern wie ­Geschichte oder im allgemeinbildenden Unterricht (ABU) auf der Sekundarstufe II, insbesondere im Hinblick auf Sprachregionen und Schultypen. Auf dieser Stufe findet beispielsweise der Aspekt des Interessenweckens kaum Eingang in Lehrpläne und Unterricht, was aber besonders wichtig wäre, weil die Schülerinnen und Schüler während dieser Zeit die politische Vollmündigkeit erreichen.8

«Auf eidgenössischer Ebene steht bis heute keinerlei Gefäss zur

Förderung von schulischer politischer Bildung zur Verfügung.

Die Kantone wiederum verweisen auf den Bund als möglichen

zentralen Förderer politischer Bildung.»

Wichtig zu berücksichtigen ist auch die Rolle der Lehrpersonen bei der Vermittlung von politischer Bildung. Mehr als ein Drittel erachtet Lehrpläne als unwichtig bei der Vorbereitung des Unterrichts.9 Viel hängt somit vom persönlichen Engagement der Lehrpersonen ab. Diese zeigen sich in Gesprächen jedoch häufig ratlos oder überfordert bei Fragen nach einer optimalen politischen Bildung. Zu heikel sei das Thema, zu angreifbar machten sie sich bei Fehltritten im Unterricht, zu wenige Mittel würden ihnen zur Verfügung gestellt, um sich sicher zu fühlen bei der Vermittlung. Darüber hinaus finden viele Lehrpersonen, dass ihnen zu wenig Vorwissen in ihrer Ausbildung mitgegeben wurde.

Ein Blick in kantonale und eidgenössische Parlamentsarchive zeigt: Die politische Bildung und ihre Herausforderungen werden immer wieder thematisiert. Der politische Wille zur konkreten Aufwertung dieses Bildungsbereichs ist jedoch beschränkt, vermutlich auch, weil sich die verschiedenen Akteurinnen und Akteure der föderalen Ebenen nicht gegenseitig auf die Füsse treten wollen.

Zurückhaltend, wo Politik draufsteht

Stattdessen schieben sich die Behörden und weitere Akteurinnen und Akteure im Zuständigkeitsbereich gerne gegenseitig die Verantwortung zu, sobald sie auf ihre Möglichkeiten zur Unterstützung der politischen Bildung angesprochen werden: Der Bund verweist auf die Zuständigkeit der Kantone im Bildungs­bereich und auf das Subsidiaritätsprinzip. Auf eidgenössischer Ebene steht bis heute keinerlei Gefäss zur Förderung von schulischer politischer Bildung zur Verfügung. Die Kantone wiederum verweisen auf den Bund als möglichen zentralen Förderer von ­politischer Bildung. In den gemeinsamen bildungspolitischen Zielen von Bund und Kantonen ist die politische Bildung seit 2019 gar nicht mehr als eigenständige Zielsetzung definiert.10 Stiftungen und privatwirtschaftliche Förderpartnerinnen und -partner, von deren Offenheit und finanziellen Unterstützung nichtstaatliche Organisationen im Bereich der politischen Bildung schliesslich abhängig sind, verweisen auf die Verantwortung des Staates in Sachen Bildung. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Förderpartnerinnen und -partner grundsätzlich bei allem zurückhaltend sind, wo Politik draufsteht. Ein gemeinsames Verständnis einer parteipolitisch neutral vermittelten politischen Bildung fehlt unter den Akteurinnen und Akteuren.

Diese Faktoren tragen mit dazu bei, dass achtzehnjährige Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aller Bildungshintergründe gerne mal schulterzuckend meinen, sie wären schon interessiert zu partizipieren, sie wüssten aber nicht wie. Möglicherweise trägt dies dazu bei, dass sich junge Menschen Möglichkeiten zur politischen Partizipation ausserhalb des formalen direktdemokratischen Milizsystems der Schweiz suchen. Dagegen spricht nichts, unterschiedlich gelebte Formen der Partizipation sind grundsätzlich positiv. Es wird dann zum Problem, wenn sich jene Menschen, die nicht über die Ressourcen verfügen, sich selbst zu informieren, übergangen fühlen, deswegen zuerst die Faust im Sack machen und schliesslich die Polarisierung der Gesellschaft verschärfen.

Die Schweiz verpflichtet sich per Bundesverfassung, die ­Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung hin zu sozial verantwortlichen Personen zu fördern und sie in ihrer sozialen, k­ultu­rellen und politischen Integration zu unterstützen.11 Für Bildungspolitikerinnen und -politiker, Behörden und Lehrpersonen wird es nun Zeit, diese Verantwortung wahrzunehmen und gemeinsam nach mutigen Lösungen zu suchen. An erster Stelle gilt es ein gemeinsames Verständnis von politischer Bildung zu schaffen. Weg von der abschreckenden Vorstellung eines tenden­ziösen, politisch gefärbten Unterrichts und hin zum Verständnis von politischer Bildung als parteipolitisch neutraler Vermittlung von demokratischen Kompetenzen, die in der Praxis erprobt und weiterentwickelt werden können. Ein Fokus sollte auf die Ausbildung der Lehrpersonen gerichtet werden. Dass Lehrpersonen aller Bildungsstufen befähigt werden, politische Bildung vermitteln zu können, wird gerade in Anbetracht des tendenziell sinkenden Stimmrechtsalters auf sechzehn Jahre entscheidend. Politische Bildung soll klarer und verbindlicher im Unterricht verankert werden. Dabei gibt es verschiedene Lösungen. Ein Fach politische Bildung, wie dies verschiedene Kantone gegenwärtig prüfen oder bereits umsetzen, ist nicht der einzige Ansatz. Auch verbindliche Projektwochen, Studienreisen und Zusammenarbeiten mit Organisationen, die praxisorientierte Bildungsprogramme anbieten, sind Schritte in die richtige Richtung. Bund und Kantone sollten ein gemeinsames Gefäss identifizieren oder schaffen, das koordinierte bildungspolitische Prozesse und gemeinsame Lösungen möglich macht. Ein solches Gefäss kann auch die Unterstützung jener Organisationen und Programme erleichtern, die sich heute anstelle des Staates um eine adäquate ­politische Bildung für die junge Generation kümmern. Kaum ein anderes Land bietet so viele Gelegenheiten wie die Schweiz, Politik erleb- und erlernbar zu machen – nutzen wir diese!

  1. Bspw. Loser, Philipp; Zürcher, Christian; Häne, Stefan (20.05.2021): «Schon ­wieder drehen alle durch», Redaktion Tamedia.

  2. gfs.bern im Auftrag des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente (2021): ­easyvote-Politikmonitor 2020.

  3. Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) (2000): Politische Bildung in der Schweiz – Schlussbericht.

  4. Ebd.

  5. International Civic and Citizenship Education Study (ICCS), 2009.

  6. IEA Civic Education Study conducted in 1999.

  7. gfs.bern im Auftrag des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente (2021): ­easyvote-Politikmonitor 2020.

  8. Stadelmann, Koller, Sulzer (2015): Politische Bildung auf Sekundarstufe II. Eine Bilanz. Expertenbericht im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, ­Forschung und Innovation SBFI.

  9. Ebd.

  10. SBFI und EDK (2019): Erklärung 2019 zu den gemeinsamen bildungspolitischen Zielen für den Bildungsraum Schweiz.

  11. Art. 41, Abs. 1g Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

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