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Demokratie, Technik und Experten

Kirsten Mensch & Jan C. Schmidt (Hrsg.): Technik und Demokratie.
Opladen: leske + budrich, 2003

Alexander Bogner & Helge Torgersen (Hrsg.): Wozu Experten?
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005

Sachbuch

Kirsten Mensch & Jan C. Schmidt (Hrsg.)

Technik und Demokratie

Opladen: leske + budrich, 2003

Alexander Bogner & Helge Torgersen (Hrsg.)

Wozu Experten?

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005

Gemäss dem (notabene lesenswerten) EU-Weissbuch «Europäisches Regieren» von 2001 ist «das Vertrauen der Öffentlichkeit in die expertengestützte Politikgestaltung erschüttert». Dennoch ist wissenschaftliche Expertise nach wie vor die wichtig-

ste Ressource für die Politik, wenn es um riskante und kontroverse Entscheidungen geht. Widersprüchliche Expertenmeinungen und der oft unklare Stellenwert von Expertisen in der Entscheidungsfindung lassen wissenschaftliche Politikberatung aber selbst zum Politikum werden. Die juristisch-bürokratisch einwandfreie Antwort der EU-Kommission ist denn auch, dass die Konsultation von Expertenwissen nach einem etablierten und allgemein zugänglichen Leitfaden erfolge. Zweifel über die Konsensfähigkeit der wissenschaftlichen und technologischen Zukunftsgestaltung und die Frage nach deren demokratischer Signatur bleiben dennoch bestehen.

Beide der hier zu besprechenden Werke loten auf vielfältige Weise dieses gemeinhin unter dem Kürzel «Expertokratie» stehende Spannungsfeld aus. Der Band «Technik und Demokratie» ist aus einer im Jahr 2002 interdisziplinär ausgerichteten öffentlichen Ringvorlesung der Schader-Stiftung und der TU Darmstadt hervorgegangen. Die Auffassungen der im Band versammelten Autoren reichen von «technologischem Determinismus», also einem evolutionären Dominanzmodell der Wissenschaft und ihrer Experten, bis zu einem Gestaltungsmodell der Wissenschaft durch Politik und Gesellschaft.

Politik und Demokratie sind nach dem «technologischen Determinismus» reaktiv, passiv-resignativ. Da sie auch limitierend und bremsend sind, werden sie von der Wissenschaft als störend empfunden. An diesem Modell wird mangelnde Demokratieverträglichkeit moniert, also die Verletzung des Anspruches, dass diejenigen, die Entscheidungen und Normen unterworfen sind, ihnen auch zustimmen müssen (Heidrun Abromeit). Ebenso ist dieses Modell dem Vorwurf einer eigentlichen Moralfremdheit ausgesetzt, und dagegen wird die Forderung nach einer eigentlichen «Moralisierung» von Wissenschaft(spolitik) als einem notwendigen gesellschaftlichen Prozess erhoben (Gernot Böhme).

Bei dem Gestaltungsmodell der Wissenschaft durch Politik und Gesellschaft wird die Wissenschaft durch die Politik gesteuert. Dabei stehen vielfältige In-strumente und Gestaltungsperspektiven zur Verfügung: system- oder handlungstheoretische, lokale oder globale, partizipative oder zentrale. Die Herausgeber ergänzen diese um die Forderung nach Demokratiefähigkeit von Wissenschaft und Technik. Sie deuten damit einen Transformationsprozess an, der den skizzierten Dualismus überwinden und eine grundlegende gesellschaftliche Reflexion vor allem über die wissenschaftlichen Zukunftsvisionen und ?konzepte initiieren soll, die potentiell unumkehrbar sind. Die traditionelle Unterscheidung in Grundlagen- und angewandte Forschung wird als illusionär verworfen, und die Technikgestaltung findet pluralistisch und facettenreich auf unterschiedlichen politischen Ebenen statt.

Die Mehrheit der Autoren neigt denn auch dazu, die Wissenschaft nicht einer urwüchsigen Eigendynamik zu überlassen, die es via Mittelzusprache optimal zu fördern gilt. Stattdessen werden alternative «Pfadwahlen» in der Wissenschaft po­stuliert und der Demokratie – und in der repräsentativen Form Deutschlands vor allem dem Parlament – Entscheidungen darüber zugetraut. Ethikräte oder Gremien zur Technologiefolgenabschätzung bilden Kontrollinstanzen von oben und vermitteln Orientierungswissen. Ergänzend werden Partizipationsformen der Zivil- und Bürgergesellschaft, gewissermassen von unten, gefordert. Die Politik hat mithin allgemein unabhängige, über eng gefasstes Fachwissen hinausgehende Kompetenz, Transparenz und öffentliche Debatte zu schaffen.

Auch die Publikation «Wozu Experten?» bietet einen Überblick über theo-

retische Ansätze und praktische Forschungsfelder sozialwissenschaftlicher Expertiseforschung. Sie vertieft die so­zialwissenschaftliche Reflexion zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Die beiden Extrempositionen der Autonomie lassen sich, idealtypisch und natürlich kontrafaktisch, leicht radikalisieren: hier die allein auf Wahrheitssuche erpichte und von Erkenntnisneugier geleitete Elfenbeinturm-Wissenschaft, die ihre Hände nicht mit Macht und Politik schmutzig machen will und unumgehbare «Sachgesetzlichkeiten» (H. Schelsky) generiert, da die auf alleinige Entscheidungskompetenz pochende Politik, also der in politischer Auslese gewählte Führer. Genannt wird für diese Position – der Trennung von Beratung und Entscheidung – richtigerweise Max Weber, doch findet sich das Thema bei Aristoteles über Hobbes bis hin zum Kritischen Rationalismus.

Die Realität liegt zwischen diesen beiden Extrempositionen: zur Expertise gefragt und am Markt führend werden nicht Elfenbeinturmwissenschafter oder Nobelpreisträger, sondern Wissenschaftsberatungsfirmen. Ausserdem kann und will es sich heutzutage kein Politiker leisten, wirklich autonom und unter expliziter Inanspruchnahme von Verantwortung für die (absehbaren) Folgen seines Handelns zu entscheiden. In dieser Gemengelage von essentiellem Nichtwissen, Unsicherheit und Risikoaversion explodieren Beratungsformen, Infragestellungen von Expertisen durch Gegenexpertisen und vielfältige institutionelle Lösungen, aber auch, wie eigene Erfahrung zeigt, beträchtliche Qualitätsunterschiede, sowohl bei der externen Beratung wie bei der internen politischen Entscheidungsfindung. Die Politikberatung wird daher als Kristallisationspunkt eines sich wandelnden Verhältnisses von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik eingehend thematisiert.

Neben gesellschaftstheoretischen Zu-

gängen werden empirische und international vergleichende Fallstudien zu aktuellen Umwelt- und Technikkonflikten vorgestellt und im Hinblick auf praktische Perspektiven der Politikberatung diskutiert. Zu nennen sind hier Gentechnik, BSE und Stammzellenforschung (während die Beispiele in Mensch/Schmidt sich auch an klassischen technologischen Fragestellungen, vor allem der Kernenergie, orientieren).

Eine Reihe von Beiträgen ist dem interkulturellen Vergleich der wissenschaftlichen Politikberatung in den USA und Europa gewidmet. Die Interaktionsstruktur in den USA sei stärker von Rationalität und Trennung, aber auch Konkurrenz und Formalisierung der Verfahren geprägt, während Österreich eher zum Überschreiten der Funktionssystemgrenzen, zu Aushandlung und Instrumentalisierung der Wissenschaft neige. In Europa insgesamt seien stärkere Abschottung der Wissenschaft und zunehmende Glaubwürdigkeitsdefizite in der Öffentlichkeit festzustellen.

Vor allem im Beitrag von Helmut Willke wird das Thema «Wissenschaft in der Wissensgesellschaft» systemtheoretisch behandelt. Willke nimmt Abschied von einem Dominanz- und Hierarchie-

konzept, in dem Politik die anderen Subsysteme der Gesellschaft autoritativ steuern könne und misst ihr vor allem eine Moderations- und Supervisionsfunktion zu; sie wird zur «kommunikativen Ordnung der Wissensgesellschaft». Dies ist das Resultat eines grundlegenden funktionalen Differenzierungsprozesses, der aber unter anderem auch Demokratie in jenem Sinne zur Folge hat, dass niemand grundsätzlich aus dem kollektiven Willensbildungsprozess ausgeschlossen werden kann.

Im Ergebnis ist die Wissensgesellschaft so stark von wissensabhängigen Operationen durchdrungen, dass Informationsverarbeitung, symbolische Analyse und Expertensysteme gegenüber

anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden. Das bedeutet gerade nicht Expertokratie, sondern Heterotopie und Diversität. Viel wichtiger wird angesichts des Problems verteilter Intelligenz und weit verstreuter Expertise die Frage, wie wir von Experten mit individueller Expertise über die Konstitution von organisationalem Wissen und Plänen zu systemischer Expertise in intelligenten Organisationen gelangen.

Internet, Wikipedia und frei zugängliche Datenbanken führen dazu, dass eine massenmedial geleitete, mit hohen Grundkosten verbundene und in den Händen einiger weniger Grossverleger befindliche Öffentlichkeit zunehmend von einer «networked public sphere» durch- und vielleicht gar einmal ersetzt wird. Sollten sich die im Open-Access-Verfahren von der «Public Library of Science» und von Zeitschriften wie «Nature« begonnene öffentliche Begutachtung von wissenschaftlichen Artikeln vor deren Publikation durchsetzen, wäre auf genial kurzem Wege Entscheidendes für Demokratie und Transparenz in der Wissenschaft gewonnen.

besprochen von Daniel Brühlmeier. Der promovierte Politikwissenschafter ist Leiter der Abteilung « Koordination der Aussenbeziehungen» der Staatskanzlei des Kantons Zürich.

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