Demokratie – kein Dogma
«Demokratie, das ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen. Freiheit, das ist, wenn das Schaf bewaffnet ist und die Abstimmung anficht.» Dieser Aphorismus stammt von Benjamin Franklin, der gewiss kein Antidemokrat war, aber ein Freund der Freiheit mit viel Menschenkenntnis und mit grosser politischer Erfahrung im Umgang mit Unabhängigkeit, Föderalismus […]
«Demokratie, das ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen. Freiheit, das ist, wenn das Schaf bewaffnet ist und die Abstimmung anficht.» Dieser Aphorismus stammt von Benjamin Franklin, der gewiss kein Antidemokrat war, aber ein Freund der Freiheit mit viel Menschenkenntnis und mit grosser politischer Erfahrung im Umgang mit Unabhängigkeit, Föderalismus und Minderheitenschutz. Der Satz gehört ins Stammbuch all jener, die die Krankheit des bürokratischen Zentralismus in der EU durch mehr Demokratie kurieren wollen und es eine gute Sache finden, wenn in Zukunft von der Zentrale aus auch über die Bewaffnung verfügt wird. Franklin sagt mehr über das Spannungsfeld zwischen Mitbestimmung und Selbstbestimmung aus als Churchill mit seinem (als Zitat schon fast zum Dogma gewordenen) resignierten Zugeständnis, Demokratie sei die schlechteste aller Regierungsformen, mit Ausnahme aller anderen, die man bisher im Lauf der Zeit ausprobiert habe.
Dass demokratische Mitbestimmung der totalitären Fremdherrschaft vorzuziehen ist, können all jene bezeugen, die ein Opfer kollektivistischer Zwangsregime waren. Wer aber die Wahl hat zwischen Selbstbestimmung und Mitbestimmung, sollte nicht zögern, sich für Selbstbestimmung zu entscheiden, obwohl damit die Unbequemlichkeit verbunden ist, auch für die Folgen des Selbstbestimmten zu haften. In einer komplexen, zunehmend vernetzten Gesellschaft gibt es allerdings eine Anzahl von Problemen, die alle betreffen und über deren Lösung daher auch alle mitbestimmen sollten. Vermutlich wird dieser kollektive Problemlösungsbedarf aber tendenziell überschätzt. Er wird auch künstlich ausgeweitet, weil immer mehr Angelegenheiten durch generell-abstrakte Regeln zur kollektiven Sache (res publica) gemacht werden, die man ebenso gut oder besser durch zivilgesellschaftlichen Konsens gemeinsam beweglich regeln könnte.
Die Antwort auf die Frage, ob die Demokratie tatsächlich die Staatsform der Zukunft sei, hängt eng damit zusammen, ob es gelingt, jenen notwendigen Bereich kollektiver Entscheidungsfindung so eng und so präzis wie möglich zu definieren. Er ist von allen übrigen Bereichen abzukoppeln, bei denen andere Formen der Entscheidungsfindung befriedigender, vernünftiger, effizienter und anpassungsfähiger sind. Demokratie braucht Grenzen, grundsätzliche, räumliche, sach- und problembezogene, und da das Mehrheitsprinzip notgedrungen Minderheiten schafft, darf nie vergessen werden, dass die über das Ausmass von Freiheit entscheidende Minderheit das Individuum ist, von dessen Phantasie und kreativer Dissidenz das Überleben und der Fortschritt in der Zivilgesellschaft mehr abhängt als von der Mehrheit aller Opportunisten.