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«Demokratie ist Krise»

Von optimistischen wie pessimistischen Fatalisten hält David Runciman nichts: Europa, so glaubt er, wird weder auseinanderbrechen noch in einem Superstaat aufgehen. Amüsante Krisensitzung mit einem Politikwissenschafter aus Cambridge.

«Demokratie ist Krise»
David Runciman, photographiert von Giorgio von Arb.

Herr Runciman, wir treffen uns zum Krisengespräch…

Das kenne ich! Meine Frau beginnt mit diesen Worten manches gemeinsame Abendessen. (lacht)

Sie sagen es: das Wort «Krise» lässt sich aus mancher Beziehung wie auch aus dem öffentlichen Diskurs kaum mehr wegdenken. Finanzkrisen, Politkrisen, Klimakrisen – immer öfter wird mit dem Blick auf die EU und Europa von einer Krise der Demokratie gesprochen. Wie kam es zu dieser «Kriseninflation»?

«Krisen», das waren ja bisher historische Einschnitte wie die Grosse Depression, der Zweite Weltkrieg, die Öl- oder Kubakrise. Neuerdings wird das Wort medial häufiger verwendet – weil es sich gut eignet, um Leser beziehungsweise Konsumenten anzulocken. Als Politikwissenschafter füge ich aber hinzu: Streng genommen besteht eine funktionierende Demokratie aus lauter kleinen Krisen.

Die Krise ist also der demokratische Normalzustand?

Ja. Schauen Sie sich die modernen Demokratien an, und suchen Sie sich aus den letzten 100 Jahren ein beliebiges Jahr aus – Sie werden feststellen, dass es stets demokratische Krisensituationen gab, selbst in einem «grossen Jahr der Demokratie» wie 1989. Und das ist auch eigentlich nichts Verwunderliches, denn Demokratien leben vom Dissens, von der Diskussion und dem Austausch von Meinungen – und von auf diesem Wege gemeinsam zu treffenden Entscheidungen. Das griechische Wort «krísis» meint ja auch genau das: entscheidende Wendung. Wer also meint, dass die «Krise der Demokratie» – etwa in der EU – ein Phänomen der letzten sechs Jahre sei, irrt. Demokratie ist Krise.

Zugestanden. Ein immer grösserer Prozentsatz der Bewohner verschiedener Demokratien fühlt sich in ihren Staaten nicht mehr repräsentiert, geht gar nicht mehr zur Wahl. Das ist sehr wohl neu, oder nicht?

Ja, tatsächlich, es gibt diese aktuelle Krise des Vertrauens in die Politik. Aber ich muss Sie bremsen: Auch sie ist kein neues Phänomen. Meine Untersuchungen zeigen: Derartige Vertrauenskrisen tauchen seit Jahrhunderten etwa im Abstand von 40 Jahren auf, wobei der Erste und der Zweite Weltkrieg zwar dazuzurechnen sind, aber eigentlich «Katastrophen» waren. Diese regelmässig wiederkehrenden Vertrauenskrisen gehen stets einher mit wirtschaftlichen Krisen. Denn Sie wissen ja: Wenn der eigene Wohlstand plötzlich bedroht ist, so wird selbst der trägste Wähler hellhörig und schaut genauer hin, was seine Politiker «da oben» machen. An so einem Punkt finden sich die Europäer oder auch die Briten heute wieder: sie sind hellhörig geworden…

 …und machen auch den Mund auf, gehen also auf die Strasse.

Das ist das wirklich Neue an der Situation! So oft wie in den Jahren 2011, 2012 und 2013 hat man das selten gesehen. Das liegt daran, dass wir sehr wohl die bedeutendste Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte durchleben – die Reaktion von Teilen der westlichen Gesellschaften ist deshalb auch heftiger als in den Krisen zuvor. Der Wohlstand, in dem nun bereits mehrere Generationen in Frieden leben konnten, zumindest was die USA und Europa angeht, ist stärker bedroht als zu früheren Zeiten. Wir sehen nun, dass ökonomische Einbrüche so plötzlich und unabsehbar auf-treten können, dass mithin gleich nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politischer und sozialer Notstand herrscht.

Konkreter?

Ganz konkret: die Zyprioten lesen morgens beim Kaffee in der Zeitung, dass es ihnen verboten wird, nach dem Mittagessen eine grössere Summe Geld vom Bankautomaten zu holen – weil die Bank pleite ist und man seitens der Politik einen grösseren Bankrun verhindern will. Sie haben hier als zypriotischer Kunde keine Chance, rechtzeitig und «richtig» zu handeln. Und auch als Politiker sind Sie machtlos, wenn Sie Schlimmeres verhindern wollen. Ausgeliefert. Dieses Gefühl ist für viele Zeitgenossen neu.

Moment. Finanzkrisen und Bankenpleiten hat es stets gegeben, etwa die Tulpenkrise von 1637 oder die Pleite von Bern im Jahr 1720. Was soll daran neu sein?

Das sind zwei prominente historische Beispiele –  sie fanden statt, weil die jeweiligen Akteure schlecht, in diesen Fällen monokulturell, wirtschafteten. Aber: in unserem globalen Finanzsystem muss das gar nicht mehr der Fall sein, um pleitezugehen. Man kann auch einfach Pech haben, weil man nicht jedes Finanzprodukt bis ins Letzte durchleuchten kann, sondern auf die Warner bei den Ratingagenturen angewiesen ist. Dieses Vertrauen ist trügerisch, wie man in den letzten Jahren gesehen hat. Und wir Konsumenten? Wir haben uns trotzdem an eine vermeintliche «Stabilität» gewöhnt. Wir sagen uns, Demokratie und Kapitalismus bedeutet doch eigentlich: du hast immer eine Wahl. Eine in der Politik und eine auf dem Markt. Doch so schnell, wie heute Geld geschaffen und vernichtet wird, kann von der individuellen wie politischen Option auf rechtzeitiges Handeln keine Rede sein! Das sorgt für eine diffuse Angst unter den Politikern wie unter den Bürgern. Das kann sehr gefährlich werden, denn genau in solchen Zeiten schlägt die Stunde der Populisten.

Das konnte man in den vergangenen Jahren an der Entwicklung der EU und ihren Mitgliedsstaaten schön studieren: linker und rechter Populismus allerorten – Wähleranteil: steigend. Wie kann man das System EU an dieser Stelle konkret verbessern?

Bezüglich der EU sprechen immer mehr Kollegen von der Notwendigkeit eines «europäischen Moments» – also einer gleichzeitigen Wahl in allen Nationalstaaten des Kontinents. Die Idee ist reizvoll – vor allem auch, weil das dafür sorgen würde, dass sich nationale Parteien international abstimmen und gemeinsam Politik machen. So wären Allianzen denkbar, die beispielsweise stumpfem Nationalismus, der billigsten Form des etatistischen Populismus, den Riegel vorschieben. Nationale Ausrufezeichen des Protests würden dann bestenfalls durch diplomatische Anstrengungen ersetzt.

Pardon, aber wie wollen Sie denn 17 nationale Regierungen dazu bringen, sich auf einen Wahltag zu einigen, den sämtliche Regierungsmitglieder nicht gerade herbeisehnen dürften?

Sie sagen es: Die Idee ist noch utopisch, aber schön. (lacht)

Muss denn die «demokratische Krise» noch dramatischer werden, um zumindest Ansätze solcher Reformen zu ermöglichen?

Der Mythos der reinigenden Superkrise! Auf diesen Vorschlag habe ich gewartet – es scheint gerade in Mode zu sein, darauf zu hoffen. Bisher konnte mir aber noch niemand von all denen, die auf die Superkrise und «den grossen Knall» warten, sagen, auf was sie da eigentlich «hoffen». Auf die völlige Verarmung? Auf einen Krieg? Ich bitte Sie – wer auf so etwas hofft, hat nie eine «Superkrise», eine Katastrophe also, mitgemacht. Das ist bloss noch zynisch, nein: dumm. Denn niemand kann voraussagen, was passiert, wenn der Karren an die Wand fährt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das «reinigende Gewitter» nicht zu einem «Perfect Storm» wird. Ich behaupte: Die fatalistischen Pessimisten, die Unvorstellbares herbeisehnen, bloss weil sie den Status quo nicht aushalten oder für eine Einbahnstrasse halten, sind schlechte Berater. Das waren sie historisch übrigens schon immer – und wurden nicht selten noch zu Lebzeiten eines schrecklichen Besseren belehrt.

Was ist mit optimistischen Fatalisten? Also mit denen, die sagen: Am Ende kommt es schon gut.

Das ist doch der «Schweizer Weg», nicht? Einfach aussitzen. (lacht) Nun: Beide, die pessimistischen und die optimistischen
Fatalisten, liegen letztlich falsch, denke ich. Europa wird wegen dieser Krise nicht mehr auseinanderfallen, und es wird sich auch nicht wieder in seine dunkle Vergangenheit mit Gross- und Kleinkriegen und territorialen Besitzstreitigkeiten zurückentwickeln. Dazu ist der Freiheits- und Wohlstandsgewinn in den einzelnen Ländern seit den 1980ern zu dramatisch. Aber Europa wird auch nicht gänzlich in einem EU-Superstaat aufgehen, der seinen Sitz in Brüssel hat und von dort aus alles reguliert, was nicht niet- und nagelfest ist.

Als Engländer sollte Ihnen daran gelegen sein, über den Verbleib Englands in der EU selbst abstimmen zu dürfen – was halten Sie von David Camerons Plan?

Das Referendum wird häufig als das demokratischste Werkzeug der Politik beschrieben, richtig. Was wir aber in jüngerer Vergangenheit bei solchen Referenden jenseits der Schweiz gesehen haben, ist, dass Gesellschaften, die im Umgang damit nicht geschult sind, auch keine befriedigenden Ergebnisse damit erzielen. Nehmen Sie Irland: Die Menschen dort stimmten 2008 gegen den Vertrag von Lissabon. Danach gab es Tumulte, und die Wahl wurde 2009 wiederholt – diesmal mit anderem Ausgang. Hin und her – Angst und Einschüchterung vor der Wahl, Unzufriedenheit und Ungewissheit ist die Folge. Meinen Sie, eine solche Situation mache die Wähler zufriedener? Ich nicht.

Konkret: wie war das Echo der britischen Bevölkerung auf Camerons Vorstoss?

Viele meiner Landsleute, die eben nicht mit den Mitteln der direkten Demokratie vertraut sind, empfinden Camerons Vor-stoss als Hilflosigkeit, nicht als demokratischen Befreiungsschlag. Er macht übrigens einfach, was andere schon vor ihm machten: 1975 stimmten die Engländer schon einmal über die EWG-Mitgliedschaft ab. Damals war es die gespaltene Labour-Partei, die hoffte, sich mit dem Referendum aus dem Dreck ziehen zu können. Das gelang ihr nicht.

Viele Schweizer hegen ebenfalls ein gewaltiges Misstrauen gegenüber den gegenwärtigen, sich «demokratisch» nennenden Strukturen der EU. Haben sie unrecht?

Nein, sie liegen prinzipiell richtig. Zurzeit ist die EU nämlich keine demokratische Organisation. Das muss man leider so feststellen, denn unter demokratischer Kontrolle steht in Brüssel ja nur wenig. Natürlich gibt es Abstimmungen zum Europaparlament, und die Abstimmung ist ja immerhin ein genuin demokratisches Verfahren. Bloss nützt Ihnen die Abstimmung nichts, wenn diejenigen, die abstimmen, sich nicht für den Ausgang der Wahl interessieren oder gar nichts über das Verfahren wissen. Das ist aber heute der Fall. Kaum ein EU-Bürger glaubt, dass er mit seiner Europaparlamentswahl irgendetwas ändern wird. Sie dient ihm eher als Placebo, als Ventil vielleicht noch, um dem nationalpolitischen Unmut Ausdruck zu verleihen. Das reicht nicht, um sich mit der EU zu identifizieren.

Wie gelänge denn Ihrer Meinung nach eine Identifikation mit der EU? Nicht für die Schweizer, sondern zunächst für die knapp 507 Millionen EU-Bürger.

Die Königsdisziplin! Um sie alle mit dem Thema zu erreichen, ja sie zu bewegen, bräuchte es wohl europäische, nicht nationale Parteien und Wahlen. Und es bräuchte die Wahl für eine Art europäischen Präsidenten, damit die Menschen wissen, dass es auch tatsächlich um etwas geht. Ich glaube aber nicht, dass das in absehbarer Zeit passieren wird.

Wieso nicht?

Weil keine Nachfrage danach besteht. (lacht) Weder seitens der Bürger noch seitens sich im Amt befindlicher nationaler Politiker, die sich ja damit selbst ihr berufliches Grab schaufeln würden. Derzeit geht es eher in die andere Richtung: mehr Regionalisierung, mehr Föderalismus oder Separatismus. Es gibt innerhalb der EU eine Art Machtkampf zwischen den Föderalisten und den Antiföderalisten. Ähnlich vielleicht wie zu Zeiten der Gründung der USA. Und ich glaube, dass nicht wenige Leute in Brüssel Angst davor haben, dass die Mehrheit der Europäer einen Präsidenten wählen würde, der die EU mit seiner ersten Amtshandlung wieder auflöst. Irgendwann, so glaube ich, müssen sie sich aber dieser Angst stellen – denn ohne die Einbindung der Bürger ins Projekt EU wird dieses scheitern.

Um die Bürger einzubinden, braucht es, wie Sie richtig sagten, einen triftigen Grund, überhaupt abstimmen zu gehen. Einer der Pfeiler jeder demokratischen Motivation ist wohl, dass Politiker Wahlprogramme oder Vorlagen, denen zugestimmt wurde, dann auch umsetzen. Und gerade in Zeiten der Krise und der Unsicherheit ist Verlässlichkeit ein rares Gut, das gern missbraucht wird. Können wir Politikern vor einer Wahl überhaupt vertrauen?

Ja. Allerdings sollten wir das nicht allumfassend und naiv tun. Denn: Sie wählen auch bei Politikern oder Parteien, die sich klar positionieren, stets nur eine vage Richtung, denn die klare Position wird in den Mühlen der Demokratie stets noch verwässert. Das ist ein Gesetz der Sache. Deshalb sollten Sie auch nicht von einem Politiker verlangen, dass er stets die – ganze – Wahrheit sagt oder zwingend alles so umsetzt wie angekündigt. Diese Erwartung nenne ich «naiv», denn sie ist schlicht unrealistisch.

Moment. Wenn mir jemand oder eine Partei ein Versprechen gibt, alles zu tun, um diese oder jene Idee umzusetzen, dann soll ich das nicht als Versprechen, sondern als vage Andeutung verstehen? Ganz ehrlich: mein Vertrauen geniessen Leute, die mir keine leeren Versprechungen machen.

Sie vertrauen nur Leuten, die immer die Wahrheit sagen? Das glauben viele Menschen. Ich glaube, Sie liegen hier – wie die meisten Ihrer Denkgenossen – ziemlich falsch. Mehr noch: Sie machen sich etwas vor! Denn, pardon, schon unser zwischenmenschlicher Alltag widerlegt Sie: Sie sagen einfach nicht immer das, was Sie denken, Sie verheimlichen, Sie sparen die Wahrheit oft ganz
bewusst aus. Aus gutem Grund: Würden wir alle einander stets die Wahrheit sagen oder auch nur alle gegebenen Versprechen halten – die Welt wäre erstens sehr ungemütlich und zweitens ein einziger Zwang. (lacht) Wenn Sie nun etwa von einem Politiker –
meinetwegen per Gesetz – verlangen würden, nur noch die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, so würde dieser mit Sicherheit jede seiner Aussagen noch undeutlicher, noch weichgespülter gestalten, so nämlich, dass ihm nichts Gesetzeswidriges nachgewiesen werden kann. Er würde mehr noch als heute verheimlichen, vertuschen, im Hinterzimmer verhandeln.

Das ist nun kein Plädoyer für Lüge und Heuchelei, nehme ich an?

Nein. Mir ist sehr wohl bewusst, dass der Heuchler am untersten Ende der mitmenschlichen Beliebtheitsskala rangiert. Aber: wer die Scheinheiligkeit durch Verbote ausmerzen will, der bekommt nicht weniger davon, sondern mehr.

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