Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Demokratie ist kein  Selecta-Automat
Judith Bellaiche, fotografiert von Thomas Entzeroth.

Demokratie ist kein
Selecta-Automat

Die Volksrechte bedeuten eine besondere Verantwortung für die Schweizer Stimmbürger. Viele gehen allerdings leichtfertig damit um.

 

Es ist eine ungeheuerliche Last, die wir Schweizerinnen und Schweizer tragen. Quartalsweise fällen wir auf einigen Quadratzentimetern Recyclingpapier Entscheide, deren Tragweite in anderen Staaten nur der Regierung und ihrem gelehrten Ministerkabinett zugemutet wird. Manche Fragestellungen sind dermassen anspruchsvoll, dass sie für einen einzelnen zur Zerreissprobe führen können. Wir Schweizerinnen und Schweizer müssen schon mächtig viel Vertrauen in unsere Mitmenschen aufbringen, um ihnen das Schicksal dieser schwerwiegenden politischen Fragen in die Hände zu legen. Ganz besonders dann, wenn das Thema sie gar nicht direkt betrifft, sondern sie auf einer höheren Abstraktionsebene und quasi treuhänderisch über unser Land, unsere Volkswirtschaft und die künftigen Generationen bestimmen sollen. Nicht ohne Grund sind wir stolz auf unsere direkte Demokratie – aber hält sie wirklich, was wir uns davon versprechen? Und versprechen wir uns überhaupt das Richtige?

Rechtlich betrachtet gibt es keine Zweifel: Wichtige und zukunftsweisende Entscheide werden hierzulande basisdemokratisch gefällt. Die Kriterien für eine Volksabstimmung sind klar, und die Ausscheidung von Gewinnern und Verlierern ebenso. Rechnerisch hingegen ist die Sache wenig ausgeglichen. Zum einen kann ein kleiner Bruchteil – ein Hundertsechsundsiebzigstel der Bevölkerung – bestimmen, ob ein beliebiges Thema wichtig genug für eine Volksabstimmung ist. Zum anderen führt etwa die Kombination einer tiefen Stimmbeteiligung von 40 Prozent, wie sie gang und gäbe ist, und eines knappen Abstimmungsergebnisses regelmässig dazu, dass mickrige 15 Prozent der Gesamtbevölkerung Beschlüsse fassen, die von allen Einwohnerinnen und Einwohnern unseres Landes getragen respektive ertragen werden müssen. Wir sprechen in der Politik zwar gerne von Mehrheitsentscheiden, aber faktisch handelt es sich um Minderheitsentscheide. Es sollte uns beschäftigen, wie belastbar solche Entscheide langfristig sind und was das mit einer Demokratie tut, in der regelmässig – und rechtmässig! – eine Minderheit über eine Mehrheit entscheidet.

Bequeme Vermeidungsstrategie

Unser Recht auf direkte und regelmässige politische Mitbestimmung ist ein weltweit einzigartiges Privileg, um das uns viele Völker (nicht zu verwechseln mit Regierungen) beneiden. Wie also ist die Stimmabstinenz der Volksmehrheit zu erklären? Ist die weitverbreitete und beharrliche Passivität mit Gleichgültigkeit, Überdruss oder schlicht Ablehnung von Verantwortung zu erklären? Drei wichtige Gründe dürften zum Verbindlichkeitsverlust beitragen.

 

  1. Die schier unzumutbare Komplexität und Kumulation mancher Urnengänge: Beispielsweise war das mühselig erarbeitete CO2-Gesetz vergangenen Sommer mit vier weiteren nationalen Vorlagen gebündelt, die allesamt von grosser Bedeutung für unsere natürlichen Ressourcen, unsere Gesellschaft und unsere Grundrechte waren. Das Abstimmungsbüchlein umfasste sage und schreibe 144 Seiten. Solche demokratischen Geländekammern bleiben nur Menschen zugänglich, die gut gebildet sind und darüber hinaus über ausreichend Zeit für eine eigenständige Meinungsbildung verfügen. Verantwortung für einen Entscheid zu übernehmen, dessen Grundlagen man nicht versteht, will niemand. Wie anderswo auch führt Überforderung zu Vermeidungsstrategien. Die Verantwortung nicht wahrzunehmen kann eine wohltuende Alternative zur Auseinandersetzung mit komplexen Inhalten darstellen.

 

  1. Die direkte Betroffenheit: Fehlt sie, drängt sich kein unmittelbarer Grund auf, sich mit einer Abstimmungsfrage zu befassen. Zumindest vordergründig sind ja keine spürbaren Konsequenzen einer Zustimmung oder Ablehnung erkennbar. Dabei spielt die finanzielle Betroffenheit eine eminente Rolle – das sprichwörtlich empfindlichste Körperteil des Menschen ist ja das Portemonnaie. Beim CO2-Gesetz, das trotz breiter Trägerschaft aus der Wirtschaft abgelehnt wurde, waren viele schlicht nicht bereit, die Kosten für ihren CO2-Ausstoss zu tragen. Als Fazit wurde am Abstimmungssonntag festgehalten, dass zwar alle die Klimakrise bekämpfen wollen, dieser Kampf aber nichts kosten dürfe. Die Konzernverantwortungsinitiative da­gegen löste medial zwar einen der erbittertsten Abstimmungskämpfe der letzten Jahre aus – mit 47 Prozent blieb die Stimmbeteiligung aber überschaubar. Die Front bewegte sich zwischen Unternehmen und Menschenrechtsorganisationen, nicht in den eigenen vier Wänden. Ähnlich verhält es sich regelmässig bei Finanzvorlagen, die keine direkten positiven Auswirkungen auf den einzelnen haben, etwa bei Unternehmenssteuern. Ohne Verknüpfung mit einem persönlichen Vorteil scheinen solche Vorlagen heutzutage chancenlos zu sein. Ein kollektives Verantwortungsbewusstsein für «die Wirtschaft» oder «den Standort Schweiz» ist nicht mehr erkennbar.

«Ein kollektives Verantwortungsbewusstsein

für ‹die Wirtschaft› oder ‹den Standort Schweiz›

ist nicht mehr erkennbar.»

  1. Die Langfristigkeit: Politik sollte vorausschauend und wegweisend sein. Dazu gehört, dass die Erfüllung ihrer ­Versprechen oft erst Jahrzehnte später zu erwarten ist. Im Gegensatz dazu ist der Mensch getrieben von kurzfristigem Denken und sofortigem Nutzenvergleich – das Konzept des Belohnungsaufschubs hat dagegen einen schweren Stand. Besonders augenfällig wird das bei den Reformbemühungen der Alters- oder Berufsvorsorge. Jahrgänge, die rund 15 Jahre vor der Pensionierung stehen, sind von einer unbequemen Reform kaum zu überzeugen – auch wenn sie selbst Kinder haben und den Handlungsbedarf theoretisch anerkennen. Die Verantwortung für zukünftige Generationen ist ein ­Mythos. Enkeltauglichkeit hat noch nie den Sprung von den Hochglanzbroschüren der politischen Parteien bis auf den Abstimmungszettel geschafft. Derweil foutieren sich selbst die jungen Stimmberechtigten um die eigene Alters­vorsorge, obwohl sie bei vernünftiger Mobilisierung durchaus das Potenzial hätten, der massiven Umverteilung von Jung zu Alt Einhalt zu gebieten. Allein die Vorstellung von hundert Seiten Kleingedrucktem ohne erkennbare Belohnung… man lebt doch nur einmal – Yolo (You only live once)!

Die Macht verschiebt sich

Demokratie wird hierzulande als Recht, aber nicht als Pflicht betrachtet. Es verhält sich wie beim Selecta-Automat: Er steht überall und rund um die Uhr zur Verfügung; auf Knopfdruck wählt man einen Durstlöscher oder etwas gegen den Heisshunger, und er spuckt das Produkt sofort aus. Unkomplizierte und unverzügliche Belohnung nach individuellem Bedarf. Aber eine vollwertige Mahlzeit stellt man sich dort nicht zusammen, und schon gar nicht den Wocheneinkauf für die ganze Familie. Denselben Umgang pflegen Schweizerinnen und Schweizer mit der Demokratie: Gibt es für ein Thema grad keine persönliche Dringlichkeit, haben sie kein Problem damit, die Wahl anderen zu überlassen und sich der eigenen Verantwortung zu entziehen.

Dies führt einerseits zu einer Machtkonzentration derjenigen, die ihr Mitwirkungsrecht gezielt und zur Bewirtschaftung ihrer eigenen Interessen nutzen. In der Schweiz sind es die 65- bis 75-Jährigen, die am regelmässigsten zur Urne schreiten – sie haben unsere Gegenwart geprägt und bestimmen konsequent über unsere Zukunft. Man darf es ihnen nicht verübeln, es ist ihr gutes Recht. Sie tragen keine Verantwortung für die Verantwortungslosigkeit anderer Altersgruppen. Ob diese Machtasymmetrie dem Geist der direkten Demokratie entspricht, darf hinterfragt werden.

Andererseits birgt diese Verantwortungserosion eine viel grössere Gefahr, nämlich die der Ausbreitung des Staats in den demokratischen Leerräumen. Ob all der verpassten Chancen, vermasselten Zukunftsreformen, historischen Denkzettelresultate und anderer folklorischen Abstimmungen um Minarette und Kuhhörner geht oft vergessen, dass die allermeisten politischen Vorlagen gar nie vors Volk kommen. Bestenfalls ist dies einem geschickten Kuhhandel zwischen politischen Parteien zu verdanken, schlimmstenfalls der Bevormundung des Stimmvolks durch die Regierung. Richtig, unser demokratisches Grundsystem dient nicht vorranging dem Ziel, perfekte Ergebnisse zu liefern, sondern der Regierung die Wahrung unserer Interessen ganz besonders dann aufzuzwingen, wenn wir nicht darüber abstimmen. Die Möglichkeit des letzten Worts durch den Souverän soll jederzeit in der Luft liegen, ganz nach dem Motto: «The public keeps you honest.» Erschlafft das Verantwortungsgefühl des Stimmvolks in bezug auf seine demokratischen Pflichten, erstarkt auf der anderen Seite die Macht des Staatsapparats. Macht geht nie einfach verloren, sie sammelt sich immer dort, wo man ihr Raum überlässt. Der Regierung fiele es sehr einfach, das Volk zu bevormunden, ihm seine Verantwortung zu entziehen und einen Volksentscheid zu verweigern. So geschehen bei der eigenmächtigen Versenkung des institutionellen Abkommens mit der EU und vom Volk stillschweigend hingenommen.

Delegieren ist keine Lösung

Aus diesem Grund sind Überlegungen zur etwaigen Delegierung von Entscheiden an Expertengremien oder zur Erhöhung von Abstimmungshürden nicht zielführend. Im Gegenteil: Die direkte Demokratie darf um keinen Millimeter zurückgedrängt werden. Die Vermeidung von Verantwortung kann nicht mit einer Befreiung von derselben beantwortet werden. Verantwortung für sich selbst und andere kann nur übernehmen, wer darin geschult wird und die Konsequenzen von Verantwortungslosigkeit begreift, wer befähigt wird, sich eine eigene Meinung zu bilden und einen informierten Entscheid zu treffen, wer bestärkt wird, sich für seine Rechte und die der anderen einzusetzen. Wenn Verantwortung fliegen könnte, wäre sie weit verbreitet – aber sie will getragen sein.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!