Demokratie braucht
bockige Bürger
Politiker lieben die Macht. Umso wichtiger sind Gegengewichte,
die sie in Schranken weisen.
Am 15. Dezember 1867 versammelten sich an mehreren Orten im Kanton Zürich Zehntausende von Bürgern und forderten mehr demokratische Mitsprache. Die sogenannte «demokratische Bewegung» verlangte eine neue Verfassung mit Volksinitiative, Referendum und Volkswahl der Regierung, welche in Sachen direkte Demokratie schweiz- und weltweit neue Massstäbe setzte.
In Zürich wie auch in anderen Kantonen und später auf Bundesebene brauchte es den starken und beharrlichen Druck von unten, um diesen Durchbruch zu erzielen. Die herrschenden Liberalen wehrten sich mit Händen und Füssen gegen die demokratische Bewegung, wie der Politologe Andreas Gross in seinem jüngst erschienenen Buch «Landbote vs. NZZ» schreibt. Doch der Unmut über die Dominanz und die Machtmissbräuche des «Systems» um den Industriellen Alfred Escher war zu gross geworden.
Politiker geben nie freiwillig Macht ab – sie streben nach möglichst viel Einfluss bei möglichst wenig Rechenschaftspflicht. Entscheidend sind daher starke Gegengewichte in Form anderer Akteure: Das können Institutionen wie jene der «Checks and Balances» in den USA sein. Oder die Bürger in direktdemokratischen Systemen wie der Schweiz. Diese Gegengewichte sind mühsam und ärgerlich für Politiker. Kein Wunder, versuchen sie, solche Hindernisse wo immer möglich aus dem Weg zu schaffen oder zu umschiffen: Man denke nur daran, wie das Schweizer Parlament Volksinitiativen immer wieder widerwillig und halbbatzig umsetzt. Oder wie in den USA beide Parteien versuchen, den obersten Gerichtshof mit loyalen Getreuen zu besetzen.
Gegen die Versuchung des Machtmissbrauchs hilft nur stete Wachsamkeit. Das gilt für Institutionen, vor allem aber für die letzten Verantwortlichen in der Demokratie: das Volk. Die Geschichte der demokratischen Bewegung im Kanton Zürich zeigt eindrücklich: Demokratie ist nicht gottgegeben. Um zu überleben und sich weiterzuentwickeln, ist sie vor allem auf eines angewiesen: bockige Bürger, welche die Macht in die Schranken weisen.