Demokatie Plus
Vom Umgang mit antidemokratischen Mehrheiten «Die Mehrheit?
Was ist Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,
Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.
Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat?
Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?
Er muss dem Mächtigen, der ihn bezahlt,
Um Brot und Stiefel seine Stimm verkaufen.
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen;
Der Staat muss untergehn, früh oder spät,
Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.»
(Leo Sapieha, in: Friedrich Schiller,
«Demetrius», 1805).
Der Philosoph Karl Popper hatte gute Gründe für eine enge und präzise Demokratie-Definition: Demokratie sei ein Verfahren, um die an der Macht Befindlichen ohne Blutvergiessen abzulösen. Ein solches Verfahren beruht selbstverständlich auf Wahlen. Diese Definition vermeidet theologische Dispute über die «Volksherrschaft» und ob es so etwas tatsächlich geben kann. Sie bewahrt uns ebenfalls vor der Versuchung, den Begriff mit allen möglichen, vielleicht wünschenswerten Zielen zu beladen, wie Gleichheit in sozialer und technischer Hinsicht, einem allgemeinen «Demokratisierungsprozess» oder gar einem Katalog von Tugenden, die für die Mitbestimmung der Bürger unerlässlich sind. Jedoch hilft die Definition nicht weiter, wenn es um eine Frage geht, die in vielen Teilen der Welt aktuell geworden ist: Was passiert, wenn die von der Macht Abgelösten Anhänger der Demokratie waren, die sie Ablösenden aber nicht? Was, mit anderen Worten, wenn die «falschen» Leute gewählt werden?
Es fehlt nicht an Beispielen. In Europa sind in verschiedenen Ländern Parteien mit zweifelhaftem Demokratie-Hintergrund in den letzten Jahren erfolgreich gewesen. Wahlerfolge solcher Gruppierungen erschweren im günstigsten Fall die Bildung vernünftiger Regierungen; im schlimmsten Fall sind sie Vorboten aktiv antidemokratischer Bewegungen, die dazu fähig sind, es bei Wahlen zu Mehrheiten zu bringen. Das ist es auch, was in vielen Teilen der Welt passiert ist und noch passiert. Zwei Beispiele stehen im Vordergrund. Zum einen die post-kommunistischen Länder Ost- und Südosteuropas, von denen erstaunlich viele in neuem Kleid auftretende Mitglieder der alten Nomenklatura gewählt haben. Der krasseste Fall im Augenblick ist Serbien, wo ein bedeutender Teil der Wählerschaft Männern die Stimme gegeben hat, die gegenwärtig in Den Haag vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal stehen. Das andere Beispiel ist der Irak. Wie, wenn der amerikanische Traum, diesem durchgeschüttelten Land Demokratie zu bringen, darin endete, dass seine Bürger eine fundamentalistische Bewegung an die Macht wählen?
Der blosse Gedanke an solche Beispiele führt klar zu dem Schluss, dass es bei Demokratie nicht nur um Wahlen geht. Tatsächlich hatten die frühen Befürworter der Demokratie natürlich alles mögliche im Sinn. John Stuart Mill zum Beispiel betrachtete «Nationalität» – eine zusammenhängende Gesellschaft innerhalb von Landesgrenzen – als eine Vorbedingung. Eine andere war für ihn die Fähigkeit und der Wille der Bürger, wohldurchdachte Entscheidungen zu treffen. Heute betrachten wir solche Qualitäten nicht länger als gegeben. Und selbst zur Zeit, als Mill über parlamentarische Regierungsform schrieb, waren sie es wahrscheinlich auch nur für eine Minderheit.
So muss es denn heute für Demokratie heissen: Wahlen plus. Aber plus was? Es mag da die Zuflucht zu technischen Massnahmen geben, wie das Verbieten von Parteien und Kandidaten, die sich gegen die Demokratie stellen oder deren demokratischer Ausweis schwach ist. Dies hat im Nachkriegsdeutschland funktioniert, unterstützt allerdings von den traumatischen Erinnerungen an die Nazis und der relativen Schwäche der antidemokratischen Bewegungen. Ein gewichtigeres Beispiel könnte die Türkei sein, wo islamistische Bewegungen durch die Gerichte aufgelöst wurden und, als sie in anderer Gestalt wieder auftauchten, strengen Prüfungen standzuhalten hatten.
Doch die Probleme dabei lassen sich leicht ausmachen: Wer bestimmt über die Wählbarkeit der Kandidaten, und wie werden solche Urteile durchgesetzt? Was, wenn der Meinungsdruck für eine antidemokratische Bewegung so stark ist, dass deren Unterdrückung zu Ausschreitungen führt? In gewissem Sinn wäre es besser, es bei solchen Bewegungen auf einen Versuch ankommen zu lassen in der Hoffnung, dass sie scheitern – wie das gegenwärtig den meisten europäischen Gruppen antidemokratischer Ausrichtung passiert ist. Doch ist das zu riskant. Als Hitler 1933 an die Macht kam, dachten viele, wenn nicht alle Deutschen: «Lasst ihn! Bald wird er sich mit dem, was er ist – und vor allem was er nicht ist – blossstellen.» Am Ende jedoch bedeutete «bald» zwölf Jahre und, in deren Verlauf, einen Weltkrieg und den Holocaust.
Davor schützen aktive Bürger, die die liberale Ordnung verteidigen. Aber es gibt einen weiteren, noch wichtigeren Schutz: die Herrschaft des Rechts. Herrschaft des Rechts ist nicht dasselbe wie Demokratie, noch stellt die eine notwendigerweise die andere sicher. Herrschaft des Rechts ist das Einverständnis, dass unter die Gesetze – nicht von einer höchsten Instanz, sondern von der Bürgerschaft erlassene Gesetze – alle fallen: die, welche die Macht ausüben genauso wie die anderen, die in der Opposition oder auch ausserhalb des Machtspiels stehen. Dies ist die stärkste Seite der heutigen Türkei. Die Herrschaft des Rechts ist ebenfalls das Hauptziel des Hohen Vertreters für Bosnien, Paddy Ashdown. Verteidigt jedoch muss auch sie werden; Ermächtigungsgesetze zur Suspendierung der Herrschaft des Rechts sind der Diktatoren erste Waffe. Aber es ist schwieriger, die Rechtsgewalt gegen das Recht zu benutzen, als die Demokratie gegen ihre eigenen Grundsätze.
«Demokratie plus» muss deshalb Demokratie plus die Herrschaft des Rechts heissen. Und – auch auf die Gefahr hin, viele Freunde mit liberalen Anschauungen vor den Kopf zu stossen – gelange ich zum Schluss, dass die Herrschaft des Rechts an erster Stelle kommen muss, wenn eine Ex-Diktatur in einen Verfassungsstaat hinübergeführt wird, und die Demokratie an zweiter Stelle. Unbestechliche, unabhängige Richter sind noch wichtiger als von bedeutenden Mehrheiten gewählte Politiker. Glücklich sind jene, die beides haben, es pflegen und beschützen!
Der Beitrag wurde von Reinhart R. Fischer, Nyon, aus dem Englischen übersetzt.
Lord Ralf Dahrendorf, geboren 1929 in Hamburg, habilitierte sich nach dem Studium der Philosophie und der Klassischen Philologie in Hamburg und der Soziologie in London an der Universität Saarbrücken und lehrte seit 1958 Soziologie in Hamburg, Tübingen, Konstanz, London (als Direktor der London School of Economics) und in Oxford (als Prorektor der Universität), sowie als Gastprofessor in den USA. 1970-74 war er EU-Kommissar in Brüssel. Seit 1993 ist Dahrendorf als Baron of Clare Market in the City of Westminster Mitglied des britischen Oberhauses.