Dem Neuen zum Durchbruch verhelfen
Die «Jungfrau von Orleans» und «Wilhelm Tell» als Innovatoren Sowohl «Tell» als auch «Jeanne d’Arc» sind – entgegen Schillers Intention –
als Idole des Nationalismus missbraucht worden. Man kann beide Figuren aus
heutiger Sicht als Unternehmer im Bereich der politischen Ideen deuten.
«Bei historischen Ereignissen sind die sogenannten grossen Persönlichkeiten nur Etiketten, die dem Ereignis den Namen geben», so resümiert Leo Tolstoi seine Einleitung zum Neunten Teil von «Krieg und Frieden». Friedrich Schiller hätte dem gewiss nicht zugestimmt. In seinem dramatischen Werk agieren Persönlichkeiten, die das Urteil im Weltgericht der Weltgeschichte massgeblich beeinflussen wollen und auch beeinflusst haben. In seinen Theaterstücken konfrontiert er uns mit kraftvollen Charakteren, die, selbst wenn sie an ihren Idealen scheiterten, den Lauf der Geschichte verändert haben: Geschichte als Drama, das von verantwortlich handelnden Persönlichkeiten mitbestimmt wird.
Es ist natürlich ein Anachronismus, in diesem Zusammenhang von «Unternehmertum» zu reden, aber die Analogie zu dem, was der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter «Unternehmertätigkeit» nennt, ist trotzdem nicht aus der Luft gegriffen. In dessen Aufsatz zum Thema «Unternehmerfunktion und Arbeiterinteresse» (abgedruckt in «Aufsätze zur Wirtschaftspolitik», Tübingen 1985, S. 167) wird der Unternehmer als Innovator charakterisiert. «Die Durchsetzung des Neuen in der Volkswirtschaft ist die wahre Unternehmerfunktion.» Johanna, die Jungfrau von Orleans, und der Tyrannenmörder Wilhelm Tell als Unternehmer, die die «Durchsetzung des Neuen» ermöglichten?
Johanna, Leitfigur der Leadership
Johanna ist ein einfaches, mutiges Mädchen aus dem Volk mit einer aussergewöhnlichen Intuition für das Richtige und für den richtigen Moment. Sie hat ausserdem einen ausgeprägten Sinn für das Praktische, unmittelbar Notwendige und den Mut, das, was sie für richtig hält, kompromisslos durchzusetzen. Ihre Gabe, Menschen trotz ihren Schwächen zu inspirieren und zu aussergewöhnlichen Leistungen anzuspornen, verleiht ihr die Kraft, scheinbar Unmögliches möglich zu machen und die Fähigkeit, Menschen in die richtige Richtung zu führen, auch wenn das Ziel noch weit weg liegt und nur in den Grundzügen bekannt ist. Schiller hat seiner Jungfrau von Orleans, anders als Voltaire, echte Glaubensüberzeugungen zugebilligt, die in romantischer Unschärfe mit dem Wunsch nach Freiheit und nationaler Unabhängigkeit verbunden sind. Johanna glaubt an sich selbst, weil sie überzeugt ist, im Dienst einer höheren Macht zu stehen, die sie inspiriert und trägt und die ihr in kritischen Momenten hilft. Darauf beruht ihr Charisma, das allerdings durch Phasen menschlicher Schwäche relativiert wird.
Sie unternimmt selbst etwas, und sie wartet nicht auf die Hilfe von Dritten. Sie führt mit Risikobereitschaft, Spontaneität, Intuition, Inspiration, Überzeugungskraft, Mut, Verantwortungsbewusstsein, Menschenkenntnis und Realitätssinn. Sie verkörpert dank ihrem Ursprung im Volk einen Menschenschlag, der nur überleben konnte, wenn er sich konsequent auf das jeweils Überlebenswichtige konzentrierte und sich nicht in falschen Kompromissen zersplitterte. Johanna ist im Grunde ihres Herzens weder Revolutionärin noch Reaktionärin, sondern eine «Spontanistin», eine echte «Königin der Herzen», die tatsächliche Macht ausstrahlt, weil sie angemasste, verlogene Macht kompromisslos anprangert.
Der langfristige Triumph einer Idee ist oft mit der kurzfristigen Niederlage von Personen verknüpft. Schiller hat auch andernorts, beispielsweise in der «Bürgschaft», christliche Motive säkularisierend umgedeutet, und der Anklang an Opfertod und Auferstehung ist in der «Jungfrau von Orleans» unübersehbar. Ideen überleben den Tod derjenigen, die sie vollendet verkörpert haben. Ein Vorbild soll nicht zur Verehrung und Nachahmung Anlass geben, sondern zu vielen neuen Variationen des situationsbezogenen Engagements. Schiller hat in seiner Johanna eine historische Persönlichkeit romantisch verklärt und im Geist seiner Zeit umgedeutet. Nichts anderes geschieht hier, wenn dieselbe Figur – bewusst anachronistisch – mit der unternehmerischen Eigenschaft verknüpft wird, dem Neuen zum Durchbruch zu verhelfen, und wenn mit dieser Fähigkeit zur Innovation gleich noch eine Parallele zu den Idolen der Popkultur gezogen wird: Jeanne d’Arc als Ikone, als emotionale Trendsetterin des notwendigen Wandels, als Pionierin eines mutigen und kreativen Unternehmertums auf dem Markt der Ideen und im Dienste ihrer Realisierung. Ein weiteres Beispiel für den Missbrauch einer historischen Figur durch aktualisierende Umdeutung?
Tell und Rütlibund
Dissidenz und das Nein-Sagen zur aufgezwungenen Fremdbestimmung sind für die Entwicklung freiheitlicher Individuen und Gemeinschaften zentral. Gemeinschaften sind aber ihrerseits auf Individuen angewiesen, die diesen Trieb zur Eigenständigkeit verkörpern, vorleben, ihm im entscheidenden Moment zum Durchbruch verhelfen und die persönliche Schuld auf sich nehmen, falls solche eingegangen werden muss.
Zu Recht ist daher immer wieder die Geburtsstunde der politischen Freiheit in einer Gemeinschaft mit der Auflehnung gegen Fremdbestimmung gleichgesetzt worden, mit dem Widerstand, der sich entweder in der Vernichtung oder Vertreibung der Unter-drücker oder mit dem Exodus aus der Knechtschaft Bahn bricht. Am eindrücklichsten manifestiert sich diese Ablehnung von Macht als persönlicher Willkür beim Tyrannenmord, bei dem ein Individuum ein anderes Individuum eliminiert, um damit die Lebensbedingungen eines Kollektivs nachhaltig zu verändern.
Tell verkörpert den urwüchsigen Widerstand des einfachen Gebirgsjägers, der ausserhalb der Gemeinschaft lebt und ein autark-anarchisches Leben im kleinsten Familienkreis führt, ohne aber den Kontakt mit der Talbevölkerung abzubrechen. Er ist nicht völlig unabhängig, aber er möchte den Grad seiner Abhängigkeit selbst bestimmen. Mit lauter Tellen jedoch lässt sich kein Gemeinwesen etablieren. Das Nein gegen den Zwang ist für die Freiheit des Einzelnen und der Gemeinschaft entscheidend, aber nicht hinreichend. Dies kommt in Schillers «Wilhelm Tell» – mit seinem engen Bezug zwischen Widerstand, Tyrannenmord und genossenschaftlicher Gemeinschaftsgründung und der Anknüpfung an vorhandene Traditionen – deutlich zum Ausdruck. Die Freiheit, die die Leute auf dem Rütli beschwören, ist nicht etwas Neues, Revolutionäres, Noch-nie-Dagewesenes. Die Eidgenossen wollten «frei sein, wie die Väter waren». Tell ist das Schauspiel, das die Dialektik von Individuum und Gemeinschaft vor Augen führt. Schiller weist auf den engen Zusammenhang zwischen Widerstand und Gemeinschaft hin. Tell erschiesst den Tyrannen Gessler und wird zum Inbegriff des gerechtfertigten Tyrannenmörders. Dies ist aber nur die Hälfte der politischen Befreiung. Wer sich vom Tyrannen befreit, steht nachher vor der Herausforderung, gemeinsame Angelegenheiten gemeinsam lösen zu müssen. Rechte – auch Menschenrechte – müssen nicht nur vor der Bedrohung durch Tyrannen geschützt werden. In der Gemeinschaft kann sich auch eine Tyrannei der Mehrheit etablieren.
Der Widerstand gegen fremdbestimmende Mächte muss mit der Bereitschaft zur Einordnung in eine freie Gemeinschaft verbunden sein. Es muss ein Minimum an politischen Zwangsstrukturen geschaffen werden, die die Ordnung gewährleisten und die gemeinsame Verteidigung dieser Ordnung sicherstellen. Schillers «Tell» ist nicht eine einseitige Huldigung an die individuelle Freiheit, er hat auch eine – wie man heute sagen würde – kommunitaristische Komponente. Die «drei Eidgenossen», Walter Fürst, Werner Stauffacher und Arnold von Melchthal (man beachte die Symbolik der Namenswahl) verkörpern nicht nur die drei Generationen, die sich genossenschaftlich verbinden, sondern auch drei Lebensformen und drei unterschiedliche Typen der Auflehnung gegen Fremdherrschaft. Fürst, der besonnen-traditionsbewusste Grossvater, Stauffacher, der bäuerlich-bürgerliche Mittelständler und Melch-thal, der emotional aufgeladene junge Revolutionär – eine ziemlich heterogene Gründergruppe.
Tell steht für das Konzept der negativen Freiheit; die Eidgenossen auf dem Rütli symbolisieren die Notwendigkeit, sich ein gemeinsames positives Programm zu geben. Auch von Liberalen, die vor den Fallstricken «positiver Freiheit» warnen, wird nicht bestritten, dass die Formulierung eines genossenschaftlichen Konzepts, das zu mehr Freiheit und Wohlfahrt verhilft, eine diskussionswürdige Sache ist. Nur ist es sehr schwierig, darüber einen dauerhaften Konsens zu finden. Wer weiss denn wirklich und mit dem Anspruch auf Universalität, was den mündigen Menschen ausmacht und was zur Mündigkeit führt? Ich meine, dass es darüber einen Wettbewerb geben muss; nicht einen Wettbewerb zwischen Firmen, sondern einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Ordnungsvorstellungen bis hinunter zu den kleinen und kleinsten Gruppierungen. Und auch hier braucht es Unternehmer, die dem Neuen zum Durchbruch verhelfen.